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Graubünden gegen Olympische Winterspiele

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Apr 242013
 
Zuletzt geändert am 28.04.2013 @ 11:08

24.4.2013, aktualisiert 28.4.2013

DOSB optimiert die „ausgezeichnete“ Bewerbung München 2018
Am 18.4.2013 schrieben DOSB-Präsident Bach und DOSB-Generaldirektor Vesper einen Brief (Link hier ab S. 4) an den Münchner OB Ude mit Verbesserungsvorschlägen des “sowohl national als auch vor allem international gelobten” Sportkonzeptes von München 2018. Bei München 2022 würde Schwaiganger mit Biathlon und Langlauf aufgegeben zugunsten Ruhpolding (Biathlon) und dortiger temporärer Langlauf-Anlage; dadurch würde ein drittes Olympisches Dorf benötigt.
Zu der Zahl der olympischen Dörfer stand in einem Papier der Bewerbungsgesellschaft München 2018 explizit: „Daher legt das IOC einen extrem hohen Stellenwert auf das in Vancouver bereits erfolgreich umgesetzte Konzept von maximal zwei Olympischen Dörfern als Hauptunterkunft für die Sportler/innen (Bewerbungsgesellschaft München 2018, 18 Irrtümer über unsere Olympia-Bewerbung – und unsere Antworten darauf, 20.7.2010; Hervorhebung WZ).
Die Freestyle-Wettbewerbe Aerials und Halfpipe würden von Garmisch-Partenkirchen in den Münchner Olympiapark verlagert. Das Olympische Dorf in Garmisch-Partenkirchen würde angeblich um bis zu 40 Prozent verkleinert.
Kommentar eines Lesers in der tz vom 23.4.2013: “Schlimm genug, wenn jeden Tag eine andere Sau durchs Dorf getrieben wird, aber alle paar Wochen dieselbe Sau ist noch schlimmer. Lassts doch den Olympia-Schmarrn endgültig bleiben. Eure Märchen, daß die ganze Stadt und das Land Bayern davon profitiert, glaubt eh kaum noch jemand” (Olympia: Neue Pläne mit Ruhpolding, in tz 23.4.2013).

DOSB-Präsident Bach im Interview 19.1.2010
Bach hatte die Einbeziehung von Ruhpolding noch 2010 als undurchsetzbar beim IOC deklariert.
Sport-Informationsdienst SID: “Gerade hat Ruhpolding wieder seinen ausgezeichneten Ruf als Biathlon-Hochburg unter Beweis gestellt. Warum passen die Chiemgauer dennoch nicht in das Konzept für München 2018?” – Bach: “Weil es dann keine Olympischen Spiele in Deutschland geben würde. Mit einer Flickenteppich-Bewerbung hätten wir keine Chance. In Ruhpolding müsste unter anderem ein zusätzliches olympisches Dorf errichtet werden, ein solches Subzentrum mit kostenintensiven Verkehrswegen ist nicht zu rechtfertigen” (Quelle: n.24.de; Hervorhebung WZ).
MdL und Sprecher des Bündnisses Nolympia Ludwig Hartmann attestierte deshalb den München-2022-Befürwortern „ein gravierendes Glaubwürdigkeitsproblem“ (Nein bleibt Nein, in SZ 25.4.2013). Hartmann lehnte auch das IOC als Gesprächspartner ab, siehe Knebelverträge, Steuerbefreiung etc.: „Das IOC muss froh sein, wenn es noch einen Dummen dafür findet“ (Ebenda).

Olympische Jubler
Und schon hebt der Jubelchor der Olympia-Befürworter wieder an. Bürgermeister Schmid von Garmisch-Partenkirchen und Heinz Mohr vom Verein OlympiJa veröffentlichten am 23.4.2013 eine Erklärung, die sofort auf die DOSB-Webseite gesetzt wurde. Schmid und Mohr vermeldeten stolz ihre Mitarbeit an dem angeblich neuen Konzept, „das wir über Wochen und Monate mit den verantwortlichen Personen und Gremien abgestimmt haben“ (Winterspiele 2022: Erklärung von Garmisch-Partenkirchen und OlympiJa, in dosb.de 23.4.2013).
Diese verantwortlichen Personen und Gremien sind: Bürgermeister Schmid, Ex-Skirennfahrer Christian Neureuther, OlympiJA-Vorsitzender Heinz Mohr, Peter Fischer vom Skiclub Garmisch…
Dagegen weiß der Bürgermeister von Ruhpolding, Claus Pichler, erst seit  22.4.2013 von der Einbindung Ruhpoldings bei München 2022 (Lode, Silke, Chancen für neue Olympia-Bewerbung steigen, in SZ 24.4.2013).
Die intransparente und undemokratische Planungsstruktur von München 2018 setzt sich also bei München 2022 fort.
Pichler wies darauf hin, dass die für die WM 2012 für 16 Millionen Euro ausgebaute Biathlon-Anlage für Olympische Spiele 2022 nicht ausreichen werde. „Möglicherweise muss in der Nähe ein zweites temporäres Stadion errichtet werden… Doch er weist auch darauf hin, dass ‚die strengen Naturschutzrichtlinien‘ rund um die Biathlon-Anlage ein vorsichtiges Planen nötig machten. Und natürlich zuerst auch Gespräche mit Grundbesitzern und Weideberechtigten anstünden. ‚Das schütteln wir nicht aus dem Ärmel'“ (Nein bleibt Nein, in SZ 25.4.2013). Auch die Umweltschützer sollen eingebunden werden: „den stetigen Ausbau des Biathlonzentrums, das in einem ökologisch sensiblen Gebiet liegt, haben sie bislang großzügig mitgetragen“ (Effern, Heiner, Erfahrung ist alles, in SZ 27.4,2013).
Vielleicht sollten die Umweltschützer endlich diese Großzügigkeit und das Mittragen beenden und zu einer kritischen Sichtweise übergehen.
Schmid und Mohr winkten umgehend wieder mit zahllosen Straßenbauprojekten aus der olympischen Wundertüte: mit Kramertunnel, Wanktunnel, Ortsumfahrung Oberau, zweispuriger Bahnlinie München Garmisch-Partenkirchen (Ebenda).
Der Bau des Kramertunnels ist aus geologischen Gründen bislang unsicher. Der Wanktunnel war nie projektiert, sondern ein Wunschgebilde von wenigen. Die Ortsumfahrung Oberau wäre genauso oder leichter ohne Olympische Spiele zu realisieren. Und bei München 2018 wäre die Bahnlinie lediglich auf wenigen Kilometern ertüchtigt worden.
München 2022 setzt auch eine falsche Behauptung von München 2018 fort: „… wir können bei einem Bürgerentscheid damit punkten, dass  der Markt  Garmisch-Partenkirchen über alle wichtigen Flächen entweder selbst verfügt oder sie vertraglich gesichert hat“ (Ebenda).
Das wurde auch schon bei München 2018 – von 2009 bis Juli 2011 – behauptet, ohne dass die Aussage gestimmt hätte. Was werden sich wohl die Garmisch-Partenkirchner Bauern und Grundeigentümer bei dieser Behauptung denken?

Olympische Presse
Auch die journalistischen Olympiafreunde melden sich zurück. Da schrieb Christian Krügel aus der SZ-Lokalredaktion: “So könnten Olympische Winterspiele 2022 in München und Oberbayern wirklich Spaß machen” (Das bessere Konzept, in SZ 24.4.2013). Und Peter Reinbold schwärmte von Kramer- und Auerbergtunnel und hielt die Neuorientierung für „charmant“: „Garmisch-Partenkirchen wird von der Gigantomanie verschont… Der Region tut ein bißchen Aufbruchsstimmung gut“ (Lex Garmisch-Partenkirchen, in Garmisch-Partenkirchner Tagblatt 24.4.2013).

Grundloser Jubel
Es ist kein genaues Konzept bekannt. So ist völlig unklar, wo etwa in München ein Olympisches Dorf platziert würde. Die Zahl der IOC-Disziplinen ist inzwischen noch angestiegen und steigt weiter, genauso wie die Zahl der Athleten, der Journalisten, der “Olympischen Familie”…
Und das IOC ist nach wie vor das IOC. Die Knebelverträge sind nach wie vor Knebelverträge. Die vom IOC geforderte „Defizitgarantie“ garantiert ein Milliarden-Defizit – für die deutschen Steuerzahler. Während das IOC mit den Milliarden der Sponsoren und TV-Sender nach Lausanne zurückkehrt.
Kleine Standortverschiebungen ändern nichts an den generellen Problemen, die Olympische Winterspiele schaffen, z.B. Schneewettbewerbe 2022 mit größtmöglichen Mengen Kunstschnee, White Elephants (nach den Spielen ungenutzte Sportstätten mit Folgekosten) etc. Und der autoritäre Bach-Vesper-DOSB ist nach wie vor der autoritäre Bach-Vesper-DOSB.
Eine Bewerbung München 2022 ist nach wie vor unakzeptabel: Das finanzielle Risiko ist höher denn je, ebenso die ökologischen Schäden. Dazu kommt der verschärfte Klimawandel.
Weitere Veränderung am Sportstättenkonzept lehnte der DOSB autoritär wie eh und je ab: „Allerdings fügen wir in aller Entschiedenheit hinzu, dass es weitere Veränderungen am Sportstättenkonzept im Fall einer neuerlichen Bewerbung aus unserer Sicht keinesfalls geben kann“ (Brief Bach, Vesper 18.4.2013).

NOlympia ist auf dem Laufenden
Hellsichtig hat sich laufend ein kleiner Kreis vom Netzwerk NOlympia getroffen, zuletzt am 19.4.2013, um über mögliche Konsequenzen aus den Bewerbungsandrohungen München 2022 von OB Ude zu diskutieren. Die Webseite NOlympia ist auf dem aktuellen Stand. Und sie hat inzwischen insgesamt über 510.000 Besucher.
Wir sind vorbereitet.

top-alt: auto; mso-margin-bottom-alt: auto; margin-left: 36.0pt; text-indent: -18.0pt; tab-stops: 29.0pt list 36.0pt;">Exkurs: Sport-Wintergeschehen 2012/2013:
Auch der Winter 2012/2013 begann mit einem spannenden Witterungsgeschehen. Am Königssee wurde die Bobbahn zur Wasserrutsche. Beim Biathlon-Weltcup in Oberhof standen die 84.000 Zuschauer im Regen. Beim Skispringen in Bischofshofen gaben die Sportler Interviews unterm Regenschirm. Die Nordischen Kombinierer hatten in Schonach Tauwetter und Nieselregen. “Am Neujahrstag war eine rennfertige Piste beim Weltcup im Parallel-Slalom in München nur mit einem Kraftakt möglich gewesen. Beim Biathlon in Oberhof brauchte es 20.000 Kubikmeter Kunstschnee, insgesamt 246 LkW-Ladungen. Das Finale der Vierschanzentournee in Bischofshofen rettete nur die Technik. ‘Wenn die österreichischen Veranstalter keine Anlaufspurkühlung gehabt hätten, wäre die Tournee den Bach runtergegangen», sagte Bundestrainer Werner Schuster’” (Wintersport ohne Winter, in Augsburger Allgemeine 7.1.2013).

·
    Beim Biathlon-Weltcup in Ruhpolding bestand der Internationale Biathlonverband IBU auf der Durchführung von vier Nachtrennen, um einen Sendeplatz im attraktiveren Fernseh-Vorabendprogramm zu bekommen. Dadurch entstanden dem Veranstalter allein 250.000 Euro Kosten für die Installation von zusätzlichen Lampen plus enorm hohe Stromkosten. Der Präsident des Organisationskomitees und Bürgermeister von Ruhpolding, Claus Pichler, räumte ein, dass man kein wirkliches Mitspracherecht habe (Biathlon-Nachtrennen stehen in der Kritik, in zeitonline 9.1.2013).

Wie demokratisch sind eigentlich Bürgerentscheide?
Die Frage mag zunächst seltsam klingen: Ist doch die Partizipation der Bevölkerung bei politischen Entscheidungen wünschenswert. Aber ein kurzer Blick auf zwei olympische Bewerbungen betreffenden Bürgerentscheide relativieren dies.
I – Bürgerentscheid am 8.5.2011 in Garmisch-Partenkirchen über München 2018Aus der Chronologie Mai 2011:
Im Vorfeld heizten die Olympia-Fans die Stimmung in Garmisch-Partenkirchen auf. Besonders die Initiative “Zwei Tunnel für Garmisch-Partenkirchen” hängte drei Wochen lang an der Bundesstraße 23 mit Genehmigung der Gemeinde Schilder mit Texten wie “Bund Naturschutz fordert: Weiterhin Gefährdung unserer Kinder” auf. Diese Plakate waren rechtlich nicht zulässig und mussten abgehängt werden. Axel Doering vom
BN erwog weitere juristische Schritte dagegen (Tokarski, Janine, BN droht Tunnel-Initiative mit juristischen Schritten, in merkur-online.de 10.5.2011).
Horst Seehofer traf – sicher ganz zufällig! – am 6.5. in Garmisch-Partenkirchen ein, um die “Skipisten 2011″ zu eröffnen, heimische Sportler zu ehren und einen flammenden Appell für München 2018 loszulassen, siehe oben (Seehofer hofft auf positives Olympia-Signal, in Garmisch-Partenkirchner Tagblatt 7.5.2011).
Die Materialschlacht des Pro-Olympia-Vereins OlympiJA mit Anzeigen, Plakaten, Postwurfsendungen, T-Shirts, Papp-Herzen vor allen Garmisch-Partenkirchner Häusern noch am 8.5. – entgegen der gemeinsamen Absprache, am Wahltag selbst nicht mehr zu werben -,  war nicht billig: Wer hat das eigentlich alles bezahlt? Dagegen war die Anzeige von etwa 300 Murnauer Bürgern zugunsten der Olympia-Gegner am 5.5.2011 im Garmisch-Partenkirchner Tagblatt eine honorige Angelegenheit.
Angesichts dieser Materialschlacht war das Ergebnis der olympischen Fangemeinde mit 58 Prozent nicht eben überwältigend. Für den Bürgerentscheid “Keine Olympischen Spiele! Gegen den Ausverkauf der Heimat!”, der die Verträge überprüft sehen wollte, gab es 49,51 Prozent. Die Stichfrage lag bei 54 Prozent Pro und 46 Prozent Contra.”
II – Volksentscheid im Schweizer Kanton Graubünden am 3. März 2013 über Graubünden 2022:
Der Schweizer Bundespräsident (und Sportminister) Ueli Maurer besuchte vor der Abstimmung elf Mal den Kanton. Die Befürworter organisierten rund 120 Veranstaltungen, die Gegner zwei. Das Budget der Befürworter lag bei 5,6 Millionen Schweizer Franken (plus die komplette Unterstützung des Bundes, des Kantons und der involvierten Gemeinden); das Budget der Bewerbungsgegner lag bei rund 80.000 Schweizer Franken. Die Befürworter konnten sich teure Plakatierung und Inserate leisten – im Gegensatz zu den Gegnern. Der Ringier Verlag mit der größten Schweizer Zeitung Blick leistete Unterstützungsarbeit. Die Abstimmung ging dann nur knapp mit rund 53 Prozent zugunsten der Gegner von Graubünden 2022 aus.
Und III – möglicher Bürgerentscheid über München 2022:
Was ist erfahrungsgemäß zu erwarten? Bund, Land Bayern und Landeshauptstadt München sowie die beteiligten Gemeinden werden jede Menge Geld und Manpower zugunsten der Bewerbung investieren; die Gegner werden wie gehabt über äußerst geringe finanzielle Mittel verfügen. Dazu werden alle führenden politischen Vertreter für München 2022 auftreten. Die öffentlich-rechtlichen Sender werden fast ausschließlich Pro berichten. Auch die großen Printmedien we die Süddeutsche Zeitung werden wie gewohnt überwiegend Pro berichten. Den Gegnern würde kaum eine Möglichkeit der Öffentlichkeitsarbeit eingeräumt.
Zur Ausgangsfrage zurück: Bürgerentscheide wären demokratisch, wenn die Ausgangsbedingungen für Befürworter und Gegner gleich wären. Das sind sie aber im Fall olympischer Bewerbungen nicht.

 

Apr 152013
 
Zuletzt geändert am 03.03.2016 @ 19:55

25.8.2013, aktualisiert 3.3.2016
Wolfgang Zängl

1: Zur Vorgeschichte
1.1 Doping in Westdeutschland, 1.2 Die Rolle des Bundesinstituts für Sportwissenschaft, 1.3 Sportärzte-Geschichtsklitterung 1.4 Zur Rolle der Nada 1.5 Doping in Freiburg 1.6 Freiburger Universität mauert bis heute
II: Die Sportärzte-Galerie: Eine Auswahl
Kurzbiographien der Sportärzte Torsten Albers, Saarbrücken; Manfred Donike, Köln; Andreas Franke, Erfurt; Lothar Heinrich, Freiburg; Wildor Hollmann, Köln; Georg Huber, Freiburg; Joseph Keul, Freiburg; Wilfried Kindermann, Freiburg; Armin Klümper, Freiburg; Joseph Nöcker, Leverkusen; Andreas Schmid, Freiburg; Bernd Wolfarth, Freiburg, München, Thüringen.
3 Fazit

Die Liste der erwähnten Ärzte könnte beliebig und mit Quellen verlängert werden – z.B. mit Heinz Liesen, Hartmut Riedel, Alois Mader etc.

—————————

1 Zur Vorgeschichte

1.1 Doping in Westdeutschland
Die bundesdeutsche Sportszenerie deutete ab den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts eifrig auf das „Staatsdoping“ der damaligen DDR. Dabei wurden gleichzeitig auch in der Bundesrepublik die Weichen in Richtung Doping gestellt: von Sportfunktionären, Sportärzten und Sportpolitikern – ebenfalls mit staatlicher Unterstützung. Spätestens zu den Olympischen Sommerspielen 1972 wurden Erfolge gefordert.

„Die schrittweise Abkehr von der Idee des autonomen, ehrenamtlich geführten Sports’, sieht der Münsteraner Sporthistoriker Professor Michael Krüger in der Bundesrepublik der Siebzigerjahre. ‚Der Leistungssport ist faktisch zu einem Staatssport geworden.’ Der Hintergrund dafür ist, dass die Bundesrepublik den sportlichen Wettkampf mit der DDR nicht kampflos verlieren wollte. Gerade nicht bei den Olympischen Spielen 1972 in München, die der Welt ein offenes, kreatives und leistungsstarkes Bild von der Bundesrepublik vermitteln sollten“ (Teuffel 26.9.2013). Krüger zufolge wollte sich „36 Jahre nach den Spielen von Berlin 1936 die Bundesrepublik Deutschland und ihr Sport als besonders modern, fortschrittlich, kreativ und innovativ präsentieren… In der Vorbereitung, Durchführung und Folge der Olympischen Spiele von München 1972 wurden die Strukturen geschaffen, in denen sich der westdeutsche Sport zumindest bis 1990, im Prinzip aber bis heute bewegt, einschließlich des Dopings“ (Spitzer 22.9.2011, S. 1f).
Dieser Aspekt wird bei den anhaltenden München-1972-Jublern üblicherweise nicht genannt.

Bereits 1976 konstatierte der Spiegel: „Ohne Anabolika, deren mögliche Spätwirkungen noch nicht endgültig abzusehen sind, gibt es kaum noch Weltrekorde im Gewichtheben, Kugelstoßen oder Diskuswerfen“ (Spiegel 32/1976). Die Professoren Joseph Keul und Armin Klümper in Freiburg und Wildor Hollmann in Köln erweiterten seit den sechziger Jahren den Kenntnisstand und berieten Sportler. Joseph Keul, B. Deus und Wilfried Kindermann schrieben 1976 in der Fachzeitschrift Medizinische Klinik, es „lassen sich den Anabolika keine allgemeinschädigende Wirkung zuordnen“; bestimmte Steroide hätten eine angeblich unschädliche Wirkungsweise (nzz.ch 12.10.2006).

Sportliche Erfolge waren bald in bestimmten Disziplinen nicht mehr ohne Doping zu haben. „Die Dopingproblematik wurde so von einem Problem, das die Sportförderung des Staates ursprünglich massiv in Frage stellte, zu einem Legitimationsinstrument für die Einforderung weiterer Mittel zur Leistungssteigerung der eigenen Athleten“ (A.a.O., S. 7). Willi Daume, von 1950 bis 1970 Präsident des DOSB-Vorläufers DSB (Deutscher Sportbund) und von 1961 bis 1992 auch Präsident des NOK, wusste Bescheid: Er war vom Freiburger Joseph Keul über den Stand der Dinge informiert worden. Im
Januar 1977, ein halbes Jahr nach den Olympischen Sommerspielen in Montreal, schrieb Keul in einem Brief an Willi Daume: „Ist Ihnen bekannt, dass unsere Sprinterinnen, die so erfolgreich im letzten Jahr waren, über mehrere Perioden anabole Hormone eingenommen haben?“ (Hausding, Drepper 6.11.2012). Umso zynischerer war Daumes Statement ein Jahr früher: „Von chemischen und biologischen Manipulationen im Grenzbereich zum Inhumanen geht mehr Gefahr für die Olympischen Spiele aus als von den Querelen der Politik“ (Spiegel 32/1976).

Die bundesdeutsche Politik hielt sich offiziell vornehm aus der Dopingproblematik heraus. Im November 1991 richtete eine Gruppe von Abgeordneten eine Kleine Anfrage zum Thema „Beteiligung und Finanzierung des Bundes an Forschungsprojekten, in denen Testosteron-Versuche mit Sportlern vorgenommen wurden“. Die Antwort der Bundesregierung vom 11.12.1991 berief sich (wie heute) auf die angebliche „Autonomie des Sports“: „Weil der Sport im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik Deutschland von staatlicher Reglementierung frei zu bleiben und seine Aufgaben in Selbstverwaltung zu erfüllen hat, kam und kommt für die Bundesregierung ein staatliches Anti-Doping-Recht nicht in Betracht; die Bundesregierung setzt vielmehr auf die Selbstregelungskraft des deutschen Sports.“ Es handle sich lediglich um „Maßnahmen zur Effektuierung der Regeneration“, um Verletzungen vorzubeugen; zum Thema  Testosteron bestehe „ein erhebliches Forschungsdefizit“, mit physiologischen Testosterongaben solle eine schnellere Wiederherstellung eines normalen Gesundheitszustandes erreicht werden, und schließlich hätte die Ethikkommission der Universität Freiburg keine ethischen Bedenken gegen die Testosteronversuche von Keul erhoben (Antwort der Bundesregierung, Drucksache 111506, 11.12.1991, S. 2ff). Die AG „Hochleistungssport“ bestimmte am 7.2.1985, dass das Bundesinstitut für Sportwissenschaft (BISp) einen Forschungsauftrag mit dem euphemistischen Titel „Regeneration im Hochleistungssport“ vergab. Keul war Leiter des Gemeinschaftsprojektes, die üblichen Verdächtigen arbeiteten mit:
„Die Studie bestand aus drei zeitlich aufeinander folgende Teilstudien in den Jahren 1986 (Teilstudie I), 1987/1988 (Teilstudie II) und 1989/1990 (Teilstudie III *). Die Teilstudie I wurde von Prof. Keul (Freiburg) und von Prof. Kindermann (Saarbrücken) durchgeführt; die Teilstudie II von Prof. Kindermann und Prof. Liesen (Paderborn) sowie die Teilstudie III * von allen drei beteiligten Forschungsnehmern, Prof. Donike (Köln) hat im Rahmen des Projektes lediglich alle anfallenden Urinproben analysiert.
Als Probanden wurden hochausdauertrainierte, männliche Athleten aus dem Mittel- und Langstreckenlauf, Triathlon, Rudern, Radsport und Skisport – darunter kein A-Kader-Angehöriger und lediglich 19 B- und C-Kader-Athleten – mit einem mittleren Alter von 22 Jahren untersucht.
Die Versuchspersonen erhielten Testosteron intramuskulär oder oral in medizinisch-klinisch gebräuchlicher Dosierung. Testosteron wurde deshalb verwendet, weil es als physiologische Substanz beim gesunden erwachsenen Mann in der eingesetzten Dosierung nebenwirkungsfrei ist“ (Ebenda, S. 3f).
Bemerkenswert in der  Antwort ist auch der Satz: „Sportmedizinische Forschung muss sich in dem durch ärztliche und sportliche Ethikgrundsätze gebildeten Rahmen an den drängenden Problemen orientieren und unter diesem Aspekt frei sein“ (A.a.O., S. 10; Hervorhebung WZ).

Nach den Olympischen Sommerspielen in München 1972 kamen auch bei den Olympischen Sommerspielen 1976 in Montreal in der westdeutschen Mannschaft Dopingmittel zum Einsatz. Nachdem der Ruder-Weltmeister Peter-Michael Kolbe in Montreal vor dem Ziel führend eingebrochen und nur Zweiter geworden war, beschwerte er sich über die Spritze, die er vor dem Rennen erhalten hatte: Berolase und Thioctacid. „Nach Kolbes Beschwerde stellte sich heraus, dass die westdeutschen Mediziner mindestens 1200 solcher Spritzen in Montreal gesetzt hatten” (Hacke, Ludwig 26.9.2011). – „In der Bundesrepublik Deutschland hat Mader das Medikament in die nichtöffentliche bundesdeutsche Diskussion eingeführt“ (Strang, Spitzer 2011, S. 6).
Anno Hecker stellte in der FAZ fest: „Der organisierte Sport hat sich häufig mit Hinweis auf die dünne Aktenlage vor Konsequenzen drücken können. Das ist nicht verwunderlich. Denn bis heute sitzen ‘Kinder’ der Anabolika-Generation in Sportverbänden” (Hecker 26.9.2011).

Bis heute wird vom DOSB der Besitz „geringer Mengen“ an Dopingmittel vehement verteidigt. So hat sich bei der DOSB-Mitgliederversammlung am 8.12.2012 der DOSB-Dopingspezialist Matthias Jahn wieder vehement dafür eingesetzt, dass der Besitz von „geringen Mengen an Dopingmitteln” gerechtfertigt ist und straffrei bleibt. Jahn „gehörte bis 2005 der Rechtskommission des Sports gegen Doping an… Jahn hat sich vielfach zur Frage geäußert, welche gesetzlichen Regelungen es für eine effektive Dopingbekämpfung braucht – oder besser gesagt: nicht braucht. Der Strafrechtler darf nämlich als einer der Anreger der halbgaren Lösung von 2007 gelten. Vor dem Sportausschuss positionierte er sich damals klar gegen einen Strafbestand Sportbetrug. Als einer der ersten sprach er sich dafür aus, nur den Besitz ‚nicht geringer Mengen’ von Dopingmitteln unter Strafe zu stellen“ (Ebenda; Hervorhebung WZ).

Thomas Kistner schrieb zum aktuellen Stand des Themas DOSB und Doping: „Der Deutsche Olympische Sportbund gilt nicht gerade als Speerspitze der Dopingbekämpfung… Zwar verweisen die Funktionäre stolz auf einen Anhang am deutschen Arzneimittelgesetz, Betrugsexperten verstehen diesen jedoch eher als verdeckte Anleitung zum Dopen: Hierzulande kriegen Pharmabetrüger nur dann Ärger mit der Justiz, wenn sie eine erhebliche Menge verbotener Stoffe aufweisen. Die Menge ist so hoch angesetzt, dass ein Athlet, der sie im Körper hätte, mausetot wäre” (Kistner 11.10.2012). Und anlässlich des Dopingfalls Stefan Schumacher, eines Radrennfahrers, schrieb Kistner: „Ein Netzwerk universitärer Kräfte ist zugange, dorthin weist auch der Fall Schumacher. Heißt also auch: Hier droht eine speziell deutsche Gefahr. Ein Dominoeffekt nämlich, falls wirklich mal eine sportärztliche Größe ins Wanken käme“ (Kistner 13.4.2013).

1.2 Die Rolle des Bundesinstitut für Sportwissenschaft (BISp)
Mit Forschungsgeldern vom BISp untersuchten die Sportmediziner wie der Freiburger Joseph Keul und der Kölner Wildor Hollmann zwischen 1972 und 1989 „die Wirkungen und Nebenwirkungen von anabolen Steroiden sowie von Testosteron” im Hinblick auf ihre Anwendungsmöglichkeit. „Olympiaarzt Joseph Keul aus Freiburg und sein Kölner Kollege Wildor Hollmann führten das große Wort in der westdeutschen Sportmedizin, indem sie behaupteten – und in aufwendigen Studien vorgeblich zu beweisen versuchten –, dass die Anwendung von Anabolika und Testosteron wirkungslos seien. Ihre Argumentation zielte darauf ab, die Substanzen von den Dopinglisten streichen zu lassen. ‚Die Anabolika-Befürworter hatten keine Mehrheit’, sagte Eggers. ‚Sie waren eine kleine Clique, deren Macht in der Gunst des Innenministeriums, des BISp und der Funktionäre lag.’ Welche Macht sie hatten, zeigt der Umgang mit dem Dopingkontrolllabor der Spiele 1972. Das Gerichtsmedizinische Institut der Olympiastadt bot sich an, die Einrichtung weiter zu führen. „Keul und Hollmann haben das Innenministerium mit Briefen bombardiert“, stellte Christian Becker aus Münster fest – und indem der Biochemiker Manfred Donike an der Sporthochschule Köln den Zuschlag erhielt, blieb der Umgang mit den Proben in der Familie. Donike war ehemaliger Radrennfahrer“ (Reinsch 27.9.2011).

Das BISp finanzierte nicht nur die Dopingforschung in der Bundesrepublik, sie unterdrückte auch kritische Veröffentlichungen: „Die Untersuchung des Mediziners Gerd Reinhard von 1977 wurde unterschlagen, weil sie Gefahren von Anabolika-Doping belegte, bis hin zum Krebsrisiko. Der Kölner Sportmediziner Wildor Hollmann, erster Gutachter der Arbeit, ignorierte sie; das BISp, das sie finanzierte, hat sie bis heute nicht publiziert“ (Reinsch 27.9.2011)

„Im Fall des BISp lautet das Fazit der Wissenschafter sogar ganz explizit: Der Auftraggeber ist Teil des Problems. Die Spitzer-Gruppe belegt, dass maßgebliche Sportmediziner des Westens – wie der Freiburger Joseph Keul oder der Kölner Wildor Hollmann – im Untersuchungszeitraum zwischen 1972 bis 1989 mit Fördergeldern des BISp die Wirkungen und Nebenwirkungen von anabolen Steroiden sowie von Testosteron erforscht haben – und zwar „anwendungsorientiert“. Spitzer spricht in diesem Zusammenhang von „staatlich subventionierter Dopingforschung“, deren Ziel es gewesen sei, die Anabolika-Abgabe an Sportler zu begründen. (Herrmann 27.9.2011). Sporthistoriker Michael Krüger äußerte: „Der Staat wurde zum maßgeblichen Akteur im Sportgeschehen” (Herrmann 1.10.2011). Das BISp war ein „lukratives Finanzierungsinstrument” für Keul, Klümper, Hollmann und andere (Hacke, Ludwig 26.9.2011).

Gleichzeitig geriet München 1972 ins Visier: Der damalige Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher war von 1969 bis 1974 Bundesminister des Innern und damit für den Sport zuständig. Er forderte vom Kölner Sportmediziner Wildor Hollmann 1971: „Von Ihnen als Sportmediziner will ich nur eines: Medaillen für München” (Reinsch 26.9.2011). Offiziell wollte man eine Chancengleichheit mit dem dopenden Ostblock erreichen (Herrmann 27.9.2011; Hecker 26.9.2011). Die „Leistungserwartungen stiegen, der „kalte Krieg auf der Aschenbahn“ begann (Meier u. a., 30.5.2012, S. 7). Für  die Jahre bis 1977 stellte Erik Eggers fest: „Das Ziel des BISp bestand ganz offensichtlich darin, die Anwendung der Anabolika im Leistungssport wissenschaftlich zu begründen“ (Strang, Spitzer 2011, S.  3). Strang und Spitzer stellten in Zusammenhang mit der Anabolika-Forschung fest: „Das BISp konnte rückblickend als ‚willfähriges Instrument für die Drittmittelerschließung‘ bewertet werden“ (Strang, Spitzer 2011, S. 5).
Strang und Spitzer zogen das Resumée: „Das BISp  koordinierte, im Einzelfall nachweisbar mit Kenntnis der Kontrollinstanz BMI, Forschungen mit Anabolika, Testosteron und anderen für Dopingzwecke geeignete Substanzen“ (A.a.O., S. 17).

Im Jahr 2008 vergaben DOSB und BISp den Auftrag, die westdeutsche Dopinghistorie zwischen 1972 und 1989 zu untersuchen („Doping in Deutschland…“). Unter Leitung der Berliner Historiker Hanno Strang und Giselher Spitzer untersuchte eine Forschungsgruppe der Berliner Humboldt-Universität zusammen mit einer zweiten Forschungsgruppe aus Münster unter Leitung von Michael Krüger und Henk Erik Meier (Krüger 22.9.2011) das Funktionieren der „staatlich finanzierten Dopingforschung in der Bundesrepublik“ (Strang, Spitzer September 2011; Reinsch 27.9.2011). Zur Terminierung stand im Antrag: „Der Abschlussbericht ist mit Ende der Projektlaufzeit vorzulegen“ (BISp S. 3): Das wäre im November 2011 gewesen.

Der Zwischenbericht mit 700 Seiten wurde von Spitzer und Krüger im August 2011 abgegeben; sie kündigten eine Veröffentlichung für Dezember 2011 an (Teuffel 26.9.2011; Herrmann 27.9.2011). Als es um die Veröffentlichung ging, kam die heftigste Kritik von den 13 Vertretern des deutschen Sports im Projektbeirat: „Diese haben sich vorbehalten,  die Berichte der Forschungsgruppe aus Berlin und Münster zu kürzen, womöglich zu redigieren und Namen zu schwärzen“ (Reinsch 27.9.2011). BISp und DOSB verhinderten bis jetzt – im April 2013 -, dass die Studie veröffentlicht wurde.
„Mal heißt es, es müsse noch an der Lesbarkeit der Forschungsergebnisse gefeilt werden, mal argumentieren DOSB und BISp im Namen des Datenschutzes. Die Historiker nennen in ihrem 700-Seiter belastete westdeutsche Verbandsärzte, Bundestrainer und Sportfunktionäre beim Namen. „Sie sagen, wenn man das nicht täte, hätten sie zwei Jahre lang umsonst geforscht, weil sich die historischen Zusammenhänge ohne Namen eben nicht erschließen würden. Genau das wollen die Auftraggeber aber hinter den Kulissen offenbar erreichen. ‚Die wollen am liebsten alle Namen und Sportarten anonymisiert haben’, heißt es. Das hat wohl auch damit zu tun, dass so mancher dieser Namen noch aktiv ist“ (Herrmann 27.9.2011).
Bereits im Oktober 2011 äußerte der Heidelberger Dopingexperte Prof. Werner Franke „die Befürchtung, die Endfassung könnte vom Auftraggeber, dem Bundesinstitut für Sportwissenschaft, vor der Veröffentlichung noch einmal ‚überarbeitet’  werden“ (focus.de 5.10.2011). Anfang 2013 „zeigte sich Jürgen Fischer, Direktor des Bundesinstituts für Sportwissenschaften (BISp) zuversichtlich, dass nun doch wie geplant ein Abschlussbericht bis zum 31. März 2013 erstellt werden könne“ (handelsblatt.com 16.1.2013). Es wird interessant, wann eine Fassung veröffentlicht wird und wieweit diese dann tatsächlich vom BISp „überarbeitet“ wurde.

1.3 Sportärzte-Geschichtsklitterung
Sportärzte 1976

„Dass der bundesdeutsche Sport in Montreal trotz einem fast selbstverständlich gewordenen Anabolikadoping und trotz zusätzlichen Manipulationsversuchen offenbar im Begriff war, die internationale Konkurrenzfähigkeit zu verlieren, rief die Sportärzte, die in Montreal als Manipulatoren in die Kritik geraten waren, nun umso energischer auf den Plan. Sie hätten, wie der Freiburger Traumatologe Armin Klümper als Arzt des Bundes Deutscher Radfahrer befand, bisher ‚nur im zweiten Glied’ gestanden und müssten künftig stärker in die Betreuung von Olympiaathleten einbezogen werden. Leistungssteigernde Mittel waren den Medizinern offenbar der Passepartout für die Aufwertung ihres Berufsstandes. Bei einem Sportärztekongress in Freiburg beschlossen sie deshalb entgegen dem IOK-Verbot bei Leichtathleten oder Ruderern ihre Freigabe, ausdrücklich auch die der anabolen Steroide.
In einem Communiqué der Verbandsärzte stand: ‚Den Sportlern sollen Wirkstoffe (Medikamente) nicht vorenthalten werden, die zur Leistungsoptimierung dienen können, vorausgesetzt, dass die endgültigen Dopingbestimmungen des Deutschen Sportbundes eingehalten werden und den Sportlern durch diese Maßnahme nicht geschadet wird.’
Auch der parallel in Freiburg tagende wissenschaftliche Arbeitskreis des Deutschen Sportärztebundes kam zu diesem Schluss, der in seiner Unverfrorenheit weltweit seinesgleichen sucht. Diese westdeutsche Anabolikafreigabe durch Ärzte, die für kurze Zeit nur offiziell wirksam war, jährt sich in diesen Tagen zum 30. Mal. An ethischen Rechtfertigungsmustern für ihre Entscheidung fehlte es den Sportmedizinern nicht“ (nzz.ch 12.10.2006).

Sportärzte 2012
Anfang Oktober 2012 feierte der deutsche Sportärztebund sein hundertjähriges Bestehen in Berlin mit dem Kongress “100 Jahre Sportmedizin”. Erik Eggers zeichnete in der FAZ auf, was die Festschrift der „Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention” alles nicht erwähnt:
– Die wichtige Rolle des Sportmediziners Georg Friedrich Nicolai (1874 – 1964) wird übersehen: Historiker Ralf Schäfer betonte, dass Nicolai für gesundheitsfördernden Breitensport eintrat und den Wettkampf- und Hochleistungssport einschließlich der Olympischen Spiele kritisierte. „Der jüdische Sportmediziner, als Landesverräter beschimpft, emigrierte 1922 als ‘deutscher Dreyfus’ nach Südamerika” (Eggers 2.10.2012).
– Erwähnt wurde Arthur Mallwitz (1880 – 1968); nicht erwähnt wurden seine rassehygienischen Vorstellungen.
– “Andere peinliche Details verschwiegen die Sportmediziner nach 1945 ebenfalls. Etwa die tragende Rolle, die führende Professoren wie Frowalt Heiss, Olympiaarzt 1928, 1936 und 1952, in der NS-Sportmedizin spielten. Heiss, erster Präsident des Sportärztebundes nach 1945, wird in der Festschrift als „Pionier“ gerühmt; dass er als Assistent des SS-Arztes Karl Gebhardt zumindest Kenntnisse über die Menschenversuche in Hohenlychen haben musste, davon liest man in der Festschrift nichts. Dass Hans Hoske (1900-1970), ein führender Sozialhygieniker und Sportärztebund-Vorstand nach dem Krieg, schon 1934 Sterilisierungen für ‚untaugliche’ Menschen in Betracht gezogen hatte, ebenso wenig” (Ebenda).
Verschwiegen wird auch das Wirken des Freiburgers Armin Klümper, der die Sportmedizin in den 1970er und 80er Jahren in Verruf brachte: Seine Patientin Birgit Dressel, eine Leichtathletin, starb 1987, siehe unten. Es fehlen auch die Freiburger Ärzte Lothar Heinrich und Georg Huber, die 2007 für den Doping-Skandal an der Freiburger Universität sorgten (Eggers 2.10.2012; siehe auch unter Sportärzte).

Die Aufarbeitung der NS-Zeit und kritischer Ereignisse der jüngeren Vergangenheit scheint nicht nur bei den Sportfunktionären, sondern auch bei den Sportmedizinern verdrängt zu werden.

1.4 Wer ist in der Nada
Wer sitzt in der Nationalen Anti-Doping-Agentur (Nada)? Vertreter der Wirtschaft, des Bundesinnenministeriums, Sportfunktionäre, Sportpolitiker, Sportärzte – und zum Beispiel der frühere Turner und langjährige DOSB-Vize Eberhard Gienger: „Im vergangenen Jahr gab Gienger – vor seiner Wahl zum Vizepräsidenten Leistungssport im Deutschen Olympischen Sportbund – zu, dass er 1974 das heute auf der Dopingliste stehende Anabolikum Fortabol eingenommen hatte. Der heute 56-Jährige rechtfertigte sich: ‚Anabolika waren damals im Wettkampf verboten, aber im Training überhaupt nicht. Nach einer Operation kam man im Grunde gar nicht ohne diese aufbauenden Substanzen aus.’ Der Freiburger Sportmediziner Heinz Birnesser stellte dagegen fest, es habe nie eine medizinische Rechtfertigung für den Einsatz von Anabolika im Hochleistungssport gegeben. Daraufhin behauptete Gienger plötzlich, nur das freiverkäufliche Vitaminpräparat Anabol-Loges eingenommen und mit einem Anabolikum verwechselt zu haben. Der Ex-Turner sitzt als DOSB-Vize nun als wichtigster Funktionär für den Leistungssport im Nada-Kuratorium“ (Fischer 5.7.2007).
Nach dem Erfurter Blutdopingskandal sagte David Howman, der Chef der World Anti-Doping Agency (Wada), nicht von ungefähr: „Ich hätte gern eine deutsche Nada, die so stark ist wie andere starke Nadas. Die Wada wird gern mit daran arbeiten, dass die Nada auf dieses Niveau kommt” (Hartmann 4.6.2012).

1.5 Doping in Freiburg
„Die Freiburger Sportmedizin hatte von Anfang an den Auftrag, die Medaillenchancen deutscher Spitzenathleten zu verbessern – mit ‚leistungssteigernden Mitteln’, denen ärztliche Koryphäen Unbedenklichkeit bescheinigten. So wie der Olympiaarzt Professor Joseph Keul, ein Säulenheiliger bis heute“ (Siebold 17.6.2009). Keul war laut Untersuchungsbericht von Hans Joachim Schäfer zum Freiburger Telekom-Doping-Skandal „stets zur Stelle“, um „den Einsatz sowie die Wirkungen und Nebenwirkungen von Dopingmitteln zu bestreiten oder zu verharmlosen“ (Ebenda). „Kurz bevor ihr umstrittener Chef Joseph Keul im Jahr 2000 starb, hatte die Freiburger Sportmedizin 5100 Sportler unter Betreuung, bis zu 80 Prozent aller westdeutschen Kaderathleten und Sportstars, Fußballer, Leichtathleten, Wintersportler, Radrennfahrer, Tennisspieler, Ruderer“ (Ebenda).
In Freiburg wurden auch spanische Sportärzte ausgebildet, die später für Dopungschlagzeilen sorgten: Eduardo Escobar, Inaki Arratibel, Jose Aramendi… „Und angestellt wurden die über unseren Chef Prof. Keul“ (Prof. Alois Berg, in Krause 18.3.2013).

Im Sommer 2011 fand an der Freiburger Universität – nicht von ungefähr – eine Tagung zum Thema Doping statt: Die Freiburger Uni-Sportmedizin war „jahrzehntelang das Mekka leistungswilliger Spitzensportler” (Kistner 16.9.1011). Hier wirkten die in die Doping-Problematik involvierten Top-Sportmediziner Armin Klümper und Joseph Keul sowie die der Dopingbeihilfe überführten Sportärzte Lothar Heinrich und Andreas Schmid. „Bis zu 90 Prozent der deutschen Top-Athleten fuhren regelmäßig zu Untersuchungen in den Breisgau und wurden bei Olympischen Spielen und Meisterschaften von Freiburger Ärzten betreut… Keul, Klümper und Kollegen saßen schwerste, auch schriftlich belegte und eidesstattlich versicherte Dopingvorwürfe systematisch aus” (Strepenick 12.09.2011).
Der frühere Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, Helmut Digel: „Keul und sein Kollege, der Mediziner Armin Klümper, waren in der Familie des Sports anerkannte Partner. Klümper hat viele Funktionäre, Politiker und Manager behandelt. Die Kliniken in Freiburg waren Wallfahrtsorte. Die Konkurrenz zwischen Freiburg und Köln führte zwangsläufig zur Frage der Leistungssteigerung” (Hecker 21.11.2012).
Der ehemalige Wada-Chef Richard Pound stellte bei der Freiburger Tagung fest: „Sportler reden nicht, Trainer reden nicht, Betreuer reden nicht. Und Funktionäre liefern nur Lippenbekenntnisse” (Mustroph 15.9.2011). Der Freiburger Oberstaatsanwalt Christoph Frank beendete im Herbst 2012 das Dopingverfahren gegen die Telekom-Ärzte Lothar Heinrich und Andreas Schmid (siehe unten), ohne dass ein Prozess erfolgte. Frank äußerte: „Ich erlebe hier, dass die Dopingszene exzellent organisiert ist, dass es gelingt, das Schweigen perfekt zu organisieren” (Hartmann 7.2.2013).

Vergleiche dazu: Deutsche Doping-Szenen; DOSB-Doping-Desinformation

1.6 Freiburger Universität mauert bis heute
Seit Ende 2009 stand die belgische Kriminologie-Professorin Letizia Paoli der „Großen Kommission” der Universität Freiburg vor, welche die Aufgabe hatte. „die Freiburger Sportmedizin in ihren gesamten Aktivitäten während der vergangenen 50 Jahre auf den Prüfstand zu stellen” (Hartmann 30.1.2013). – „Paoli versucht auch durch die Befragung von Zeitzeugen, sich ein Bild von den diversen Nebenfunktionen Freiburger Ärzte zu machen. Ihre führenden Vertreter erklärten zwar stets, an der Spitze der Dopingbekämpfung zu stehen. Zugleich aber wurden die Möglichkeiten der Leistungssteigerung in Freiburg detailliert erforscht. Ehemalige Sportler versicherten darüber hinaus eidesstattlich, von Freiburger Ärzten selbst systematisch gedopt worden zu sein. Offenbar verfügt die große Kommission mittlerweile über eine ganze Reihe von Aussagen, die diese Tatsache belegen“ (Strepenick 30.12.2011).

Die Arbeitsgruppe erhob gegen den Altrektor Wolfgang Jäger schwere Vorwürfe. Er „soll die Recherchen systematisch behindert und manipuliert haben. Auch sein Nachfolger habe eine Aufarbeitung verhindert” (Weinreich 6.2.2013). Der Arbeitsauftrag sei manipuliert worden. Jäger habe eine lückenlose Aufarbeitung des Dopingsystems um die Dopingprofessoren Joseph Keul und Armin Klümper sowie die Ärzte des Teams Telekom, Lothar Heinrich und Andreas Schmidt versprochen, dies aber nie umsetzen lassen.

So waren fünf Kisten mit Arbeitsunterlagen und Korrespondenz von Keul bei einer Justiziarin der Universität fünf Jahre „in Verwahrung”. – „Als einige Forscher sich für Doping-Guru Armin Klümper interessierten, gab es Widerstand… Bis vor kurzem wurden Akten, die ins Herz der Universitäts-Sportmedizin führen, vor der Kommission regelrecht versteckt – zu Joseph Keul, Gründer und bis zu seinem Tod im Jahr 2000 Leiter der Abteilung, Betreuer Hunderter Topathleten… Demnach verstaubte das Aktenkonvolut – zweieinhalb Regalmeter – fünf Jahre in Kisten. Wer sie zurückhielt, sagte Paoli nicht” (Hartmann 30.1.2013; Hervorhebungen WZ). Paoli: „Es handelt sich dabei um alle noch vorhandenen Arbeitsunterlagen und Geschäftskorrespondenz von Prof. Keul… Die Frau habe 2010 ihre Tätigkeit für die Kommission beendet. Aber warum verwahrte eine Juristin fünf Jahre lang wesentliche Akten, mit denen die Aufklärer hätten arbeiten sollen?” (Kistner 30.1.2013). –

„In Freiburg wurde verzögert und vertuscht – der Vorwurf von Chefaufklärerin Letizia Paoli wiegt schwer; die Beweise wirken erdrückend. Der Arbeitsauftrag an die Aufklärungs-Kommission war lange so abgemildert, wie es Funktionärs- und Ärztekreisen zupass kam: Hände weg von heiklen Figuren, von Armin Klümper und anderen Gurus! Und was die rätselhaft verschwundene Korrespondenz des Ärzte-Doyens Joseph Keul angeht, fühlt sich nicht nur die Mafia-Expertin Paoli an ihr berufliches Kerngebiet erinnert” (Ebenda).
„In Freiburg flüstert man hinter vorgehaltener Hand, dass der langjährige einstige Rektor Wolfgang Jäger ‘da gedreht hat’“ (Hartmann 30.1.2013; Hervorhebungen WZ). Der Nachfolger Jägers, Rektor Hans-Jochen Schiewer, „sei schon Mitte 2012 in mehreren Schreiben ausführlich über die angebliche Manipulation unterrichtet worden. Er habe sich aber geweigert, eine Untersuchung einzuleiten” (Strepenick 6.2.2013). Auch Schiewer habe die Aufarbeitung verhindert (Weinreich 6.2.2013). Die Universität Freiburg hat „eine Doppelstrategie betrieben: Während nach außen brutalstmögliche Aufarbeitung propagiert wurde, bekamen intern die Aufklärer von Anfang an ein Potemkinsches Dorf hingestellt” (Kistner 7.2.2013a).

Nachtrag Februar 2015: Neues von den Freiburger Doping-Ermittlungen
Am 24.2.2015 wird sich Baden-Württembergs Wissenschaftsministerin Theresia Bauer mit den Mitgliedern der Evaluierungskommission und deren Leiterin Letizia Paoli treffen (SID, Bewegung in Freiburg, in SZ 12.2.2015). „Die Kommission zur Aufklärung der Doping-Vergangenheit in Freiburg hat weitere Belege für systematische Manipulationen im westdeutschen Sport entdeckt. Sie sei auf Unterlagen ‚von dopinghistorisch einzigartiger Bedeutung gestoßen‘, erklärte Letizia Paoli, die Vorsitzende der Kommission. Paoli will sich weder von der Universität noch vom Stuttgarter Wissenschaftsministerium unter Druck setzen lassen, sondern ihre Arbeit zu Ende bringen. (…) Paoli hatte es nach ihrer Rücktrittsdrohung vom 1. Oktober 2014 geschafft, noch einmal Akten aus zwei Ministerien und der Staatsanwaltschaft Freiburg zu beschaffen, die ihr zufolge zusammen über 60 Aktenordner umfassen. Da es sich ‚um teils brisante Unterlagen‘ handle, will sich die Gruppe nach vor nicht unter Zeitdruck setzen lassen – weder von ihrem Auftraggeber, der Freiburger Universität, noch vom baden-württembergischen Wissenschaftsministerium. Ausdrücklich forderte Paoli, dass bei dem sogenannten Vermittlungsgespräch am 24. Februar in Stuttgart ‚auch die langjährigen schweren Behinderungen der Kommissionsarbeiten durch die Universität Freiburg‘ erörtert werden“ (Strepenick, Andreas, Paoli-Kommission entdeckt neue Belege für Doping in Freiburg, in badische-zeitung.de 12.2.2015). – „Die belgische Strafrechtsprofessorin und ihr Untersuchungsstab beklagen eine jahrelange Behinderung ihrer Arbeit durch die Uni-Spitze und konnten fragwürdige Vorgänge auch detailliert belegen. Auf der anderen Seite steht die Hochschule mit ihrem Rektor Hans-Jochen Schiewer, und zwischen den Fronten steht Theresia Bauer. Die grüne Wissenschaftsministerin bekundet gern öffentlich, dass die volle Wahrheit über die Doping-Umtriebe in Deutschlands einst gefeierter Medaillenschmiede offengelegt werden müsse. In ihrer Vorgehensweise aber wird Bauer, so ein Kommissionsmitglied, ’nicht als neutrale Vermittlerin betrachtet‘; sie sei auf Seiten der Uni. (…) Bereits im Herbst hatte Paoli mitgeteilt, der Kommission lägen Informationen vor ‚über die Rolle damaliger CDU-Landesregierungen, CDU-Minister, Angehöriger der Freiburger Staatsanwaltschaft sowie der Universitäts- und Klinikumsleitung in den jahrelangen Ermittlungen gegen Klümper'“ (Kistner, Thomas, „Doping-Akten von historischer Bedeutung“, in SZ 13.2.2015).
Außerdem ist ein Kommissionsmitglied verstorben und zwei sind ausgetreten: Deshalb müssen drei Nachfolger besetzt werden. Zwei vom Spitzensport unabhängige Sportmediziner und ein Dopinganalytiker stehen zur Verfügung. Paoli: „Bislang haben Ministerium und Rektorat eine sofortige Nachbesetzung strikt abgelehnt“ (Strepenick 12.2.2015).

Quellen:
Bundesinstitut für Sportwissenschaft, Ausschreibung eines Forschungsprojekts „Doping in Deutschland von 1950 bis heute aus historisch-soziologischer Sicht im Kontext ethischer Legitimation“, Bonn 20.11.2008
Bundesregierung, Antwort auf Kleine Anfrage, Drucksache 111506, 11.12.1991
Die „praktische Toleranz“ im Spitzensport“, in nzz.ch 12.10.2006
Eggers, Erik, Das Schweigen der Professoren, in faz.net 2.10.2012
Fischer, Mirjam, Kontrolleure mit einschlägiger Erfahrung, in spiegelonline 5.7.2007
Hacke, Detlev, Ludwig, Udo, „Ich will nur eines: Medaillen”, in Der Spiegel 39/26.9.2011
Hartmann, Grit
– Wenn der Prüfer seine eigenen Regeln prüft, in dradio.de 22.9.2011
– „Es ist eine Menge schiefgelaufen”, in zeitonline 4.6.2012
– Versteckte Aktenberge, in berliner-zeitung.de 30.1.2013
– Die Doping-Uni vertuscht ihre Doping-Vergangenheit, in zeitonline 7.2.2013
Hausding, Mathias, Drepper, Daniel
 Olympia-Arzt forschte an Dopingmitteln, in derwesten-recherche.org 2.11.2012
– Deutsche Sportfunktionäre wussten über Doping Bescheid, in derwesten.de 6.11.2012
Hecker, Anno, Doping kennt keine Grenzen, in faz.net 26.9.2011
Herrmann, Boris
– Die Auftraggeber sind Teil des Problems, in SZ 27.9.2011
– Zweierlei Wahrheiten, in SZ 1.10.2011
Kistner, Thomas
– Ringen mit der Vergangenheit, in SZ 16.9.2011
– Rätsel in Oberursel, in SZ 11.10.2012
– Fünf verschollene Kisten, in SZ 30.1.2013
– Deutsche Sonderrolle, in SZ 13.4.2013
Krause, Sebastian, Das Rätsel um die Gastärzte aus Spanien, in www.br.de 18.3.2013
Krüger, Michael, „Doping in Deutschland von 1950 bis heute aus historisch-soziologischer Sicht im Kontext ethischer Legitimation“, Präsentation von zweiten Zwischenergebnissen, Münster 22.9.2011
Meier, Henk Erik, Reinold, Marcel, Rose, Anica, Dopingskandale in der alten Bundesrepublik, Bundeszentrale für Politische Bildung, bpb.de 30.5.2012
Mustroph, Tom, Jeder Zweite würde es tun, in Neues Deutschland 15.9.2011
Nada
– Aufsichtsrat der Nada, nada-bonn.de
– Kommission Doping-Kontroll-System, nada-bonn.de
Noch diesseits, in Der Spiegel 32/1976
Reinsch, Michael
 Staatlich gefördertes Doping, in faz.net 26.9.2011
– Doping als Familiensache, in faz.net 27.9.2011
Siebold, Heinz, Allmählich offenbart sich das ganze Dopingsystem, in Stuttgarter Zeitung 17.6.2009
Strang, H., Spitzer, G., „Doping in Deutschland von 1950 bis heute aus historisch-soziologischer Sicht im Kontext ethischer Legitimation“, Präsentation von Zwischenergebnissen des Teilprojektes an der Humboldt-Universität zu Berlin, September 2011
Strepenick, Andreas
– Gefeiert und umstritten: die Freiburger Sportmedizin, in Badische Zeitung 12.09.2011
– Ein Puzzle, das sich nur langsam zusammenfügt, in Badische Zeitung 30.12.2011
– Altrektor Jäger soll Doping-Kommission manipuliert haben, in badische-zeitung.de 6.2.2013
Teuffel, Friedhard, Staatsdoping auch in der Bundesrepublik, in tagesspiegel.de 26.9.2013
Weinreich, Jens, Schwere Vorwürfe gegen ehemaligen Rektor der Universität Freiburg, in spiegelonline 6.2.2013
Wende im Streit um Dopingstudie, in handelsblatt.com 16.1.2013

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2 Die Ärzte-Galerie – eine Auswahl

Nöcker, Josef, Leverkusen (*1919, †1989)
Nöcker gehörte zum Olympiakader der geplanten Olympischen Sommerspiele 1940 in Tokio. Seine Sportkarriere wurde durch den Zweiten Weltkrieg verhindert und setzte sich dann in der ehemaligen DDR fort. Er studierte Medizin. „1956 berief ihn die DDR als Olympiaarzt für die Olympischen Spiele in Melbourne. Dieselbe Funktion erfüllte er 1964 in Tokio und 1976 in Montreal. 1968 und 1972 war er Chef des deutschen Olympiaaufgebots in Mexiko-Stadt und München“ (Wikipedia). Bereits 1959 war er in die Bundesrepublik übergesiedelt und forschte in Leverkusen über Ernährungsphysiologie. Er stellte die gespritzten Mixturen als harmlose Stoffe dar, die angeblich aus Mineralien und Spurenelementen bestünden (Spiegel 15/1977), mit denen lediglich das „Stoffwechselgeschehen erweitert“ werden sollte. Nöcker stellte fest: „Kein Athlet geht heute ohne Vitamingabe an den Start, wir sind verpflichtet, unseren Sportlern anzubieten, was andere auch bekommen“ (Spiegel 32/1976).

Darunter kann man sich eine ganze Palette vorstellen.

Nöcker forschte auch über die Gefahren der Anabolika. Die Erkenntnisse von ihm und seinem Doktoranden Gerd Reinhard „wurden nicht angemessen kommuniziert, sondern verblieben außerhalb  der Sportmedizin (und der Sportwissenschaft)“ (Strang, Spitzer 2011, S. 3; vgl. auch unter Hollmann, Wildor, der 1. Gutachter der Arbeit war).

Ruderer Michael Kolbe erhielt dann bei den Olympischen Sommerspielen 1976 in Montreal eine von den Radrennfahrern bekannte Mixtur aus Cocarboxylase und Thioctinsäure, vitaminnahe Stoffe, die ‚sowieso im Körper sind’ (Nöcker)“ (Spiegel 32/1976). Es war nach Mitteilung des Deutschen Ruderverbandes „eine neue Vitamin-B-Mixtur aus der DDR“ (Meier u. a. S. 9). Nöcker behauptete, dass es sich bei Kolbes Spritze nicht um Doping gehandelt habe, sondern um eine Hilfe zur Leistungsstabilisierung“ (Meier u. a., S. 9).
Damit wurde aber nicht nur Kolbe behandelt. Der Präsident des Deutschen Sportärztebundes Reindell schrieb: „Soviel mir bekannt ist, sind mehrere hundert Spritzen nach Montreal geschickt worden“ (Meier u. a., S. 8).
Nöcker warnte vor einem veralteten Amateurbegriff, der „der Gesellschaftsverfassung des vergangenen Jahrhunderts“ entspreche (Spiegel 33/14.8.1989).
Der Paradigmenwechsel beginnt nicht erst hier.

Quellen:
Bißchen Damenbart, in Der Spiegel 15/1977
Meier, Henk Erik, Reinold, Marcel, Rose, Anica, Dopingskandale in der alten Bundesrepublik, Bundeszentrale für Politische Bildung, bpb.de 30.5.2012
Noch diesseits, in Der Spiegel 32/1976
Kraft durch Spritzen, in Der Siegel 36/1976
Register: Josef Nöcker, Der Spiegel 33/14.8.1989

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Keul, Joseph, Universität Freiburg (*1932, † 2000)
Keul war ab 1960 Olympiaarzt, leitete ab 1974 die Abteilung Sportmedizin der Universität Freiburg und wurde ab 1980 Chef-Olympiaarzt. Keul war Präsident des Sportärztebundes und als Anti-Doping-Berater des deutschen NOK offiziell auf der Seite der Manipulationsbekämpfer (SZ 30.1.2013). „Er unterhielt beste Beziehungen zu den Spitzen des Nationalen Komitees (NOK) und zum Deutschen Sportbund. Auch mit August Kirsch, lange Jahre in Personalunion (! W.Z.) Direktor des BISp und Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, arbeitete der Freiburger eng zusammen” (Hacke, Ludwig 26.9.2011).
Seit den 1970er Jahren war er mit seinem Kollegen Armin Klümper verdächtig, die Folgen des Dopings zu verharmlosen. Aufschlussreich war die spätere Auseinandersetzung Keul gegen Klümper  vor der Ärztekammer Südbaden im September 1992. Klümper hatte Keul vorgeworfen, dieser hätte Schwimmern 1975 leistungssteigernde Spritzen gesetzt: Dies wurde vom Gericht bestätigt (Freudenreich 19.9.1992).

Bereits seit Ende der 1960er Jahre führte Keul mit Sportlern Anabolika-Studien durch (www.cycling4fans.de S. 1). Keul wurde von der „Arbeitsgruppe Hochleistungssport“ als Leiter des Testosteron-Forschungsauftrags mit dem harmlosen Namen „Regeneration im Hochleistungssport“ eingesetzt, siehe unter 1.1. Im Januar 1977, ein halbes Jahr nach den Olympischen Sommerspielen in Montreal, schrieb Keul in einem Brief an Willi Daume den bereits zitierten Satz: „Ist Ihnen bekannt, dass unsere Sprinterinnen, die so erfolgreich im letzten Jahr waren, über mehrere Perioden anabole Hormone eingenommen haben?“ (Hausding, Drepper 6.11.2012. Dopingkontrollen gab es bis kurz vor Montreal 1976 nicht; vergleiche nzz.ch 12.10.2006).

Bei der Einweihungsfeier der neuen Abteilung Sportmedizin an der Universität Freiburg sagte der Ministerialrat im Bundesministerium des Innern, Gerhard Groß: „Mir ist bekannt, dass sich auch Freiburg, wenn ich einmal Ihre Person, lieber Herr Professor Joseph Keul, mit Freiburg identifizieren darf, hierzu mehrfach geäußert hat. Wenn keine Gefährdung oder Schädigung der Gesundheit herbeigeführt wird, halten Sie leistungsfördernde Mittel für vertretbar. Der Bundesminister des Inneren teilt grundsätzlich diese Auffassung“ (Strepenick 14.5.2009). Das war sozusagen die offizielle Aufforderung des Staates zur Anwendung von Dopingmitteln.

Der DDR-Chefmediziner Manfred Höppner berichtete von der Tagung der Sportmediziner am 12.11.1976 in Amsterdam: „In der Diskussion wurde speziell von den Vertretern der BRD, Dr. Danz (damaliger Kommissionschef, d. Red.) und Dr. Donike, die Forderung erhoben, Anabolika aus der Dopingliste zu streichen und legten in diesem Zusammenhang Materialien von Prof. Dr. Keul vor, nach welchen die Anwendung anaboler Steroide nicht gesundheitsschädigend sei“ (www.cycling4fans.de S. 6).

Ruderer Michael Kolbe erhielt, wie schon bei Nöcker erwähnt, bei den Olympischen Sommerspielen 1976 in Montreal von Keul angeblich eine Mixtur aus Cocarboxylase und Thioctinsäure (Spiegel 32/1976; www.cycling4fans.de S, 2; Neue Züricher Zeitung 12.10.2006). Es war nach Mitteilung des Deutschen Ruderverbandes „eine neue Vitamin-B-Mixtur aus der DDR“ (Meier u. a. S. 9; siehe oben).

Keul deklarierte neue Doping-Mittel zunächst grundsätzlich als „kein Doping”. Keul zu Anabolika: „Jeder, der einen muskulösen Körper haben und männlicher wirken möchte, kann Anabolika nehmen“ (Spiegel 7.9.1987). Zu Epo: Es sei „bei richtiger Anwendung ungefährlich“ (Spiegel 24/1991). „Es ist zwar im Sport verboten, aber nicht nachweisbar und, so sagte Keul, wohl auch unschädlich“ (FAZ 10.5.1999; Keuls Institut mit Andreas Schmid und Lothar Heinrich betreute zu der Zeit die Rennradler vom Team Deutsche Telekom).

Keul „verharmloste Doping und begrüßte den Einsatz von Testosteron… Obwohl schon im ersten Abschnitt des Projektes die Leistungssteigerung durch Testosteron belegt werden konnte, verschwiegen die Forscher diese Ergebnisse und sprachen öffentlich davon, Testosteron bringe nichts. Keul argumentierte jahrelang dafür, Testosteron von der Dopingliste zu nehmen. Gleichzeitig verteilten seine Freiburger Kollegen Georg Huber und Armin Klümper die Mittel an Sportler, wie mittlerweile durch Forschungen und Gerichtsverfahren belegt ist” (Hausding, Drepper 2.11.2012). Noch 1991 behauptete Keul: „Testosteron ist für Ausdauerathleten kontraproduktiv“ (Hecker 2.2.2009).

Prof. Werner Franke aus Heidelberg schrieb am 22.4.1977 einen Gastkommentar in der österreichischen Ausgabe der Medical Tribune. Darin stand unter anderem: „Nach Ansicht einer kleinen, in einigen Sportverbänden aber einflussreichen Gruppe von Sportmedizinern, angeführt von Prof. Dr. J. Keul (Freiburg) und Prof. Dr. W. Hollmann (Köln), sollten gesunden Menschen – lediglich auf ihren Wunsch hin – zum Zweck der sportlichen Leistungssteigerung androgene-anabole Steroidpräparate verabreicht werden, ohne jede medizinische Indikation, ohne jede angemessene Güterabwägung und gegen die Regeln der olympischen Sportarten selbst, in denen diese Präparate als Dopingmittel eingestuft und verboten sind. Hier degradieren sich Ärzte offensichtlich nicht nur zu ‚Gefälligkeitsverschreibern’, sondern sie machen sich auch noch zu Helfern und Helfershelfern eines Betruges, eines Verstoßes gegen die – ironischerweise z. T. unter Beteiligung eben dieser Mediziner ausgearbeiteten – Regeln“ (Franke, Werner, Anabolika im Sport, zitiert nach:www.cycling4fans.de). Am 12.8.1977 erschien die Replik von Keul und Kindermann, an deren Ende eine Stellungnahme von Franke platziert war. Dieser erwiderte u. a.: „Dass aber ausgerechnet Herr Keul sich nun als Vorkämpfer des Verbots des Anabolika-Dopings entdeckt, ist ein schlechter Witz. Das Gegenteil ist nachweisbar!“

Keul setzte sich (mit Wildor Hollmann) auch für Hartmut Riedel ein, der von 1982 bis 1986 am Zentralinstitut des Sportmedizinischen Dienstes Chefarzt war und über Anabolika geforscht und damit Sportler gedopt hatte (www.cycling4fans.de, Hartmut Riedel). „Die beiden Professoren Keul und Hollmann empfahlen den Ex-DDR-Anabolikafachmann 1988 für eine Professur an der Universität Bayreuth, trotz des Fehlens der üblicherweise vorzulegenden wissenschaftlichen Arbeit. Dessen Dissertation mit dem Titel ‚Zur Wirkung von anabolen Steroiden auf die sportliche Leistungsentwicklung in den leichtathletischen Sprungdisziplinen’ war verschwunden. Als Brigitte Berendonk dieses Werk ausgegraben hatte und eine öffentliche Diskussion begann, rechtfertigte sich Keul damit, ihm hätte der Titel ohne ‚anabole’ vorgelegen. Das hätten dann ja ganz andere Medikamente sein können. In der Begründung des Berufungsvorschlages für Riedel heißt es aber explizit, ‚mit originellen diagnostischen Verfahren erarbeitete er (Riedel) wesentliche Erkenntnisse auf dem Sektor der anabolen und katabolen Hormone. Er gehört zu den anerkannten Fachleuten auf diesem Gebiet’“ (www.cycling4fans.de, Joseph Keul, S. 11f). – „Dazu kann man anmerken, dass Riedel bereits vier Monate nach seiner Flucht zusammen mit Prof. Heinz Liesen an den durch das BISp geförderten Testosteronstudien arbeitete“ (www.cycling4fans.de, Doping: Wildor Hollmann, S. 6f).

Keul „war in diesen Jahren, Anfang der 90er, Anti-Doping-Beauftragter des Nationalen Olympischen Komitees (NOK), des Deutschen Sportbundes (DSB) und des Bundesinstituts für Sportwissenschaft. Brisant wurde es für ihn, als Brigitte Berendonk in ihrem Buch ‚Doping-Dokumente‘ 1991 auch ihn belastete. Der Arzt versuchte sich zwar zu wehren, doch er konnte die Vorwürfe nicht entkräften. Noch deutlich unangenehmer wurde es für ihn, als die ‚ad-hoc-Kommission zur Beratung in Doping-Fragen’ unter Vorsitz des damaligen DSB-Vizepräsidenten Manfred von Richthofen zu dem Schluss kam, Prof. Keul sei aufgrund bewiesener Nähe zu Dopingpraktiken nicht mehr als Olympiaarzt tragbar“ (www.cycling4fans.de, Doping: Joseph Keul, S. 12).

Der ehemalige DSB-Präsident Manfred von Richthofen berichtete von einem Gespräch mit Willi Daume über Keuls Verbindungen zum Doping: „Wir hielten Keul für hochbelastet in Fragen des Dopings… Es gab den Auftrag der Kommission an mich, die damalige Sportführung zu überzeugen, dass Keul nicht mehr als Olympiaarzt nominiert werden könne“ (Hecker 2.2.2009). Manfred von Richthofen traf sich deshalb mit NOK-Präsident Willi Daume „Ich trug ihm den Wunsch der Kommission vor. Er sagte mir nur: ,Das Gespräch ist beendet.‘ Dann haben wir uns noch eine Weile angeschwiegen“ (Ebenda).

„Prof. Keul überstand auch diese Krise. Er blieb Olympiaarzt bis zu seinem Tod im Jahr 2000. Obwohl es im Jahr 1997 noch einmal eine Initiative gab, Keul das Amt des Olympia-Arztes für Nagano zu entziehen. Zu den alten Anschuldigungen kamen die bereits weiter oben im Text erwähnten neuen des DDR-Chefmediziner Manfred Höppner, der angab, Keul hätte ihm früher bestätigt, dass anabole Steroide zum bundesdeutschen Hochleistungssport gehörten“ (www.cycling4fans.de, Joseph Keul, S. 12).
Dopingexperte Prof. Werner Franke äußerte über Keul: „Er ist eindeutig der geistige Urheber und einer der kriminellen Köpfe des Dopings im Breisgau“ (Strepenick 14.5.2009). Keuls Schüler waren unter anderem die Telekom-Dopingärzte Andreas Schmid und Lothar Heinrich sowie Georg Huber und der heutige leitende Olympiaarzt Bernd Wolfarth (siehe jeweils unten).

Der frühere Radrennfahrer Stefan Schumacher war beim Radrennstall Gerolsteiner und stand im April 2013 wegen Doping vor Gericht. Ernst Jakob war leitender Teamarzt bei Gerolsteiner. Er „beantwortet sämtliche Fragen mit dem Satz: ‚Ich werde dazu keine Stellungnahme abgeben.’ Der Schüler des Freiburger Gurus Joseph Keul betreute einst Jan Ullrich beim Team Bianchi; 2006 bei Olympia in Turin wollte er hohe Blutwerte der Langläuferin Evi Sachenbacher mit genetischer Disposition wegerklären und scheiterte damit vor dem Weltsportgerichtshof CAS“ (Hartmann 9.4.2013; Hervorhebung WZ).
Und warum gibt es üblicherweise so wenig Zeugenaussagen wie jetzt im Fall Gerolsteiner: „Die vier Gruppen – Athleten, Ärzte, Betreuer, Teamchefs – kommunizieren zum Doping untereinander aus Schutzgründen nach dem Vier- bis Sechs-Augen-Prinzip, wobei die obersten Sachverwalter nicht in das Procedere eingreifen müssen: Wirtschaftszwänge und innere Logik des Leistungsbetriebs sorgen schon bald dafür, dass der aufstrebende Athlet bald selbst bei Ärzten und Betreuern vorstellig wird“ (Kistner 10.4.2013).
Am 29.10.2013 wurde Stefan Schumacher vom Betrugsvorwurf freigesprochen. Im Oktober 2013 hat die Staatsanwaltschaft Hagen das Verfahren gegen Ernst Jakob eingestellt. Die Ermittlungen hätten „keinen genügenden Anlass zur Anklageerhebung “ ergeben. Teile der Vorwürfe seien verjährt; nach 2008 keine strafbaren Handlungen nachzuweisen (Ermittlungen beendet, in SZ 31.10.2013).

1990 erhielt Keul das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse. Der ehemalige Sportfunktionär und Landesminister für Kultur und Sport, Gerhard Mayer-Vorfelder, rühmte Keul: „Es ist wesentlich Ihr Verdienst, dass die Freiburger Sportmedizin über die Landesgrenzen hinaus anerkannt ist und heute Weltruhm genießt“ (Strepenick 14.5.2009).

Quellen:
Der Doping-Fall Freiburg, in SZ 30.1.2013
Die praktische Toleranz im Spitzensport, in Neue Züricher Zeitung 12.10.2006
Doping: Joseph Keul, in www.cycling4fans.de
Doping: Wildor Hollmann, in www.cycling4fans.de
Freudenreich, Josef-Otto, „Wenn du Fragen zum Doping hast, ist Keul der Richtige“, in SZ 19.9.1992
Hacke, Detlev, Ludwig, Udo, „Ich will nur eines: Medaillen”, in Der Spiegel 39/26.9.2011
Hartmann, Grit, Das Schweigen der Ärzte, in fr-online.de 9.4.2013
Hausding, Matthias, Drepper, Daniel
 Olympia-Arzt forschte an Dopingmitteln, in derwesten-recherche.org 2.11.2012
– Deutsche Sportfunktionäre wussten über Doping Bescheid, in derwesten.de 6.11.2012
Kistner, Thomas, Pilotprozess für Sport und Justiz, in SZ 10.4.2013
Hecker, Anno, Doper, vereint Euch, in faz.net 2.2.2009
Schlamm in den Adern, in Der Spiegel 24/1991
Strepenick, Andreas, Das System Keul, in Badische Zeitung 14.5.2009

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Apr 082013
 
Zuletzt geändert am 23.11.2015 @ 12:30

8.4.2013, aktualisiert am 13.3.2014

Die Leichtathletik-Europameisterschaft fand vom 6. bis 11. August 2002 in München statt. Wir haben die (meist erst nachträglich festgestellten) Dopingvergehen der damaligen EuropameisterInnen aufgelistet. Eine Zusammenstellung der Sieger/Teilnehmer findet sich bei Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Leichtathletik-Europameisterschaften_2002

Zum Hintergrund

12.08.2002: „Leichtathletik-EM – eine Steilvorlage für Olympia“
http://www.faz.net/aktuell/sport/interview-leichtathletik-em-eine-steilvorlage-fuer-olympia-170430.html

15.03.2010: „2002 war unsere Stadt Gastgeberin der großartigen 18. Leichtathletik-Europameisterschaften.“
http://www.ris-muenchen.de/RII2/RII/DOK/ANTRAG/2288629.pdf

25.05.2009: „Über alles gesehen, ist sicher die Leichtathletik-Europameisterschaft 2002 etwas ganz Besonderes gewesen.“
http://www.merkur-online.de/lokales/muenchen/stadt-muenchen/mister-olympiapark-nimmt-seinen-hut-abschiedsinterview-wilfrid-spronk-316353.html

„Wie sportbegeistert wir sind, das war schon bei der fantastischen Stimmung der Leichtathletik-EM 2002 und der Fußball-WM 2006 zu sehen“
http://münchen-pro-2022.de/download/121210_flyer.pdf

09.04.2009: Offener Brief von Gerhard Treutlein an Clemens Prokop, DLV
„2002 wurde auf mein Betreiben hin der DLV über Dopingvertuschungspraktiken der ungarischen Werfer (Annus, Fazekas) informiert. Bei der EM 2002 in München soll es trotzdem keine Kontrolle im Diskuswerfen gegeben haben; Annus und Fazekas sind trotz dieser Information erst 2004 bei den Olympischen Spielen aufgeflogen.“

Offener Brief von Gerhard Treutlein an Clemens Prokop

Die Doper/innen

Männer:

100 m: Dwain Chambers
2003 positiv auf THG getestet (Verwicklung in den „BALCO-Skandal“); EM-Titel von München aberkannt

http://www.welt.de/sport/article3312472/Chambers-nahm-Doping-Cocktail-mit-300-Drogen.html

200 m: Konstantinos Kenteris
2004 mehrere verpasste Dopingkontrollen; fingierter Motorrad-Unfall während der Olympischen Spiele 2004 in Athen; 2011 wegen Meineides verurteilt

http://www.faz.net/aktuell/sport/thanou-und-kenteris-legendaeres-fluchtverhalten-1635626.html

5000 m: Alberto García
2003 positiv auf EPO getestet; 2010 im Zuge der „Operacion Galgo“ wegen des Verdachts auf Beteiligung an einem Dopingring verhaftet
http://www.leichtathletik.de/index.php?NavID=1&SiteID=28&NewsID=30596
Operacion Galgo: „Im Dezember 2010 fand der Dopingskandal Fuentes seinen nächsten Höhepunkt. Die Guardia Civil verhaftete im Rahmen der Operación Galgo (‚Operation Windhund’ – in Anspielung auf Läufe in der Leichtathletik) vierzehn Personen, die unter dem Verdacht standen, Handel mit Dopingpräparaten betrieben zu haben. Festgenommen wurden neben Eufemiano Fuentes unter anderem seine Schwester Yolanda, die Langstreckenläuferin und Vizepräsidentin des spanischen Leichtathletikverbandes Marta Domínguez, deren Manager José Alonso, die Leichtathletiktrainer César Pérez und Manuel Pascua, der Langstreckenläufer Alberto García sowie der ehemalige Mountainbiker Alberto León“ (Wikipedia).

3000 m Hindernis: Antonio Jiminéz Pentinel
2014 bei der Polizeiaktion „Operación Jimbo“ neben zwölf anderen festgenommen: Ihnen wird illegaler Handel mit Dopingmitteln vorgeworfen. Es wurden Spritzen, Wachstumshormone und Blutkonserven sichergestellt.
Beitrag im Tagesspiegel: hier

4 x 100 m Staffel: Großbritannien/Dwain Chambers
2003 positiv auf THG getestet (Verwicklung in den „BALCO-Skandal“); EM-Titel von München aberkannt

http://www.welt.de/sport/article3312472/Chambers-nahm-Doping-Cocktail-mit-300-Drogen.html

20 km Gehen: Francisco Javier Fernández
2009 bei einer Hausdurchsuchung im Zuge der „Operacion Grial“ (Aktion der Guarda Civil gegen Doping im August 2009) der Besitz von EPO nachgewiesen.
http://www.focus.de/sport/mehrsport/leichtathletik-dopingskandal-in-spanien-geher-legt-gestaendnis-ab_aid_479153.html

Kugelstoßen: Jurij Bilonoh
2004 bei den Olympischen Spielen in Athen positiv auf Oxandrolon getestet (erst 2012 durch Nachkontrolle nachgewiesen)
http://www.olympic.org/Documents/Commissions_PDFfiles/Disciplinary_commission/ATHR005-DECISION-DOC.pdf

Diskuswurf: Róbert Fazekas
2004 bei den Olympischen Spielen in Athen der Manipulation einer Dopingkontrolle mittels „ungarischer Arschrinne“ (Fremdurin über Kanüle) überführt; 2012 positiv auf Stanozolol getestet
http://www.olympic.org/Documents/Reports/EN/en_report_860.pdf

http://www.olympic.org/Documents/Reports/EN/en_report_860.pdf

Hammerwurf: Adrián Annus
2004 bei den Olympischen Spielen in Athen der Manipulation einer Dopingkontrolle mittels „ungarischer Arschrinne“ überführt

http://www.olympic.org/Documents/Reports/FR/fr_report_919.pdf

Frauen: 

100 m: Ekaterini Thanou
2004 mehrere verpaßte Dopingkontrollen; fingierter Motorrad-Unfall während der Olympischen Spiele 2004 in Athen; 2011 wegen Meineides verurteilt
http://www.faz.net/aktuell/sport/thanou-und-kenteris-legendaeres-fluchtverhalten-1635626.html

800 m: Jolanda Čeplak
2007 positiv auf EPO getestet
http://www.iaaf.org/news/News/doping-rule-violation-264

1500 m: Süreyya Ayhan
2004 der Manipulation einer Dopingkontrolle mit Fremdurin überführt; 2007 positiv auf Stanozolol und Methandienon getestet

http://www.tas-cas.org/d2wfiles/document/3711/5048/0/Award20158520158620internet.pdf
http://www.berliner-zeitung.de/archiv/vor-olympia-werden-drei-leichtathleten-des-dopings-ueberfuehrt-positivtrend,10810590,10201304.html


5000 m: Marta Dominguez

2010 im Zuge der „Operacion Galgo“ wegen des Verdachts auf Beteiligung an einem Dopingring verhaftet (später weitgehend entlastet); als Kundin von Eufemiano Fuentes („Operacion Puerto“) verdächtigt
http://www.sueddeutsche.de/sport/doping-in-spanien-gold-im-dopen-1.1034973
Im November 2015 wurde  Dominguez vom internationalen Sportgerichtshof Cas für drei Jahre gesperrt; der Cas erkannte ihr alle Titel ab, die sie zwischen dem 5.8.2009 und dem 4.1.2013 errungen hatte (Läuferin Dominguez verliert ihren WM-Titel, in spiegelonline 20.11.2015).

4 x 400 m Staffel: Deutschland/Grit Breuer

Anfang 1992 der Manipulation einer Dopingkontrolle verdächtigt; im Juli 1992 positiv auf Clenbuterol getestet; Lebenspartnerin von Thomas Springstein, der 2006 wegen Minderjährigen-Dopings verurteilt wurde; anschließendes Ermittlungsverfahren gegen Grit Breuer wird aufgrund Verbandsaustritts vorläufig eingestellt
http://www.faz.net/aktuell/sport/mehr-sport/breuer-schumann-urbansky-dopingverfahren-beendet-1405675.html

4 x 400 m Staffel: Deutschland/Florence Ekpo-Umoh

2003 positiv auf Stanozolol getestet
http://www.leichtathletik.de/index.php?NavID=25&SiteID=28&NewsID=4846

20 km Gehen: Olimpiada Iwanowa
bereits 1997 positiv auf Stanozolol getestet

http://www.leichtathletik.de/dokumente/europameisterschaft/eurostars/ivanova_o.html

Weitsprung: Tatjana Kotowa
2005 positiv getestet (erst 2013 durch Nachkontrolle nachgewiesen)

http://www.rusada.ru/en/press/news/russian-athlete-tatyana-kotova-provisionally-suspended

Kugelstoßen: Irina Korschanenko
bereits 1999 positiv auf Stanozolol getestet; 2004 bei den Olympischen Spielen in Athen erneut positiv auf Stanozolol getestet

http://www.olympic.org/Documents/Reports/EN/en_report_921.pdf

Hammerwurf: Olga Kusenkowa
2005 positiv getestet (erst 2012 durch Nachkontrolle nachgewiesen)

http://www.iaaf.org/news/press-release/helsinki-2005-re-tests-reveal-six-adverse-fin

Fazit
Das ergibt 18 von 46 Europameistern und Europameisterinnen, die vor, während oder nach den Europameisterschaften von München 2002 des Dopings überführt wurden. Das entspricht 39 %! Die Dunkelziffer dürfte noch weitaus höher sein.
„Auf Vorschlag von IOC-Mitglied Walther Tröger hat der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, Dr. Jacques Rogge, den Zuschauern der Leichtathletik-Europameisterschaften 2002 den Olympischen Pokal als offiziellen Ehrenpreis für faires und positives Verhalten verliehen“ (dosb.de, Münchner Leichtathletik-Publikum der EMK 2002 vom IOC ausgezeichnet, 3.4.2003; Hervorhebung von uns).
Die Zuschauer waren fair, aber hatten die Sieger den Jubel verdient?

Vergleiche auch im Kritischen Olympischen Lexikon: Doping

Mrz 152013
 
Zuletzt geändert am 15.03.2013 @ 11:37

15.3.2013

Die Stadtspitze will es wissen
Vom 7. bis 9. März 2013 wurde in Wien eine Volksbefragung zu vier Themen durchgeführt. Frage 2 lautete: “Soll sich die Stadt um die Austragung der Olympischen Sommerspiele 2028 bemühen” (www.wien.gv.at).

Die Kosten allein der Bewerbung lägen laut SPÖ-Klubchef Rudolf Schicker bei 80 bis 100 Millionen Euro (Krause 12.2.2013). Schicker lieferte die übliche Begründung: Olympische Spiele wären eine Chance zur Modernisierung von Wien, die sowieso durchgeführt werden müsse. Und es könnte alles auf einen Schlag erfolgen, nicht nur Stück für Stück (Stuhlpfarrer 12.2.2013).
Die Modernisierung von Wien OHNE Olympische Spiele käme viel billiger – und wäre wesentlich städte- und menschenfreundlicher zu planen.

SPÖ-Bürgermeister Michael Häupl hielt eine Bewerbung Wiens für eine gute Sache und machte in Zweckoptimismus: „Wenn wir uns bewerben, werden wir gewinnen“ (sport.orf.at 7.3.2013; Häupl wäre bei der Eröffnung der Spiele 79 Jahre alt).
Es ist immer wieder ebenso unverständlich wie unverantwortlich, dass ein Bürgermeister nach all den bekannten Tatsachen über IOC & Co. heute noch seinen Finger für eine olympische Bewerbung hebt, die seine Stadt finanziell und ökonomisch in größte Schwierigkeiten bringt..
Der Politologe Thomas Hofer vermutete: “Die Intention hinter dieser Frage war vielleicht, den Schladming-Schwung mitzunehmen” (Gebhard 11.2.2013).
Der “Schladming-Schwung” sieht allerdings eher nach einem Unfall als nach einem Schwung aus.
À propos Schladming: Der Präsident des Österreichischen Skiverbandes, der unvermeidliche Peter Schröcksnadel, machte aus naheliegenden Gründen einen Gegenvorschlag: sich doch mit Wien um Olympische Winterspiele zu bewerben. „Und wo sollten in Wien eigentlich die alpinen Skiwettbewerbe durchgeführt werden? Auch hier hat Schröcksnadel eine Lösung parat: in Lackenhof am Ötscher… Die Liftgesellschaft dort gehört übrigens zufällig – erraten – Peter Schröcksnadel“ (team1012.at 4.3.2013).

Wiener Grüne Vizebürgermeisterin begeistert
Maria Vassilakou schwärmte Mitte Februar 2013 von Barcelona 1992 und Athen 2004 (ausgerechnet!) – und von Wien 2028. “Ich sehe Olympia als Chance für die Stadt… Olympia wäre ein solches Datum, an dem man etwas vorlegen muss” (Neumann, Fritz, Vassilakou: “Olympische Spiele per se sind nicht das Problem”, in derstandard.at 20.2.2013). Wien könnte sich präsentieren als “Welthauptstadt in ökologischen Fragen oder in Klimaschutzfragen.” Auf den Hinweis, dass der wirtschaftliche Niedergang Griechenlands Kritikern zufolge durch Athen 2004 beschleunigt wurde, sagte Vassilakou: “Ich war absolut dafür, dass Athen die Spiele veranstaltet. Und ich ziehe immer noch eine positive Bilanz” (Ebenda).
Welche „positive Bilanz“ soll das sein? Wie es in Athen heute wirklich aussieht: siehe unten.

Kleine Zwischenbilanz zu Athen 2004
Zum Olympiastadion: “Während die Athener die Anlage zwecks Freizeitgestaltung zu nutzen versuchen, verschaffen sich die Gäste aus dem Ausland einen Überblick über den Ist-Zustand der Sportstätten. Es ist ein Blick des Grauens. Schlimmer, als sich das erahnen liess. Mit «Olympische Ruinen» («Handelsblatt»), «Olympiaschrott» («Frankfurter Allgemeine») und «Geisterkulissen» («Die Welt») haben Medienschaffende die Olympiastätten in den letzten Jahren beschrieben. Treffender geht es nicht. Im Zentrum der Olympischen Sommerspiele standen das Olympiastadion und der riesige, ihn umgebende Olympiapark. Vom Glanz von damals ist nichts geblieben. An der Stahlkonstruktion des spanischen Stararchitekten Santiago Calatrava nagt der Rost. Elemente des Glasdachs fehlen. Überall lagern Berge von Müll. Es ist Chaos pur. Viele Schalensitze sind aus der Verankerung gerissen, andere schmutzig. Auf dem Rasen, auf welchem Konzerte und Fussballspiele geplant waren, aber kaum stattfanden, wirbelt der Wind Abfall, Zeitungen und sogar Kartonschachteln herum” (Weber 17.2.2013).
Zum Sprungbecken: “Vor neun Jahren war diese Anlage noch der Stolz der Olympiamacher. Heute ist es nicht mehr als eine Ruine. Das 50-Meter-Becken wurde von einem lokalen Athener Schwimmklub vor zwei Jahren zwar wieder in Betrieb genommen und dient Trainingszwecken, einladend ist es aber nicht. Überall ums Becken klaffen riesige Löcher in den Betonplatten, liegen Glasscherben herum. Das angrenzende Sprungbecken, in welches an den Sommerspielen die Turmspringer sprangen, ist nur mit einigen Zentimetern einer nicht zu definierenden braunen Brühe gefüllt. Diese gleicht nicht nur optisch einer Fäkaliengrube, sie riecht auch entsprechend” (Ebenda).
Zum Beachvolleyball: “Die Wasserspiele in Faliron, wo die olympischen Beachvolleyball-Medaillen ausgespielt wurden, sind versiegt. Bäume und Pflanzen, die für die Spiele gepflanzt wurden, sind längst verdorrt. Dafür wächst überall Unkraut. Verantwortlich, dieses zu entfernen, fühlt sich aber niemand. Auch die Kassahäuschen sind verschlossen, viele sind demoliert. Die Toiletten ebenfalls” (Ebenda).
Zu den Finanzen: “Die Olympischen Spiele 2004 – sie waren nicht nur ein Sportereignis, sie waren auch ein gewaltiges Infrastrukturprojekt. Geblieben sind Griechenland Milliardenschulden und Ruinen. Zwei Drittel aller Sportanlagen sind nicht mehr in Betrieb” (Ebenda).

Die Kritik an Wien 2028
Im Vorfeld gab es reichlich Kritik in der österreichischen Presse – mit Verweisen auf die immens gestiegenen Sicherheitskosten, die fehlende Sportinfrastruktur etc.
„Über Auswirkung und Kosten einer Bewerbung geschweige denn des Events wurde die Bevölkerung weitgehend im Unklaren gelassen. Die Wiener wurden, was mögliche Olympische Sommerspiele 2028 betrifft, nicht mit zuviel Information verwirrt… „Die Hauptstadt bietet derzeit kaum einer der 41 olympischen Sportarten eine adäquate Infrastruktur“ (Neumann 6.3.2013). SP-Klubobmann Schicker sprach von 80 bis 100 Millionen Euro (!) Bewerbungskosten, Sportstadtrat Christian Oxonitsch dagegen von 20 bis 25 Millionen Euro. „Die Differenz blieb unerklärt“ (Ebenda).
„Bleibt die Frage, ob sich eine Stadt, die es nicht schafft, ihr Stadthallenbad zu sanieren, um Olympische Spiele bewerben soll“ (Wien will’s wissen – oder doch nicht? in nzz.ch 8.3.2013).
„Neben der Frage, ob Olympische Sommerspiele künftig noch an kleine Millionenstädte wie Wien vergeben werden, stellt sich auch jene der Nachhaltigkeit. Da die meisten der Sportstätten im Zuschauerbereich in die zigtausend gehen würden, wären sie in ihrer Größe für die österreichische Sportlandschaft nicht verwendbar. Intelligente Rückbaukonzepte und eine nur temporäre Verwendbarkeit wären da gefragt. All das verursacht Kosten, wobei sich die Bewerbungskosten allein in überschaubarem Rahmen bewegen würden. Doch die Summe bei einer Ausrichtung liegt längst in den Milliarden. London 2012 kostete rund 11,5 Milliarden Euro, wobei die Sicherheitskosten seit den Anschlägen auf das World Trade Center in New York explodiert sind. Bis 2028 ist mit einer Fortsetzung des fortschreitenden Kostenfaktors zu rechnen“ (sport.orf.at 7.3.2013).
„Die Selbstbezeichnung der Kommune als „Sportstadt“ ist unfreiwillige Selbstironie. Wiens einziges 50-Meter-Schwimmbecken ist leck. Die Schwimmer üben in einem Dauerprovisorium, einer zugigen, aufblasbaren Plastikhalle. Die Millionenstadt hat kein Ballsportzentrum, kein Leichtathletikstadion, das Radstadion war asbestverseucht und ist altersschwach… Dazu kommt, dass sich Häupl (63) seit seinem Amtsantritt 1994 als unfähig erwiesen hat, die sportliche Infrastruktur der Stadt auszubauen oder auch nur aufrechtzuerhalten.  “ (Skocek 12.3.2013).
„Olympia in Wien! Das klingt wie Fussball auf Grönland oder die Ausrichtung einer Ski-WM in der Sahara. Die Sportstätten in Wien taugen nicht einmal dazu, um in allen olympischen Sportarten österreichische Meisterschaften durchzuführen“ (be24.at 8.3.2013).
„Olympische Sommerspiele haben eine derart gigantische Dimension angenommen, dass Wien dafür einfach zu klein ist. Das Geld, das in eine Bewerbung fließen würde, könnte man im Sport viel sinnvoller einsetzen“ (Team1012.at4.3.2013; hier findet sich auch eine gute Zusammenfassung der meisten Gründe, die gegen Wien 2028 sprechen).

Die Abstimmung
Nach Auszählung der Stimmen war Schluss mit Wien 2028. Die offizielle Wahlbeteiligung betrug 29,46 Prozent, der Anteil der Nein-Stimmen 71,94 Prozent (212.672) mit Ja stimmten 28,06 Prozent (82.940) (wien.gv.at 12.3.2013).

Bürgermeister Häupl: „Ich finde das Ergebnis schade, weil es der Stadt viel gebracht hätte“ (wienerzeitung 12.3.2013).

Auch österreichweit fiel Wien 2028 durch. Eine OGM-Umfrage für die Zeitschrift Kurier erbrachte 53 Prozent Ablehnung. Die Ablehnung lag nach Auskunft von Karin Cvrtila vom OGM-Institut niedriger als in Wien, da die anderen Bundesländer weniger betroffen wären (Trummer 12.3.2013).
Vorsicht – die vom IOC geforderte unbegrenzte Defizitgarantie frisst am gesamten öffentlichen Haushalt eines ganzen Landes.

„Auffällig ist: Vor allem höher Gebildete und Menschen über 50 lehnen die Bewerbung ab“ (Ebenda).

Presse-Kommentare
„Das olympische Feuer wird 2028 in Wien nicht entzündet – nicht von Häupl, aber auch von niemand anderem sonst“ (kurier.at 10.3.2013).

Wolfgang Winheim im Kurier: „Die Wiener haben mit deutlicher Mehrheit gegen eine Olympia-Kandidatur für die Sommerspiele 2028 gestimmt. War es ein Volksentscheid gegen Hochstapelei, verdient er Applaus“ (Winheim 11.3.2013).

Johann Skocek titelte in der taz: „Einsames Stadtoberhäupl“  und schrieb dazu: „Die Wiener lassen sich nicht einmal mehr von ihrem eigenen Bürgerneister für dumm verkaufen… Denn die gesamte Aktion war eine Verhöhnung der direkten Demokratie: die Wiener Stadtbürokratie hielt es vor der Volksbefragung nicht einmal der Mühe wert, die Stimmbürger über die Kosten einer Olympiabewerbung zu informieren. Spekulationen schwankten zwischen zehn und 100 Millionen. Die Kosten der Spiele selbst betrugen in London 2012 angeblich mindestens 13 Milliarden Euro. Das ist rund ein Fünftel der österreichischen Staatsausgaben 2012“ (Skocek 3.2013).

Reinhard Göweil in der Wiener Zeitung: „Eine positive Interpretation auf das Ergebnis der Befragung lautet daher: Die Skandale der Vergangenheit haben die Wiener misstrauisch gemacht (das fällt ihnen eh leicht). Da der prototypische Wiener natürlich davon ausgegangen wäre, dass die Bewerbung erfolgreich sein würde, wären die veranschlagten Kosten für die Großprojekte locker verdoppelt worden – siehe Flughafen“ (Göweil 12.3.2013).

Oliver Fritsch schrieb dazu in der Zeit: „Stellen Sie sich vor, Sie geben eine Party. Eine richtig teure. Eine, die sie sich verdient haben. Doch es gibt ein Problem: Die Party steht und fällt mit diesem einen Gast, seinetwegen kommen alle. Er verlangt nur das Beste, ein großes Festzelt etwa, das sie danach nie wieder brauchen werden, und für das Sie sogar ein paar Ihrer Gartenbäumchen fällen müssen. Die Party wird teuer, wie teuer, das werden Sie erst am Ende wissen. Und Ihr Gast feierte schon anderswo, mit Leuten, mit denen Sie sich nie blicken lassen würden. Würden Sie sich darauf einlassen?

Die Bürger Wiens und die des Schweizer Kantons Graubünden haben diese Frage mit Nein beantwortet. Sie haben keine Lust auf das große Fest namens Olympische Spiele“ (Fritsch 13.3.2013).

Fazit
Graubünden 2022 und Wien 2028 stimmten mit Nein danke. Schaun wir mal, was Oslo 2022 und München 2022 so anstellen…

Quellen:
Fernsebner, Bettina, Bei Volksbefragung zeichnet sich Nein zu Olympia ab, in derstandard.at 10.3.2013
Fritsch, Oliver, Olympische Spiele, bloß nicht! in zeit.de 13.3.2013
„Für mich ist die Olympia-Frage erledigt, in wienerzeitung.at 12.3.2013
Gebhard, Josef, Krause, Gerhard, Salkewski, Irina, Will es Wien wirklich wissen? in kurier.at 11.2.2013
Göweil, Reinhard, Wiener Charme, in wienerzeitung.at 12.3.2013
Große Chance – viele Fragezeichen, in sport.orf 7.3.2013
Kein Interesse an Sommerspielen, in sport.orf.at 12.3.2013
Klares Nein zu Olympia zeichnet sich ab, in lkurier.at 10.3.2013
Krause, Gerhard, Segen für Wien oder Geldverbrennung? in kurier.at 12.2.2013
Stuhlpfarrer, Martin, Volksbefragung zu Olympia 20928: Wien soll zweimal abstimmen, in diepresse.com 12.2.2013
Neumann, Fritz, Wenn Wien die Weichen stellt, weitet sich Olympia-Frage aus, in derstandard.at. 6.3.2013
Skocek, Johann, Einsames Stadtoberhäupl, in taz.de 12.3.2013
Sportlicher Ehrgeiz oder Utopie, in be24.at 8.3.2013
Team1012.at, Olympische Spiele in Wien? 4.3.2013
Trummer, Paul, Olympia fällt auch österreichweit durch, in kurier.at 12.3.2013
Vorläufiges Ergebnis der Wiener Volksbefragung, wien.gv.at 12.3.2013
Weber, René, Schmutz und Bauruinen als Zeitzeugen der Olympischen Spiele 2004, in suedostschweiz.ch 17.2.20
Wien will’s wissen – oder doch nicht? in nzz.ch 8.3.2013
Wiener Bürger lehnen Olympia-Bewerbung ab, in spiegelonline 12.3.2013
Winheim, Wolfgang, Olympia nein, Bewegung ja, in kurier.at 11.3.2013

Mrz 032013
 
Zuletzt geändert am 09.03.2013 @ 17:50

Das Ergebnis vom 3.3.2013:
Zur Erinnerung: Das Kantonsparlament hatte sich mit 100:16 Stimmen für die Bewerbung Graubünden 2022 ausgesprochen.
Die Graubündner Bevölkerung lehnte dann am 3.3.2013 mit 52,7 Prozent (41.758 zu 37.540) die Kandidatur 2022 ab. Die geplanten Austragungsorte Davos (2652 Ja, 2067 Nein) und St. Moritz (1062 Ja, 679 Nein) stimmten mit „Ja“ (Graubünden lehnt Olympia-Kandidatur ab, in spiegelonline 3.3.2013). Die Wahlbeteiligung lag bei 59,1 Prozent (Bündner sagen Nein zu Olympia, in nzz.ch 3.3.2013; 52,7 Prozent sagen Nein zu Olympischen Winterspielen in Graubünden, in suedostschweiz.ch 3.3.2013).
Zwar wurde Graubünden 2022 in St. Moritz und Davos (erstaunlicherweise) angenommen; aber z.B. die Kantonshauptstadt Chur sagte mit fast 60  Prozent ab (Burgener, Samuel, Kistner, Thomas, Das Volk sagt “Nein”, in SZ 4.3.2013). Swiss-Olympic-Präsident Jörg Schild äußerte zum Ergebnis, dass “Olympia in den nächsten 20 Jahren kein Thema ist” (Burgener, Samuel, Keine Lust auf Gigantismus, in SZ 5.3.2013).
Soll man das glauben? Andernteils wird sich im Jahr 2032 der Klimawandel noch mehr auswirken. Wenn es sie noch gibt, würden die Olympischen Spiele nichtsdestotrotz noch gigantischer sein – wie der Profit des IOC. Und die Kosten – und das Defizit – würden entsprechend weitersteigen.

Wem die 52,7 Prozent Gegnerstimmen wenig vorkommen, kurz eine Lageschilderung:
Es blieb den Gegnern aufgrund der übermächtigen Situation der Befürworter nur übrig, sich auf die Situation David gegen Goliath einzulassen und auf die völlig ungeklärte finanzielle Situation und die nebulöse endgültige Bewerbung selbst hinzuweisen. Die Gegner hatten ein offengelegtes Budget von rund 76.000 Franken; die Befürworter ein Budget von offiziell 5,6 Millionen Franken, abgesehen von weiteren Geldern der Wirtschaft und verdeckten Staatsleistungen. Die Materialschlacht war zu erwarten gewesen. Die Befürworter organisierten 150 Veranstaltungen im Kanton, die Gegner eine. Der Schweizer Tagesanzeiger sprach von „einer hochprofessionellen Informationsmaschine“.
Der mächtige Ringier-Verlag stand hinter der Bewerbung. Der Schweizer Bundespräsident (und Sportminister) Ueli Maurer besuchte mindestens zehn Mal den Kanton Graubünden und gewährte im Alleingang die vom IOC geforderte unbegrenzte Defizit-Garantie; der Bundesrat unterstützte nachträglich den IOC-Lobbyisten Maurer.
Wer naiv für die Befragung der Bevölkerung in Sachen Olympia-Kandidatur (zum Beispiel München 2022) als „demokratisch“ eintritt, sollte sich die tatsächlichen Machtverhältnisse vor Augen führen.

Kommentare:

Zur Erinnerung an die Bewerbung vom Kanton Graubünden 1988, die von rund 76 Prozent der Bevölkerung abgelehnt wurde: “In aller Schlichtheit: eine Beerdigung ersten Ranges. Das Ergebnis erstaunt nicht in seinem Ausgang, aber in seiner Heftigkeit und seinem Ausmaß. Da mag man verschiedenes als Gründe angeben, aber nehmen wir es doch zum Nennwert: dort, wo das Volk etwas mitzusagen hat, ist Olympia tot; Spektakel, mehr nicht…” (Lebrument, Hanspeter, Olympia ade! in Bündner Zeitung 3.3.1980; Hervorhebung WZ).

René Zeller, Bedenken statt Begeisterung
, in nzz.ch 3.3.2013: „Die Bevölkerung des Bergkantons war an der Urne nicht in Festlaune. Die Botschaft, dass das Projekt Olympia dem Bündnerland neue Perspektiven eröffnen könne, verfing nicht. Die Bedenken haben überwogen. Das direktdemokratische Stoppsignal lässt, so schmerzlich es für eidgenössische Olympioniken sein mag, eindeutige Rückschlüsse zu. Im Kleinstaat Schweiz besteht kaum noch Spielraum für grosse Würfe. Gigantismus ist nicht nur suspekt, wenn es um Managerlöhne geht… Olympia überfordert einzelne Kantone. Der finanzielle und logistische Kraftakt bedingt einen freundeidgenössischen Schulterschluss. Dieser Aspekt wurde vernachlässigt. Daran tragen Sportminister Ueli Maurer und seine Entourage Mitschuld. Als sich in Bundesbern die kritischen Stimmen mehrten, war es zu spät. Wer spricht schon gerne eine Defizitgarantie für ein potenzielles Fass ohne Boden?“

Stefan Häne, Triumph der Vernunft, in tagesanzeiger.ch 3.3.2013: „Das Nein ist nicht nur eine schwere Niederlage für das Organisationskomitee um Gian Gilli, sondern auch für die Bündner Regierung, welche die Spiele zur Schicksalsfrage für den Kanton hochstilisiert hat. Grosser Verlierer ist auch Ueli Maurer, der sich als Bundespräsident und Sportminister in einen kantonalen Abstimmungskampf eingemischt und Olympia als nachhaltiges Entwicklungsprojekt für die Schweiz verkauft hat. Von dieser Propagandawalze hat sich die Mehrheit der Bündner nicht überfahren lassen. Die Vernunft hat über die Verführung obsiegt. Zum Glück – für die ganze Schweiz. Explodierende Kosten, Schuldenberge, Bauruinen, Umweltschäden: Diese Risiken blühen dem Land nun nicht.“

Silva Semadeni, SP-Nationalrätin, Präsidentin Komitee Olympiakritisches Graubünden: „Das Bündnervolk hat Mut und Pragmatismus bewiesen“ (Burgener, Samuel, Keine Lust auf Gigantismus, in SZ 5.3.2013). – „Nun können wir unsere Stärken ohne Diktat von außen weiterentwickeln“ (Bündner sagen Olympi-ade, in suedostschwez.ch 4.3.2013).
Jon Pult, SP-Präsident Graubünden: „Die notwendige Erneuerung der Infrastruktur muss stattfinden“ (Ebenda).

Peter Jankovsky, Olympia bleibt ein Traum, in nzz.ch 4.3.2013: „Bemerkenswert findet Semadeni, dass die letzte Abstimmungsprognose viele kritische Frauenstimmen erwähnte. Wie schon die Alpeninitiative gezeigt habe, seien Frauen ökologischer eingestellt; die Winterspiele hätten zu gigantisch gewirkt, um nachhaltig sein zu können. Zudem hätten viele Frauen wegen der 300 Olympia-Millionen schmerzhafte Sparmassnahmen im Sozialbereich befürchtet. Gemäss Semadeni ist nun die Chance für nachhaltigen Tourismus gekommen. Besagte Millionen könnten für die Förderung eines Ganzjahrestourismus zur Verfügung stehen…  Die Botschaft der Kantonsregierung wiederum besteht aus Bedauern. ‚Es wäre die Chance für Graubünden und die Schweiz gewesen, sich mit Winterspielen eigener Ausprägung international beweisen zu können‘, sagte BDP-Regierungspräsident Hansjörg Trachsel enttäuscht. Das Nein zu Olympia erklärt er damit, dass die ‚Angst-Argumente‘ in den nichttouristischen Gebieten überwogen hätten… Olympia ist nicht nur im Bündnerland vom Tisch: Dass in der Schweiz in absehbarer Zeit ähnliche Projekte entstehen, ist unwahrscheinlich. Olympia bleibt noch lange ein Traum.“

René Hofmann, Olympia, nein danke, in SZ 5.3.2013: „Das Nein im Gebirge ist ein mächtiges sportpolitisches Wetterleuchten. Dessen Licht lässt vieles, was hier schiefläuft, in scharfen Kontrasten hervortreten… Keine andere Nation ist ähnlich eng mit den Mächtigen des Sports verbandelt. Dass nun selbst die Schweizer „ Olympia , nein danke!“ sagen, heißt deshalb etwas. Es signalisiert den Lenkern des Sportgeschäfts, dass sie schnell umsteuern sollten… Es ist vor allem ein ungutes Gefühl: Die Einnahmen wandern zu den Verbänden, die Kosten müssen die Bürger des Ausrichterlandes schultern. Wie viel Abneigung ein solches Szenario – Gewinne werden privatisiert, Verluste verstaatlicht – hervorruft, mussten in der Schuldenkrise die Banken erkennen. Nun deutet sich für die Welt des Sport Ähnliches an… Das Thema Olympia ist zur Gefahr geworden. Ein Renner ist es fast nur noch dort, wo es nicht wirklich demokratisch zugeht.“

——————————————————————————————————-Aus der PM Olympiakritisches Komitee Graubünden: „Mit grosser Freude nimmt das Komitee Olympiakritisches Graubünden den weisen Entscheid der Bündner Stimmbevölkerung zur Kenntnis, sich nicht in ein unkalkulierbares Olympiaabenteuer zu stürzen. Bündnerinnen und Bündner haben klar gezeigt, dass sie auch den zukünftigen Generationen gute Lebensbedingungen garantieren wollen: wirtschaftlich schuldenfrei, die Landschaft als Kapital erhalten und weiterhin Geld für die Unterstützung von nachhaltigem Tourismus, Bildung und Kultur zur Verfügung zu haben.“
Zur Pressemitteilung vom Olympiakritischen Komitee Graubünden: hier.

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Pressemitteilung vom Netzwerk Nolympia, Sonntag, 3.3.2013

Glückwunsch in die Schweiz

Einmal wieder denken die Bürger langfristiger als ihre politischen Vertreter.
Heute, am Sonntag den 3.3.13, haben die Bürger des Kantons Graubünden in der Schweiz entschieden: Olympische Spiele 2022 nicht mit uns! Wir können ihnen zu dieser Entscheidung nur von ganzem Herzen gratulieren. Denn erneut wurde mit dieser Entscheidung vorgeführt, was inzwischen schon keinen mehr überrascht : Die zwangsbeglückten Einwohner der auserkorenen Olympiastätten denken sowohl ökologisch als auch finanziell nachhaltiger als ihre politischen Vertreter. Nach dem NEIN in der Schweiz wird klar: Mit den geltenden Reglementen und Vertragsbedingungen des IOC (International Olympic Committee) ist es nicht mehr zu verantworten, Olympische Winterspiele in den Alpen durchzuführen.
Ludwig Hartmann, grüner MdL aus Bayern und einer der Sprecher des Bündnisses NOlympia zeigt sich angesichts des Abstimmungsergebnisses erfreut: „Ich beglückwünsche die Graubündner zu ihrer weitsichtigen Entscheidung. Eine gut zweiwöchige Party für Sportfunktionäre und Spitzensportler rechtfertigt weder die vom IOC aufgezwungenen finanziellen Lasten, noch die massiven Eingriffe in die sensible Alpenlandschaft. Gestern wurde diesem Umweltvandalismus in den Schweizer Alpen eine klare Absage erteilt. Die Bürgerinnen und Bürger haben durchschaut, welche Lasten Olympische Winterspiele bringen. Bleibt zu hoffen, dass München nach dem Ausscheiden der Schweiz als möglichem Austragungsort jetzt nicht in einen neuen Bewerbungswahn für die Winterspiele 2022 verfällt.
Insbesondere in Zeiten des Klimawandels sind Olympische Winterspiele in ihrer heutigen Dimension, die alle vier Jahre in einem neuen Gebirgsort riesige Eingriffe erfordern, ein Anachronismus. Bevor das IOC nicht grundlegende Reformen seiner Vertragsgestaltung und Ausrichtungsmodalitäten vornimmt, sollte jedes Land eine Bewerbung nicht nur genauestens überdenken – sondern gleich bleiben lassen.“
Die Frage nach „kleinen Spielen“ mit möglichst geringen finanziellen und ökologischen Folgen für die Region interessiert das IOC überhaupt nicht. Der Aspekt der Nachhaltigkeit einer Bewerbung hatte noch nie einen Einfluss auf dessen Entscheidung. Nicht ein einziges Mal konnte eine Bewerbung damit punkten, dass sie Kosten- und Umweltrisiken gering hält. Im Gegenteil: Der Gigantismus kennt keine Grenzen, die Kosten steigen, die Ausbauten geraten ins Uferlose. Das zeigt sich aktuell an den Austragungsorten in Sotschi 2014 (gegen Salzburg) und Pyeongchang 2018 (gegen München).  Ein weiterer Grund, vor einer erneuten Bewerbung Münchens zu warnen.
Axel Doering, Initiator des Bürgerbegehrens gegen eine Olympia-Bewerbung 2011 in Garmisch findet eindringliche Worte: „Langsam sollte auch das IOC begreifen, dass eine Beibehaltung seiner bisherigen, intranparenten Strukturen nicht mehr mit dem Willen der Bevölkerung vereinbar ist. Wenn sogar eine Bewerbung in der Schweiz – dem Land, in dem das IOC seinen Sitz hat – daran scheitert, dass die betroffene Bevölkerung vor Ort sich nicht auf die Knebelveträge mit dem IOC einlassen will, sollte auch diese Organisation ins Grübels kommen.“

www.nolympia.de
http://nolympia2018.ludwighartmann.de/

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Pressemitteilung von Nolympia Garmisch-Partenkirchen, 3.3.2013
Axel Doering, Partnachstraße 28, 82467 Garmisch-Partenkirchen, Telefon 08821 – 3117

Graubünden sagt NEIN zur Bewerbung für Olympische Winterspiele 2022
Keine Spiele in München und Garmisch-Partenkirchen!

Mit Genugtuung nehmen die zahlreichen Olympiagegner in Garmisch- Partenkirchen die Ablehnung der Graubündner Olympiabewerbung durch die Bürger zur Kenntnis und gratulieren den Olympiagegnern. Graubünden hat NEIN gesagt, und der Argumentation der Schweizer Olympiagegner schließen wir uns an: Mit den geltenden Reglementen und Vertragsbedingungen des IOC (International Olympic Committee) ist es nicht mehr verantwortbar, Olympische Winterspiele in den Alpen durchzuführen. Die Auswirkungen auf Mensch und Umwelt sind so nicht mehr tragbar. Dem wirtschaftlichen Nutzen für wenige stehen hohe Schulden und gravierende Umweltbelastungen für die Allgemeinheit gegenüber.

Ludwig Hartmann, einer der Sprecher des Netzwerkes NOlympia – der Zusammenschluss der Olympiagegner in Bayern – sagt dazu:  „Die Bürgerinnen und Bürger haben durchschaut, welche Lasten Olympische Winterspiele bringen. Bleibt zu hoffen, dass München nach dem Ausscheiden der Schweiz jetzt nicht in einen neuen Bewerbungswahn für die Winterspiele 2022 verfällt.“

Bereits die Bewerbung „München 2018“ wurde von den Bewerbern nur schön geredet. Sie hatte besonders in dem „Freilandteil“ in Garmisch-Partenkirchen eine Fülle von Schwachstellen und ungelösten Problemen. So gab es bis zuletzt keine Einigung mit den Grundbesitzern, deren Grundstücke benötigt wurden. Der Platz für das Mediencenter und das Olympische Dorf war eine ungeeignete Notlösung und für Langlauf und Biathlon mit Loipen und Stadien konnte man kaum einen ungeeigneteren Platz als Schwaiganger im Alpenvorland finden. Aber auch die Skipisten müssten massiv umgebaut und noch weiter mit Schneekanonen aufgerüstet werden. Bereits bei der Ski-Weltmeisterschaft 2011 konnten die letzten Wettbewerbe wegen der warmen Witterung nur mit Mühe durchgeführt werden.

Im Jahr 2022 – in 10 Jahren – ist der Klimawandel noch deutlich weiter fortgeschritten, und die vom IOC geforderte Schneesicherheit ist mit heutigen Mitteln und Anlagen nicht mehr sicherzustellen.

Olympische Winterspiele bedeuten in jedem Fall: Neue und massive Eingriffe in Natur und Umwelt. Die Knebelverträge des IOC machen die Spiele immer mehr zum finanziellen Risiko. Die Zunahme der Wettbewerbe und die überzogenen Forderungen der Funktionäre verteuern die Spiele gegenüber den Planungen und Versprechungen immer mehr, wie Sotschi und Pyeongchang eindrucksvoll belegen. Olympische Winterspiele sind für die Alpen zu groß und damit undurchführbar. Sie hinterlassen zerstörte Orte, massive Verschuldung, zu große Anlagen und Bauten, die nicht nachhaltig genutzt werden können und erhöhte Lebenshaltungskosten für die ansässige Bevölkerung. Gerade junge Menschen haben wegen der steigenden Grundstücks- und Mietpreise bereits heute Probleme, in Garmisch-Partenkirchen zu leben. Sobald ein Zuschlag für „München 20022“ erteilt wäre, reagieren nur noch Geschäftemacher, Funktionäre und das IOC. Die ansässige Bevölkerung hat dann kein Mitspracherecht mehr.

Sollten sich die Bewerber von „München 2018“ erneut ins Abenteuer „München 2022“ stürzen wollen, wird Nolympia in Garmisch-Partenkirchen mit seinen Verbündeten in München wiederum alles tun, um unseren Ort vor dieser überzogenen Veranstaltung zu bewahren.

www.nolympia.de
http://nolympia2018.ludwighartmann.de/

Feb 262013
 
Zuletzt geändert am 14.03.2013 @ 17:44

26.2.2013, aktualisiert 4.3.2013

Ein Teil der IOC-Knebelverträge: die Defizitgarantie
Das IOC verlangt von jedem Bewerber um Olympische Spiele eine unbegrenzte Defizitgarantie. In der „Olympischen Charta“ steht: „Das NOK, das OK (Organisationskomitee) und die Gastgeberstadt haften gesamtschuldnerisch für alle Verpflichtungen … mit Ausnahme der finanziellen Haftung für Ausrichtung und Durchführung dieser Spiele, die vollständig die Gastgeberstadt und das OK gesamtschuldnerisch trifft … Das IOC übernimmt keinerlei finanzielle Haftung hinsichtlich Ausrichtung und Durchführung der Olympischen Spiele“ (Olympische Charta S. 38; Hervorhebung WZ).
Vergleiche im Kritischen Olympischen Lexikon: Olympische Charta

Die Diskussion darüber ist umso merkwürdiger, da das IOC mit dem Verkauf von TV-Rechten und Sponsorengeldern Milliardengewinne macht und gleichzeitig die Austragungsländer dem IOC garantieren müssen, für die bei ihnen anfallenden Milliardenverluste in unbegrenzter Höhe zu haften.
Deshalb führt der Begriff Defizit in die Absurdität: „Dabei sind die Spiele ein profitables Milliarden-Business“ (Ramseyer 7.2.2013). Denn in der Periode 2009 bis 2013 hat das IOC nach eigenen Angaben fast fünf Milliarden Dollar eingenommen: “Von ‘Defizit’ weit und breit keine Spur” (Ebenda; zum “Olympic Marketing Fact File 2012″ hier, siehe S. 6). Dazu werden dem IOC die Milliarden an Fernsehrechten, Sponsoren und anderen Quellen steuerfrei gewährt.
Dieser Sachverhalt soll am Beispiel Graubünden 2022 nachvollzogen werden.

Vorgeschichte
Am 5.9.2012 sprach sich der Schweizer Bundesrat dafür aus, für die Bewerbung “Graubünden 2022″ eine Defizitgarantie über eine Milliarde Franken für die Kosten der Spiele selbst zu übernehmen. Gleichzeitig berichtet der Sportminister Ueli Maurer (SVP), dass rund 300 Millionen nach heutiger Rechnung ungedeckt blieben (Jürgensen 5.9.2012).
“Bei der Defizitgarantie für die Olympischen Spiele 2022 in Graubünden hatten die Vernehmlassungsteilnehmer gerade einmal 10 Tage Zeit, um ihre Meinung kundzutun” (nzz.ch 15.11.2012). Dagegen protestierte die Staatschreiberkonferenz am 1.11.2012 bei Bundeskanzlerin Corina Casanova. Die größten Parteien bereiten einen schriftlichen Protest beim Bundesrat vor (tagesanzeiger.ch 14.11.2012).

Schweizer Bundespräsident als IOC-Lobbyist
Der Schweizer Bundespräsident und Sportminister Ueli Maurer (SVP) war von Anfang an ein glühender Verfechter der Bewerbung Graubünden 2022. “Mindestens elfmal ist Maurer in den letzten Wochen im Kanton Graubünden aufgetreten… Auch Maurers Departement VBS hilft dem Verein Graubünden 2022. Es zahlt ihm rund 1,3 Millionen Franken” (Hanimann, Häni 14.2.2013). Alt-Nationalrat Andrea Hämmerle kritisierte, “dass sich ein Bundesrat erlaubt, zehnmal nach Graubünden zu kommen, um vor einem kantonalen Urnengang für ein Ja des Stimmvolks zu werben. Hat Ueli Maurer in Bern nichts zu tun?” (Handschin 20.2.2013).
Irgendwann kam er nicht mehr um das Problem der Defizitgarantie herum.Die Frage nach einer Defizitgarantie für Olympische Spiele 2022 in Graubünden hätten Ueli Maurer und die Bündner Promotoren am liebsten unbeantwortet gelassen. Mit den Bündner Olympiapromotoren kam Maurer überein, dass der Bund die finanzielle Verantwortung für die Spiele übernimmt. Nur an die große Glocke hängen wollte er dies nicht” (Bisculm 6.2.2013; Hervorhebung WZ).

Maurer trat dann Anfang Februar 2013 für die vom IOC geforderte unbeschränkte Defizitgarantie ein. „Zusätzlich zum bereits budgetierten Verpflichtungskredit von 1 Milliarde Franken ist Maurer bereit, dem Internationalen Olympischen Komitee (IOK) eine unbeschränkte Defizitgarantie einzuräumen” (Städler 5.2.2013; Hervorhebung WZ). Denn der Kanton Graubünden sowie St. Moritz und Davos sind nicht in der Lage, diese unbegrenzte Bürgschaft abzugeben, „weil die Abstimmungsvorlage eine kantonale Defizitgarantie explizit ausschließt” (Bisculm 6.2.2013).
Maurer überschritt damit nach Überzeugung von Schweizer Politikern seine Kompetenzen. „Im Bundesbern kommt Maurers Plan erwartungsgemäß nicht überall gut an” (Bisculm 6.2.2013).
Die Grüne Partei Schweiz erwägt bereits, bezüglich dieser „unbegrenzten Bürgschaft” ein Referendum durchführen zu lassen. Schützenhilfe könnten die Grünen von der SVP erhalten. Nationalrat Roland Büchel (SVP): “Der Bundesrat handelt undemokratisch und unschweizerisch, wenn er verhindern will, dass die Schweizer Bürger die Möglichkeit erhalten, über die Milliardenausgabe abzustimmen. Schließlich sind wir nicht in Putin-Russland” (Ebenda).
Maurer fürchtet natürlich ein Referendum bezüglich der Defizit-Milliarde und behauptete: „Wir kennen kein Finanzreferendum” (tagesanzeiger 7.2.2013). Gleichzeitig verlautbarte das Sportdepartment VBS: „Der Bund würde ein Defizit übernehmen, aber es wird kein Defizit geben” (Landolt 7.2.2013).

Bundesrat folgt Maurer
Der Schweizer Bundesrat ging am 13.2.2013 vor dem IOC in die Knie: Er übernahm die vom IOC geforderte unbegrenzte staatliche Garantie über ein Defizit in unbeschränkter Höhe, mit der das IOC von allen Kosten befreit wird.
Damit hat der Bundesrat beschlossen, dass das IOC mit den Milliardengewinnen steuerfrei abziehen darf –  und dass die Schweizer Bürger die olympische Zeche bezahlen.

Nationalrätin Silva Semadeni, die auch Präsidentin des Komitees Olympiakritisches Graubünden ist, sagte: “Der Bundesrat kann keine Defizitgarantie geben. Darüber entscheidet das Parlament” (Hanimann, Häne 14.2.2013).

Finanzkommission des Nationalrates dagegen
Ende Januar 2013 kamen die ersten Warnungen: „Wenn der Bund keine Defizitgarantie für Olympische Spiele in Graubünden abgibt, bedeutet dies Abbruch der Übung. Das sagt Finanzdirektorin Barbara Janom Steiner… Der Kanton mit seinen lediglich 200.000 Einwohnern sei nicht in der Lage, eine solche Garantie abzugeben. Dem Kanton würde auch die Legitimation dazu fehlen” (suedostschweiz.ch 31.1.2013; Frau Steiner ist Vorsteherin des Departements für Finanzen und Gemeinden des Kantons Graubünden).
Falls am 3.3.2013 bei der Abstimmung über Graubünden 2022 keine Absage erfolgt, wird die Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK) darüber debattieren. Laut einer Umfrage des Tagesanzeiger ist unter den 25 Mitgliedern eine Mehrheit von 13 Mitgliedern gegen die unbeschränkte Defizitgarantie ausgemacht (Städler 5.2.2013). Die Finanzkommission des Nationalrates hatte ein “unverrückbares Kostendach von 1 Milliarde” fixiert (PM SP 13.2.2013).
Die Finanzkommission hatte in ihrer Medienmitteilung unmissverständlich geschrieben: „Ein entsprechender Hinweis, dass der Bund keine Defizitgarantie übernimmt und ein allfälliges Defizit vom Kanton Graubünden getragen werden müsste, ist explizit in den Bundesbeschluss aufzunehmen” (Gysi 6.2.2013)
Zur Ablehnung der unbeschränkten Defizitgarantie durch die Finanzkommission äußerte Maurer: “Ich vertrete die Haltung des Bundesrates, nicht jene der Finanzkommission. Und wir müssen nun einmal dem Internationalen Olympischen Komitee eine Garantie geben, wenn wir die Spiele durchführen wollen. Dies ist eine Bedingung. Aber wir haben das Budget im Griff. Es gibt fast nichts, das man nicht voraussehen kann” (Städler 7.2.2013; Hervorhebung WZ).
Ob Maurer das selbst glaubt? Die Spiele sind 2022, also in fast zehn Jahren. Da kommen noch viele neue Disziplinen und die Folgen des Klimawandels hinzu.
“Pirmon Schwander, Schwyzer SVP-Nationalrat und Präsident der Finanzkommission, zeigte sich entsprechend empört. Der Finanzkommission habe der Bundesrat ganz klar gesagt: eine Milliarde und keinen Franken mehr. ‘Es ist schlichtweg skandalös, dass er jetzt etwas anderes kommuniziert’, sagte Schwander gestern auf Anfrage” (Tibolla 14.2.2013). Kommissionskollegin Regula Rytz (Co-Präsidentin der Grünen) äußerte: “Das Vorgehen ist nicht transparent und aus Sicht der Grünen klassische Salamitaktik” (Ebenda). Die FDP Schweiz sprach von einem “Blankoscheck”, den sie nicht unterstützen könne (Ebenda).
“Das Pro-Komitee Graubünden 2022 hob gestern die ‘große Bedeutung’ des Entscheids hervor” (Ebenda).

Weitere Kritik
Nationalrätin Barbara Gysi (SP) stieß sauer auf, „dass die Einnahmen mehrheitlich ans IOC fließen… Die Ausgaben in Milliardenhöhe werden von der öffentlichen Hand getragen, die Einnahmen gehen aber ans IOC, das seinerseits nicht bereit ist, sich an einem Defizit zu beteiligen, sondern von der öffentlichen Hand eine Defizitgarantie verlangt” (Landolt 7.2.2013). Gysi wies völlig zurecht auf die folgende Tatsache hin: “Die schlimmsten Budgetlöcher treten in der letzten Phase ein, wenn die perfekte Durchführung gewährleistet sein muss – in diesem Fall also um 2022″ (PM SP 13.2.2013). Die SP schrieb in einer PM: “Mit der Kehrtwende greift der Bundesrat in den Abstimmungskampf in Graubünden ein und unterstützt das Pro-Komitee mit einer rechtlich fragwürdigen Aussage zur Defizitgarantie. Das Parlament hat das letzte Wort… Die SP fordert darüber hinaus, dass ein Bundesbeitrag einer Volksabstimmung unterstellt würde” (SP PM 13.2.2013).
Auch die Grüne Partei lehnte den Bundesbeitrag ab und sprach sich für den Fall der Zustimmung am 3.3.2013 ebenfalls für eine Volksabstimmung zum Bundesbeitrag aus. “Diese unbeschränkte Defizitgarantie hat er (der Bundesrat; WZ) bislang dem Parlament verschwiegen” (PM 13.2.2013).
„Bundespräsident Ueli Maurer wurde von den Olympiagegnern kritisiert, weil er im Bündner Abstimmungskampf versicherte, der Bund würde ein allfälliges Defizit übernehmen, obschon der Bundesrat dies nicht explizit beschlossen hatte. Nun stärkt die Regierung Maurer den Rücken, indem sie festhält, dass der Bund diese Verantwortung übernehmen müsste. Ob diese Position jedoch auch im Parlament eine Mehrheit finden wird, ist noch offen” (nzz.ch 13.2.2013).

Verschiebung der Abstimmung
Die Sitzung der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK) hätte am 4.3.2013, gerade einmal einen Tag nach der Abstimmung in Graubünden, die finanzielle Unterstützung für Graubünden 2022 abzustimmen gehabt: “in einer Hauruck-Übung” (www.luzernerzeitung.ch 17.2.2013). Nun beantragte der Luzerner SVP-Nationalrat Felix Müri eine Verschiebung: “Es kann nicht sein, dass  das IOC alle Einnahmen einstreicht und der Steuerzahler auf den Kosten sitzenbleibt” (Faki 17.2.2013). SVP, SP und die Grünen unterstützten diesen Antrag: Das ergab eine Mehrheit (Ebenda).
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Fazit einer Studie der Universität Oxford vom Juni 2012:
“In der Vergangenheit haben die Olympischen Spiele hohe Defizite eingefahren… Gemäss einer neuen Studie der britischen Universität Oxford ist den Olympischen Spielen eines gemeinsam: die Budgetüberschreitung. Gemäss der Studie konnten in den letzten 50 Jahren keine Sommer- und keine Winterspiele ihr ursprüngliches Budget einhalten. Im Durchschnitt sind die Endkosten 179 Prozent höher als ursprünglich angenommen. ‘Eine Olympiade ist für eine Stadt oder ein Land eines der finanziell riskantesten Projekte überhaupt” (“Olympia ist ein riskantes Projekt”, in Die Südostschweiz 14.2.2013; Hervorhebung WZ. In Englisch: „For a city and nation to decide to put on the Olympic Games is to decide to take on one of the most financially risky types of megaprojects that exist.“) – „… in den Endstadien der Vorbereitung kann der Fokus schnell von Kostenkontrolle auf Ausführung um jeden Preis wechseln, was sich in beträchtlichen zusätzlichen Kostenüberschreitungen auswirkt“ (Ebenda; „… in the final stages of preparation the focus can quickly shift from cost control to delivery at any cost, resultung in significant additional overruns“. Zur Kurzfassung der Studie hier).
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Fazit zur Defizitgarantie: Schein und Wirklichkeit
1) Das Austragungsland (im Fall Graubünden 2022 die Schweiz) garantiert dem IOC, nach den Olympischen Spielen mit einigen Milliarden steuerfrei abzuziehen.
2) Das Austragungsland (in dem Fall die Schweiz) gibt dem IOC eine unbegrenzte Garantie, dass es die sicher entstehenden Defizite übernehmen wird.
3) Und: Das IOC garantiert dem Austragungsland, dass ein Defizit von mehreren Milliarden entstehen wird, das die Bevölkerung über Jahrzehnte abzahlen muss.

Nachtrag: Maurer lässt Druck ausüben
Der deutsche Sportjournalist Jens Weinreich wurde am 13.2.2013 vom Radio SFR zur Abstimmung in Graubünden interviewt. Weinreich äußerte unter anderem, dass teilweise bewusst „Lügen“ über die Kostenwahrheit verbreitet würden. Umgehend schrieb Maurers Kommunikationschef Peter Minder an die SRF-Redaktion und kritisierte die „schnoddrigen und teilweise unwidersprochenen tendenziösen Aussagen von Jens Weinreich“: „Wir verlangen, dass SRF diese Fehlleistungen in einer der nächsten Sendungen umgehend korrigietrt und einen ausgewiesenen neutralen Fachmann zu Wort kommen lässt“ (Renz 1.3.2013; ein Tag nach Weinreich war Swiss-Olympic-Präsident Jörg Schild interviewt worden!). Dazu meinte ein Insider: „Dass aber das Departement eines Bundesrates in einem derartigen Befehlston interveniere, sei außergewöhnlich“ (Ebenda). Kommentar von Slva Semadeni: „Die Befürworter haben auf verschiedene Medien einen unglaublichen Druck ausgeübt… Wir hoffen auf ein Nein. Dann vergessen wir alles“  (Ebenda).

Quellen:
Bisculm, Stefan, Bern legt Olympischen Spielen noch mehr Steine in den Weg, in suedostschweiz.ch 6.2.2013
Bundesrat betreibt Salamitaktik bei den Olympischen Spielen, PM Grüne Partei 13.2.2013
Bundesrat will Defizitgarantie für Olympia übernehmen, in nzz.ch 13.2.2013
Defizit-Garantie vors Volk: Grüne wollen mit SVP zusammenspannen, in tagesanzeiger 7.2.2013
Faki, Sermîn, Olympiaberatung verschiebt sich, in suedostschweiz.ch 17.2.2013
Gysi, Barbara, Olympische Winterspiele Graubünden 2022 – finanzpolitisches Glatteis und Pirouetten, in www.sp-ps.ch 6.2.2013
Handschin, Ueli, Hämmerle: “Graubünden ist im Ausnahmezustand”, in Die Südostschweiz 20.2.2013
Hanimann, Carlos, Häne, Ursula, Ueli Maurer fährt ins Durcheinandertal, in www.woz.ch 14.2.2013
Jürgensen, Nadine, Berner Startschuss für Olympia, in nzz.ch 5.9.2012
Keine Olympischen Spiele ohne Garantie, in suedostschweiz.ch 31.1.2013
Krummenacher, Jörg, Der Bund zahlt zwei Milliarden für Graubünden 2022, in nzz.ch 18.2.2013
Landolt, Christoph, Propaganda-Walze über dem Bündnerland, in Weltwoche 7.2.2013
London Olympics over Budget, www.sbs.ox.ac.uk 25.6.2012
Neue Kritik an Eilverfahren, in nzz.ch 15.11.2012
Olympia 2022: Bundesrat kuscht vor dem IOC, PM SP Schweiz 13.2.2013
“Olympia ist ein riskantes Projekt”, in Die Südostschweiz 14.2.2013
„Olympische Charta“, Fassung vom 7. Juli 2007, Übersetzung Prof. Christoph Vedder, Universität Augsburg, Prof. Manfred Lämmer, Deutsche Sporthochschule Köln
Parlament verschiebt Olympia-Entscheid, in www.luzernerzeitung.ch 17.2.2013
Ramseyer, Nikolaus, „Das Märchen von den Olympia-Defiziten”, in tageswoche.ch 7.2.2013
Renz, Fabian, Maurers Departement übt Druck auf SRF-Journalisten aus, in tagesazeiger.ch 1.3.2013
Städler, Iwan
– 13 zu 8 gegen unbeschränkte Olympia-Defizitgarantie, in tagesanzeiger.ch 5.2.2013
– „Es braucht etwas, das uns weckt”, in Tages-Anzeiger 7.2.2013
Steuergelder für Olympiakampagne, in tagesanzeiger.ch 14.11.2012
Tibolla, Rinaldo, Olympiamilliarde: Bundesrat untergräbt Kommissionsarbeit, in Die Südostschweiz 14.2.2013


Feb 222013
 
Zuletzt geändert am 28.05.2013 @ 18:02

22.2.2013

Hintergrundmaterial zu Schladming unter „Aktuelles“: Ein Ort wird zerstört

Viele Zitate stammen aus dem Beitrag von Franz Schandl „Österreich und der Skizirkus: Der alpine Größenwahn“ (diepresse.com 15.2.2013). Die Fotos sind von Wolfgang Zängl/Gesellschaft für ökologische Forschung. Sie entstanden am 18. und 19.2.2013, kurz nach dem Ende der Ski-WM in Schladming (4. bis 17.2.2013).
Matthäus Kattinger bezifferte in der Neuen Züricher Zeitung bei 400 Millionen Euro Kosten einen Anteil über 290 Millionen Euro durch Bund und Land:  “Allerdings ist der Haushalt  des Landes Steiermark bezüglich Ski-WM ein gut behütetes, jede Saldierung vermeidendes ‘Belastungs-Geheimnis’” (Kattinger, Matthäus, Schladming und die Illusion vom nachhaltigen Gästezustrom,  in nzz.ch 8.2.2013). Gebaut wurde auch eine 15 Meter hohe Zuschauertribüne, ein christliches Freizeithaus „Tauernhof Austria“, eine neue Polizeistation, dazu „einen neuen Bahnhof, ein Kongresszentrum für 2000 Personen, ein multifunktionales Sportzentrum, eine Umfahrungsstraße und verbesserte Zufahrten“ (Schwaiger, Rosemarie, Landschaftsflegel: Schladming erstickt in teuren Bausünden, in profil.at 21.1.2013).

Großbauten-Überblick/Panorama-Bilder von oben:


„Der alpine Größenwahn ist das stabilste Fundament des Glaubens an Österreich. Das Land ist zweifellos schwer abhängig. Was haben wir denn sonst noch? Der alpine Größenwahn mag ein psychischer Defekt sein, aber da so viele ihn haben, fallen eher jene auf, die von ihm nicht befallen sind.“ – „Dieser Patriotismus, obwohl ein industrielles Produkt, mimt die Unschuld vom Lande. Während es inzwischen verpönt ist, sich aggressiv zum Nationalismus zu bekennen, findet dieser im rot-weiß-roten Almauftrieb seine ideale und zeitgemäße Hardcore-Transformation. Flaggen und Uniformen, Kriegsbemalung und Werbespots, alles passt zusammen.“ Franz Schandl



Mitreden können die Sponsoren, wie zum Beispiel Audi: “Die feindliche Übernahme zeigt sich schon bei der Ortseinfahrt. Die beiden Skistrecken laufen ideal beinahe mitten in das Ortszentrum.
Obwohl sie selbst bei Dunkelheit im Flutlicht gut zu erkennen sind, überstrahlt der knallig rot beleuchtete Schriftzug eines Sponsors, der den Ort mit zahlreichen ausgestellten Limousinen in eine große Automobilausstellung verwandelt, das Bild. Schladming war gestern, heute ist es nur noch ‘Home of Quattro’“ (Winterfeldt, Jörg, Hang zur Übertreibung, in berliner-zeitung.de 9.2.2013).


 

„Spitzensportler werden als Pin-ups hergerichtet und ausgestellt. Frauen wie Männer. Da wird das Land ganz selig und sexy, da penetrieren wir die ganze Welt…“ Franz Schandl


„Der Präsidenten-Zipfel“ wird die Voest-Alpine-Glasgondel von ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel genannt.
„Der ältere Herr mit dem Skitour-Häuberl, der Herr Reichsschneeverweser, hat des Winters immer alles fest im Griff. Die Sportler, die Funktionäre, die Veranstalter, das Money und die Politik. Dem Wiener Bürgermeister ließ ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel erst kürzlich ausrichten, dass nicht Olympische Sommerspiele, sondern Winterspiele gefordert seien. Mal schauen, wie der Zuruf wirkt.“ Franz Schandl


„Fan-Arena und VIP-Zelt verhalten sich wie Mob und Snob. Ihr Band ist die Flagge und ihr Medium das Geld: Werden die einen abkassiert, kassieren die anderen ab. Sind die einen die Blöden, verdienen sich die anderen blöd. Blöd ist beides.“ Franz Schandl




Die Tenne:Direkt neben der Seilbahn gelegene Alkohol-Abfüllstation, in der 1500 Gäste Platz haben, eine “rustikalen Saufburg“ (Pfeil, Gerhard, Gebläse und Champagner, in Der Spiegel 6/4.2.2013).



Medal Plaza, Rathaus:


Weitere Zitate als Eindrücke vor Ort:
„Zum Glück waren die Bäume vor dem Rathaus alt und hätten eh ersetzt werden müssen.“
(Einwohnerin von Schladming).

„Wir haben viel erlebt in Schladming. Nun sind die WM vorbei. Nichts wie weg!“ (Geisser, Remo, Unvergessliche Ski-WM, in nzz.ch 18.2.2013).

Persönliche Beobachtung: Die Neubauten waren teuerst. Dagegen verrottet die bestehende Infrastruktur. So sind im Bereich Verkehr die Straßenbeläge löchrig, die Zebrastreifen kaum mehr zu erkennen, die gesamte Infrastruktur verschmudelt.

Kongresszentrum

Das Kongresszentrum für 2000 Personen hat 16,2 Millionen Euro gekostet. Es diente während der 14 Tage WM als Medienzentrum. Danach wird es nur noch mit den Kosten für den laufenden Betrieb die Gemeindekasse belasten.
„Es gibt kluge Leute, die sagen, das alles sei ein bis zwei Nummern zu groß für das kleine Schladming, all die Straßen, die Parkhäuser, das Kongresszentrum, alles Bauten, die vor allem die Illusionen blauäugiger Tourismusmanager widerspiegelten, deren Folgekosten aber in Wahrheit den Ort irgendwann finanziell auffressen würden“ (Steinle, Bernd, Und der Präsident spielt sein Wunschkonzert, in faz.net 11.2.2013).

Alte Polizeistation


Abrissgefährdet, da direkt neben der Fanmeile gelegen.

Neue Polizeistation

Quadratisch und praktisch.

 

Und weiter geht’s! Neue Pläne:

Nachtrag: Schladming rechnet nicht ab. Die monumentale Ski-WM 2013 in Schladming (400 Millionen Euro Gesamtkosten) wird im Vorlauf und im Nachhinein heruntergerechnet. “Offiziell ist stets von 140 Millionen Euro vom Land und 50 Millionen des Bundes die Rede” (Rossacher, Thomas, Die Geldflüsse unter dem Dachstein, in kleinezeitung.at 24.4.2013). Davon gelten 63 Millionen Euro als “WM-relevant”. Schladming erhielt für das “Mediacenter” 10,7 Millionen Euro vom Land Steiermark (Rossacher 24.4.2013). Nachfragen wurden vom Landeshauptmannstellvertreter Hermann Schützenhofer (ÖVP) so abgeschmettert: “Es gibt nichts aufzudecken” (Kosten der Ski-WM und mehr im Visier des Landtages, in kleinezeitung.at 14.5.2013). “Der Frage nach geschwärzten Verträgen, die der ÖSV der Stadt Schladming teilweise vorgelegt haben soll, wich Schützenhöfer in seiner Antwort aus: Die Zusammenarbeit habe hervorragend funktioniert, auch wenn sich der ÖSV nicht so genau hineinschauen habe lassen. Der ÖSV-Organisationsdirektor der Ski-WM, Reinhold Zitz, erklärte zu diesem Verdacht auf APA-Anfrage, dass ‘alles transparent’ sei und geprüft werde… Schützenhöfer (…) wies zurück, dass ‘sich irgendjemand bei der Ski-WM über den Tisch hat ziehen lassen’. Dazu ÖSV-Zitz: ‘Das kann ich mit Sicherheit ausschließen, so etwas haben wir noch nie gemacht’” (Ebenda).
Das ist doch einmal so richtig lustig. “Über den Tisch ziehen”: Da weiß Schröcksnadel doch mit Sicherheit gar nicht, wie das geht…
Keine Angaben über den ÖSV-Gewinn: “Der ÖSV habe die Ski-WM in Schladming auf eigenes Risiko veranstaltet und ein eigenes Budget für die Organisation auf die Beine gestellt. Die fertige Bilanz der Weltmeisterschaften liege nun vor, aber über Gewinn oder Verlust werde man keine Auskunft geben: “Das geht niemanden etwas an, wir haben ja auch das Risiko immer selber getragen.” Zitz verriet aber soviel: “Es schaut gut aus. Wir wollten einen Gewinn erzielen, den wir in den ÖSV-Nachwuchs investieren” (Ebenda; Hervorhebung WZ).
Landeshauptmann Franz Voves (SPÖ) gab an, dass für die WM nur rund 63 Millionen Euro relevant waren. Da stellt sich die Frage, wofür waren die restlichen 77 Millionen Euro? “Antworten gab es zwar, doch diese waren für die Grünen unzureichend und lückenhaft. ‘Nach wie vor fehlt jede Darstellung der Geldflüsse rund um den ÖSV und eine überschaubare Kostendarstellung’, so der Grüne Landtagsabgeordnete Lambert Schönleitner” (Pock, Martina, Was vom Wintermärchen übrig blieb, in wienerzeitung.at 22.5.2013). Und was geschieht mit den Schladmingern White Elephants? “Nun, da der Ski-Zirkus seine Zelte in Schladming wieder abgerissen hat, stellt sich die große Frage nach der zukünftigen Nutzung der neu geschaffenen Infrastruktur. Bereits 2011 wurde das 16,4 Millionen teure Veranstaltungszentrum Congress-Schladming eröffnet, das während der WM als Mediencenter genutzt wurde” (Ebenda).
Der Präsident der Industriellenvereinigung Steiermark, Jochen Pildner-Steinburg, sah in der Ski-WM 2013 einen “regionalen Größenwahn” (Ebenda).

Feb 172013
 
Zuletzt geändert am 10.12.2013 @ 16:11

17.2.2013, aktualisiert 7.3.2013

IOC lässt durchfallen
Bei den Olympischen Sommerspielen 2012 in London waren 344 Ringer und Ringerinnen am Start. Im Freistil wurden elf Medaillen vergeben, im griechisch-römischen Stil sieben (spiegelonline 12.2.2013).
Am 12.2.2013 verkündete das IOC-Exekutivkomitee mit acht von 14 Stimmen (IOC-Präsident Jacques Rogge hatte nicht mitgestimmt), dass eine der ältesten olympischen Disziplinen, das Ringen, bei den Olympischen Sommerspielen aus dem Programm gestrichen werden soll. Die Abstimmung war geheim; der Ausschluss erfolgte laut IOC-Kommunikationsdirektor „mit Fachwissen und der kollektiven sportlichen Intelligenz“ (Weinreich 12.2.2013).

Grundlage war eine Analyse der 26 olympischen Sommersportarten mit 39 Kriterien wie z. B. TV-Quoten, Zuschauerzahlen, Ticketverkäufe, Verbreitung, Mitgliederzahlen und Attraktivität bei Jugendlichen: Dabei fiel der Weltringerverband Fila durch. Der Bericht dieser IOC-Kommission liegt nicht öffentlich vor (Weinreich 12.2.2013). Fast wären Kanu oder Hockey vom Ausschluss erwischt worden: Deren Vertreter äußerten sich verärgert über das IOC (SZ 15.2.2013; siehe unten).

Diese Mitteilung war eine punktgenau getimte Strategie: Denn die IOC-Mitteilung kam am 12.2.2013, und am 16.2.2013 tagte der Weltringerverband Fila im thailändischen Phuket. Das vom IOC gewünschte Ergebnis: Der Präsident Raphael Martinetti trat zurück.

Ersatzkandidaten sind Baseball/Softball, Klettern, Karate, Rollschuhsport, Squash, Wakeboarden, eine Mischform aus Wasserski und Wellenbreiten und Wushu, eine traditionelle chinesische Kampfkunst (spiegelonline 12.2.2013; SZ 14.2.2013). Endgültig soll das auf der IOC-Vollversammlung am 7. bis 10. September 2013 in Buenos Aires beschlossen werden.
Die Richtung ist ganz klar auf noch stärkere Kommerzialisierung gerichtet. Das zeigt auch die Aufnahme der reichen Sportart Golf und von Rugby bei den Olympischen Sommerspielen 2016 in Rio – zudem war IOC-Präsident Rogge ein ehemaliger Rugby-Spieler.

Proteste
Gegen den Ausschluss der Ringer protestierte umgehend eine einzigartige Allianz: „Die USA wollen mit dem Iran und Russland um die Zukunft des olympischen Ringens kämpfen“ (SZ 20.2.2013). Und dazu protestierten Wladimir Putin und der ehemalige amerikanische Verteidigugsminister Donald Rumsfeld, der selbst ehemaliger Ringer ist (SZ 18.2.2013).
Der Präsident des griechischen Ringer-Verbandes sagte: „Die Herren des IOC töten den Olympischen Geist”. Er erinnerte an den zweiten Vers der Olympischen Hymne: „Beim Laufen, Ringen und beim Weitwurf” und schlug vor, die Olympischen Spiele in Olympische „Business Games” umzubenennen (faz.net 13.3.2013; Hofmann 14.2.2013).

Die kommerziellen Gründe
– „Mehr als 60 Prozent der Fila-Einnahmen kommen vom IOC” (Weinreich 12.2.2013).
– „Als einer der Gründe für die Abkehr vom Ringen wurde seine zu große finanzielle Abhängigkeit vom IOC benannt. Ringen erwirtschaftet keine Gewinne, sondern kostet“ (Hönicke 14.2.2013).
– Die Ringer erhalten bislang einen zweistelligen Dollarmillionenbetrag pro Olympiade (Simeoni 13.2.2013): Dieser Betrag kann ab 2020 dann anderweitig verteilt werden.
– „Die Fila, 1912 gegründet, hat keine Lobby, ihren Präsidenten, den Schweizer Raphael Martinetti, kennt kaum jemand” (Ebenda).
– „Heute geht es bei den Beurteilungen mehr um das Kommerzielle als um sportliche Dinge. Dass Wakeboarding und Wushu überhaupt in die Diskussion für Olympische Spiele gekommen sind, ist für mich unbegreiflich” (Der deutsche Hockey-Präsident Stephan Abel, SZ 15.2.2013).
– Das olympische Ringen – in 177 Ländern zuhause – soll ersetzt werden “durch angeblich telegenere Neubewerber wie Rollschuhlaufen, Wandklettern oder Squash” (Simeoni 15.2.2013).
– „Kurzweiligkeit ist gefragt im Kampf um Fernseh- und Sponsorengelder, dem kann sich auch das IOC nicht entziehen. Der Trend zum Spektakel ist nicht zu übersehen. Das IOC lässt sich von Actionssport-Ereignissen wie den X-Games des US-Senders ESPN inspirieren” (Hahn 13.2.2013).
– „Seit sich die Jugend der Welt alternativen, immer extremeren Sportarten zuwendet, blickt das IOC sorgenvoll in die Zukunft seiner Spiele. 2010 fanden gar die ersten Olympischen Jugendspiele statt. Action, Spannung, Rasanz sind die modernen K.-o-Kriterien, Bildschirm-kompatibel muss das Ganze sein” (Kistner 13.2.2013).
Nicht zuletzt könnte die dominante Beteiligung von politisch fragwürdigen Nationen wie Russland, Aserbaidschan, Georgien, Kasachstan und dem Iran für die Entscheidung gesorgt haben. „Ringen ist nicht sexy, in keiner Weise cool, die Weltbesten kommen aus Aserbaidschan, Georgien oder Iran, also so ungefähr aus den am allerwenigsten hippen Ländern weltweit“ (Ahrens 13.2.2013).

Das IOC-Exekutivkomitee
Zwölf Männer und drei Frauen sind hier vertreten, darunter IOC-Präsident Rogge, der Sohn des ehemaligen IOC-Präsidenten Juan Antonio Samaranch und zwei Deutsche: der DOSB-Präsident und ehemalige Fechter Bach (Tauberbischofsheim) und die ehemalige Fechterin Claudia Bokel (Tauberbischofsheim). Bach säuselte: „Eine olympische Sportart muss Tradition und Fortschritt verbinden“ (Hofmann 14.2.2013) und lenkte damit von den tatsächlichen Machtspielen ab.
In der Exekutive konzentriert sich die IOC-Macht, die künftig noch stärker dominieren wird. Denn der mögliche Ausschluss einer Sportart führt zur Disziplinierung der übrigen Sportverbände, die es im Prinzip genauso treffen kann. Der Ringer-Rauswurf dient nicht zuletzt dem Ziel, Angst und Schrecken in der „Olympischen Familie“ zu verbreiten.
Ziel ist die immer weiter gehende Kommerzialisierung des Sports: damit das IOC immer mehr Geld generieren kann. Dabei fließt dieses schon jetzt im Überfluss: „Mit Einnahmen von mehr als acht Milliarden Dollar rechnet das IOC für den Abrechnungszeitraum 2009 bis 2012“ (Hönicke 14.2.2013).
Anscheinend reicht dies immer noch nicht.
Und an dieser Stelle nicht vergessen: die Phantom-Diskussion über Defizitgarantien bei Olympischen Spielen, die gerade bei Graubünden 2022 und anderswo geführt wird!

Gewollt: Die Disziplinierung
Am 16.2.2013 trat wie schon oben erwähnt der bisherige Präsident der Fila, Raphael Martinetti, zurück. Die Fila bildete eine Krisengruppe: „Diese soll mit Hilfe von Marketingagenturen eine Strategie erarbeiten, wie Ringen als Sportart weiter entwickelt werden kann. Eine Pressekonferenz des Exekutivkomitees stand am Samstag noch bevor“ (spiegelonline 16.2.2013).
Darin liegen die eigentlichen Effekte bei der Verbannung von Sportarten aus dem olympischen IOC-Gral wie im Fall der Ringer: Es geht um Disziplinierung und immer noch weitere Kommerzialisierung. Es war ein Zeichen der IOC-Exekutive, dass es grundsätzlich fast jede Sportart treffen kann, die sich nicht kommerziell genug aufstellt.
Das Exekutivkomitee hat die Aufgabe gewählt, entsprechende Ängste auszulösen. Es hat exekutiert
– „Der drohende Ausschuss des Ringens ist ein Warnschuss für andere Sportverbände, in Sachen Vermarktungsaktivitäten nicht stehen zu bleiben“ (Hönicke 14.2.2013).
– Die IOC-Exekutivkommission mit ihren 15 Mitgliedern kann über Wohl und Wehe – und über Geldzu- und abflüsse – entscheiden, da die Verbände mit einer olympischen Sportart mehr Geld über TV-Gebühren, Sponsorengelder und IOC-Zuschüsse generieren können.
– Und die Sponsoren und Fernsehsender bestimmen das Geschehen: „Auf alle relevanten Punkte der Spiele können die Geldgeber Einfluss nehmen, ob Wettkampfzeiten, Austragungsort oder Auswahl der Sportarten“ (Hönicke 14.2.2013).
– Umgekehrt wird der Geldhahn zugedreht, wenn eine Sportart nicht mehr olympisch ist. Der Deutsche Ringerbund hatte 2011 über eine Million Euro vom Bundesministerium des Innern erhalten; er „müsste als nichtolympische Sportart mit wenigen zehntausend Euro auskommen, wenn überhaupt“  (Weinreich 12.2.2013).
– Und nicht zuletzt müssen die olympischen Sportarten ihre Bemühungen in Richtung Kommerzialisierung und verstärken, um dem obersten Prinzip des IOC Rechnung zu tragen: dem der Geldmaschine.
– Das IOC fordert von den Fachverbänden die Bereitschaft ein, „sich zu modernisieren und fürs Fernsehen attraktiv zu machen. Weil das Fernsehen schließlich dem olympischen Sport das Auskommen sichert“ (Simeoni 13.2.2013).
Vergleiche: Die Sport-Sender

– Mit dem Ausschluss von Sportarten hat die IOC-Exekutive ein mächtiges Instrument in der Hand, aufmüpfige Chefs von Internationalen Sportverbänden zu disziplinieren. Theoretisch kann es jeden als nächsten treffen.
– Damit wird Anpassung und Duckmäusertum im IOC gefördert – und die Macht der Exekutive.

Ein Beispiel: Moderner Fünfkampf
IOC-Gründer Pierre de Coubertin hatte den Modernen Fünfkampf als „Inbegriff des Olympismus“ bezeichnet (spiegelonline 12.2.2013). „IOC-Präsident Jacques Rogge hatte bereits zweimal vergeblich versucht, sein Premium-Produkt Olympia auch auf Kosten des Modernen Fünfkampfs zu modernisieren“ (Ebenda).
Der Deutsche Klaus Schormann ist der Präsident des Weltverbandes Moderner Fünfkampf. Für ihn stand der Moderne Fünfkampf „immer auf der Kippe, solange ich Präsident bin“ (Hahn 13.2.2013). Also pflegte er Seilschaften, unter anderem mit dem Sohn des früheren IOC-Präsidenten Samaranch, Juan Antonio Samaranch junior, der Vizepräsident des Weltverbandes für Modernen Fünfkampf ist. Sein Vater war verantwortlich für die Durchsetzung des totalen Profisports, für die Kommerzialisierung des Sports und seine Unterwerfung unter die Regeln der TV-Sender und der Sponsoren – und damit für deren negative Begleiterscheinungen wie Korruption und Doping.
Vergleiche im Kritischen Olympischen Lexikon: Samaranch, Juan Antonio

Unter Schormann wurde der Moderne Fünfkampf „auf modern frisiert mit Biathlon-ähnlichen Abläufen, Laserpistolen am Schießstand und radikalen Maßnahmen für kompaktere Wettbewerbe“ (Ebenda).
Und so werden aus kommerziellen Gründen die Sportarten noch weiter dem Kommerz unterworfen, auch um die Anpassungsnormen gegenüber der IOC-Spitze zu erfüllen.

Hockey-Präsident Abel forderte eine Grundsatzdiskussion: „Was bedeutet uns Olympia?“ und: „Ist Olympia noch zeitgemäß?“ (SZ 15.2.2013).
Die Frage kommt (zu) spät.

Quellen:
Ahrens, Peter, Ringen um Fassung, in spiegelonline 13.2.2013
„Das ist unbegreiflich”, in SZ 15.2.2013
„Die Herren des IOC töten den Olympischen Geist”, in faz.net 13.3.2013
Hahn, Thomas, Ringen vor Olympia-Aus, in SZ 13.2.2013
Hönicke, Christian, Kernsportart Geldverdienen, in tagesspiegel.de 14.2.2013
Hofmann, René
– „Trainiert weiter!” in SZ 14.2.2013
– Ringen ums Ringen, in SZ 16.2.2013
IOC verbannt Ringen aus dem Olympia-Programm, in spiegelonline 12.2.2013
Kistner, Thomas, Zu klassisch für Olympia, in SZ 13.2.2013
Möglicher IOC-Bann: Präsident des Welt-Ringerverbandes tritt zurück, in spiegelonline 16.2.2013
NOK-Vereinigung will Ringern helfen, in spiegelonline 5.3.2013
Putin und Rumsfeld gegen Rogge, in SZ 18.2.2013
Sieben Ersatzkandidaten, in SZ 14.2.2013
Simeoni, Evi
– Lausanner Selbstentweihung, in faz.net 13.2.2013
– Olympia oder Zirkus, in faz.net 15.2.2013
USA kämpft mit Iran, in SZ 20.2.2013
Weinreich, Jens, Ohne Lobby keine Spiele, in spiegelonline 12.2.2013