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Okt 072017
 
Zuletzt geändert am 01.11.2017 @ 14:36

Polizeieinsätze in Fußballstadien: Die Kosten

Intro

„Wir sind alle Weltmeister.“ Das war der Slogan des DFB nach der Fußball-WM 2016 für die deutsche Bevölkerung – damit der Hype um den Fußball anhält. Realiter wurden natürlich nur die 23 Spieler des WM-Kaders Weltmeister.

Für die Austragung jedes Profi-Fußballspieles zahlt der deutsche Staat und (damit wir alle): Denn damit ist ein immer mehr gesteigerter Polizeieinsatz in den Stadien verbunden. Die kommerziellen Profiteure der Profi-Ligen müssen trotz ihrer Milliardengewinne bis jetzt keinen Unkostenbeitrag dafür leisten.

Deshalb soll diese kleine, unvollständige Chronologie die Vorgeschichte erklären und die Probleme schildern.

April 2010

„Die Deutsche Fußball-Liga (DFL) geht in die Offensive: Am Dienstag veröffentlichte das Unternehmen, das den 36 Vereinen der Ersten und Zweiten Bundesliga gehört und das den Sport vermarktet, in Frankfurt neue Zahlen zur volkswirtschaftlichen Bedeutung von König Fußball. Danach spielt der Profifußball in Deutschland als Arbeitgeber und Steuerzahler eine größere Rolle als bisher bekannt. ‚Unser Fußabdruck ist größer als erwartet‘, sagte DFL-Geschäftsführer Christian Seifert. Die Studie, die die Unternehmensberatung McKinsey erstellte, kommt pünktlich zu einem Gipfel der DFL mit Politik und Polizei am Freitag kommender Woche. Dabei geht es darum, ob die Vereine sich an den Kosten von Polizeieinsätzen bei Spielen beteiligen sollen. Seifert lehnt das ab: ‚Wir sind nicht bereit, Teilkosten zu übernehmen.‘ Er sehe dafür schon allein verfassungsrechtlich keine Grundlage. Die Sicherheit rund um öffentliche Veranstaltungen zu gewährleisten, sei eine Aufgabe der öffentlichen Hand. ‚Bei Castor-Transporten wird diese Frage auch nicht gestellt‘, sagte er. Mit der Studie will die DFL aufzeigen, welche Werte der Profifußball in der deutschen Wirtschaft schafft. Zugrunde gelegt wurden dabei Daten aus der Saison 2007/08 mit allen Spielen der beiden Bundesligen, des DFB-Pokals, der Europaligen mit deutscher Beteiligung und der Herren-Nationalmannschaft. Danach beläuft sich die Wertschöpfung auf 5,1 Milliarden Euro im Jahr. (…) Zu jedem Euro, den die Bundesligavereine selbst erwirtschaften, kommen 1,40 Euro von Vermarktern, TV-Anstalten und Werbetreibenden hinzu, 0,20 Euro von Begünstigten wie Hotels und Gastronomie sowie 0,80 Euro von Zulieferern wie Einzelhandel und Sicherheitsdiensten. Das heißt: Pro 100 Euro, die im Fußball erwirtschaftet werden, kommen 240 Euro außerhalb dazu. McKinsey spricht von einem ‚hohen Abstrahleffekt‘. Am Profifußball hängen zudem 71 000 Vollzeitstellen. Rechnet man Teilzeit-Beschäftigte mit ein, sorgt die Branche für 110 000 Jobs – so viele wie Daimler oder Siemens. (…) Dem stellt die Studie die Kosten gegenüber, die der Profifußball verursacht, insgesamt 200 Millionen Euro. Der Großteil davon sind mit 150 Millionen Euro Kosten für Polizeieinsätze. „Wir haben uns dabei an der höchsten von der Polizei genannten Summe orientiert”, sagte Seifert. Ziehe man die Kosten ab, zahle der Profifußball netto 1,5 Milliarden Euro an den Staat. Das entspricht 0,1 Prozent aller öffentlichen Einnahmen. (…) Aber, so fügte er (Seifert; WZ) an: „Wir werden nicht beinhart in die Gespräche gehen, wir wissen, was wir an den Einsätzen der Polizei haben‘” (Freiberger, Harald, So viele Jobs wie Daimler, in SZ 14.4.2010).

November 2011

Der Präsident der Bundespolizei, Matthias Seeger, musste Ende Oktober 2011 im Bundesministerium des Innern antreten: Er hatte mehr Geld für seine Behörde gefordert, da in der vergangenen Fußballsaison 2010/2011 95.283 Bundespolizisten bei Fußballspielen Dienst leisten mussten. „Seit Monaten schränken die Beamten in den Inspektionen ihre Streifenfahrten in den Grenzgebieten ein, weil nicht genügend Geld für Sprit da ist. Außenstellen der Bundespolizei werden geschlossen. Sparen, sparen, sparen, lautet das Motto. Sogar für die Fußball-Bundesligen, erzählen Beamte, werden weniger Einsatzkräfte abgestellt. Allerdings nur bei den Spielen, bei denen keine Randale der Fans zu erwarten ist und die als sicher gelten. Fast 100 000 Mal haben Bundespolizisten in der vergangenen Saison beim Fußball Dienst geschoben, etwa in den Bahnhöfen, Zügen und auf den Anfahrtswegen, um Ausschreitungen zu verhindern. Das bedeutet, an jedem Spieltag waren im Schnitt mehr als 2600 Beamte unterwegs; fast immer an den Wochenenden“ (Ott, Klaus, Zum Rapport ins Ministerium, in SZ 5.10.2011).

Januar 2012

Das Bundesministerium des Innern möchte eine Kostenbeteiligung an den Polizeieinsätzen. „Im Klartext: Die Kicker-Branche, die künftig gut fünf Milliarden Euro in drei Jahren erlöst, soll die Polizeikosten mittragen“ (Kistner, Thomas, 29.12.2012). Nach Angaben der Polizeigewerkschaft handelt es sich um die „Jahresarbeitsleistung von elf Hundertschaften der Polizei, deutlich mehr als 100 Millionen Euro an Personalkosten, die der Steuerzahler bezahlt“ – DFB und DFL sollten sich mit mindestens 50 Millionen Euro beteiligen (Ebenda).

Das Geld wäre da: „In der kommenden Saison erlösen die Profiklubs alleine aus der Vermarktung ihrer TV-Rechte 200 Millionen mehr… Wenn der Fußball seinen Beitrag daran nun aufstockt, wie es geplant ist, ist das richtig“ (Catuogno, Claudio, Kulturgut Fußball, in SZ 13.1.2012; Hervorhebung WZ).

April 2012

Der Spiegel gibt die jährlichen Kosten der Polizeieinsätze der Fußball-Bundesliga mit 150 Millionen Euro an – und die Kostenbeteiligung der Vereine an den Polizeieinsätzen mit null Euro. “Zum Vergleich: Gebühr, die ein Sitzblockierer in Stuttgart für das Wegtragen durch Polizeibeamte bezahlen muss: bis zu 80 €” (Der Spiegel 17/23.4.2012, S. 69).

August 2012

Die Allgemeinheit zahlt die Polizeieinsätze gegen Hooligans und Randalierer allein. Die Münchner Polizei bot in der Fußball-Saison 2011/12 18.785 Beamte auf (Fuchs, Florian, Gewalt bei Fans nimmt zu, in SZ 24.8.2012).

Oktober 2012

Polizeieinsätze bei SV Darmstadt kosteten 1,72 Millionen Euro
„Für den Fußball-Drittligisten fielen in der Saison 2011/2012 für den Steuerzahler 1,72 Millionen Euro an. Bei der Eintracht, die in der zweiten Liga spielte, waren es 1,80 Millionen. Für Darmstadts Liga-Konkurrent Offenbacher Kickers wurden 1,47 Millionen Euro ermittelt. Dies teilte Hessens Innenminister Boris Rhein (CDU) auf eine kleine Anfrage des Grünen-Abgeordneten Daniel Mack mit. Insgesamt kosteten die Einsätze in den ersten drei Ligen in Hessen in der vergangenen Saison 6,23 Millionen Euro. 2009/ 2010 waren es 4,21 Millionen, in der Vorsaison 3,76 Millionen.  (…) Nach Angaben des Innenministeriums gibt es in Hessen 1100 ‚Problemfans‘. Als Gewalttäter sind in einer speziellen Datei 440 Anhänger der Eintracht erfasst. Offenbach kommt auf 169, Darmstadt auf 68, Wehen Wiesbaden auf 49 und der FSV Frankfurt auf 22“ (Rhein: Polizeieinsätze kosten 6,23 Millionen, in fnp.de 2.10.2012).

Dezember 2012

„Bei Borussia Dortmunds Heimspielen, monierte Polizeipräsident Norbert Wesseler erst letzte Woche, müssten seine Leute immer stärker durchgreifen. Nur in der Hinrunde gab es bereits 44 Verletzte zu beklagen, darunter zwölf Beamte; damit stünden fast so viele Übergriffe zu Buche wie in der ganzen Vorsaison, so der Behördenchef. (…) Darin verzeichnet das Bundesinnenministerium (BMI) einen dramatischen Anstieg der Straftaten bei Erst- und Zweitligaspielen. Gab es in der Saison 2001/02 insgesamt 861 Körperverletzungsdelikte, hat sich die Anzahl zehn Jahre später, in der Spielzeit 2011/12, mehr als verdoppelt: 1831 Delikte. Das BMI stützt sich dabei auf die Jahresberichte der Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS). Erheblich verstärkt habe sich auch der Widerstand gegen die Staatsgewalt. Für Spiele der beiden Bundesligen, im DFB-Pokal sowie für alle sonstigen Partien von europäischen Klub-Wettbewerben bis Länderspiele wurden 2001/02 noch insgesamt 187 Fälle berichtet; in der Saison 2011/12 waren es mehr als doppelt so viele: 371. (…) Die Rechtsgrundlage sieht just dort wenig überzeugend aus, wo die Politiker den Hebel am liebsten ansetzen möchten. ‚In der Diskussion‘, teilt das BMI mit, ‚befindet sich derzeit vor allem die Frage der Kostenbeteiligung an Polizeieinsätzen im Zusammenhang mit Fußballspielen durch die Vereine.‘ Im Klartext: Die Kicker-Branche, die künftig gut fünf Milliarden Euro in drei Jahren erlöst, sollte die Polizeikosten mittragen. Das fordert auch Rainer Wendt, Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft. Zur Debatte stünde die ‚Jahresarbeitsleistungen von elf Hundertschaften der Polizei, deutlich mehr als 100 Millionen Euro an Personalkosten, die der Steuerzahler bezahlt.‘ DFB und DFL sollten sich daran ‚wenigstens mit 50 Millionen beteiligen‘ (…) Tatsächlich spricht viel dafür, den immensen Reibach, der in den Fußball fließt, sinnvoller zu verwenden als nur für die Bezahlung von Kickern und Beratern. Doch ‚soweit die Bundespolizei betroffen ist‘, konstatiert die Bundesregierung betrübt, verfüge sie ‚derzeit über keine Rechtsgrundlage‘, um den Klubs Sicherheitskosten außerhalb der Stadionzone aufzuzwingen. Das könnten allenfalls die Länder“ (Kistner, Thomas, Wachsende Gewalt, in SZ 29.12.2012).

 

Dezember 2013

– Fußballsaison 2012/13 kostet Bundespolizei 38 Millionen Euro
Die Fußballsaison 2012/2013 kostete die Bundespolizei – und damit die Steuerzahler – für die Sicherung von Zügen und Bahnhöfen 38 Millionen Euro. 1700 gewaltbereite Fans sind bekannt; es gab 270 Verletzte bei insgesamt 2860 Straftaten und 751 Gewaltdelikten (Fußballeinsätze kosten 38 Millionen Euro, in Der Spiegel 1/30.12.2013).

– Bremen will Rechnung stellen
Der Präsident von Werder Bremen, Klaus-Dieter Fischer, trat im Januar 2014 aus der SPD aus. Der Grund: Bei der Bremer Polizei liefen bei den Heimspielen von Werder Kosten von 2,8 Millionen Euro auf, „bezahlt von einer klammen Stadt, während die Vereine gewaltige Einnahmen kassierten. (…) Bremen ist hoch verschuldet, mit größter Mühe konnte die SPD kürzlich 40.000 Euro zusammenkratzen, damit der Notruf für vergewaltigte Frauen nicht stillgelegt wird“ (Widmann, Marc, Die Rote für die Roten, in SZ 8.1.2014). Reinhard Rauball, der Präsident der Deutschen Fußball-Liga (DFL) kündigte bereits an, sich „mit allen juristischen Möglichkeiten bis hin zum Bundesverfassungsgericht zu wehren“ (Ebenda).

Juni 2014

– Zahl der verletzten Polizisten verdoppelt
„Bei Einsätzen im Umfeld von Fußballspielen hat sich die Zahl der verletzten Polizisten in der abgelaufenen Saison 2013/2014 im Vergleich zur vorherigen Spielzeit nahezu verdoppelt: Den neuen Spitzenwerten von 158 verletzten Beamten führt die Bundespolizei auf den vermehrten Einsatz von Pyrotechnik bei gewaltbereiten Fans zurück“ (Mehr Gewalt, in Der Spiegel 27/30.6.2014).

 

Juli 2014

– Erste Kostenrechnung
„Das Spiel, das am 13. Dezember um 15.30 Uhr im Bremer Weserstadion angepfiffen werden soll, wird ein ziemlich außergewöhnliches sein. Denn wenn an diesem 15. Spieltag der Bundesligasaison der örtliche Fußballklub SV Werder gegen Hannover 96 antritt, geht es um mehr als nur um Sieg, Niederlage und Tabellenplatz. Erstmals will sich ein Bundesland den kostspieligen Polizeieinsatz für ein Bundesligaspiel bezahlen lassen. Die Deutsche Fußball Liga (DFL) werde nach diesem Spiel wohl eine Rechnung erhalten, kündigte Bremens Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) am Dienstag an. Der rot-grüne Senat beschloss einstimmig, dafür das Gebührenrecht zu ändern. Künftig will Bremen bei ‚gewinnorientierten Großveranstaltungen‘, bei denen die Polizei ‚erhebliche gewalttätige Ausschreitungen‘ erwartet, den Organisatoren die Kosten für den verstärkten Einsatz von Polizisten in Rechnung stellen. Die neue Regel zielt in erster Linie auf Fußballspiele – allerdings nur auf jene, bei denen die Behörden das Gewaltrisiko als hoch einstufen. Die Partie Werder Bremen gegen Hannover 96 gilt bei der Polizei als so ein ‚Rotspiel‘, bei denen 700 Beamte oder mehr über die Sicherheit der Stadionbesucher wachen. Bei einem normalen Bundesligamatch kommen nur 150 bis 180 Beamte zum Einsatz. Alles was über den Aufwand für ein solches ‚Grünspiel‘ hinausgeht, soll nach den Bremer Plänen künftig die DFL zahlen. ‚Die Kosten werden im Einzelfall ermittelt‘, sagte Mäurer. Der Senat rechnet mit Beträgen von etwa 300 000 Euro für ein Spiel wie Bremen gegen Hannover. Allerdings könnte es auch teurer werden: Zum Nordderby Werder gegen den Hamburger SV sind im März gleich 1200 Polizisten ausgerückt. (…) Erste Aufwallungen gibt es schon. So kündigte DFL-Präsident und DFB-Vize Reinhard Rauball am Dienstag postwendend an, er werde bei der Präsidiumssitzung des DFB an diesem Freitag den Antrag stellen, fortan keine Länderspiele mehr im Bremer Weserstadion auszutragen. Mehr noch, er will auch beantragen, das bereits vergebene EM-Qualifikationsspiel gegen Gibraltar am 14. November in eine andere Stadt zu verlegen. DFB-Präsident Wolfgang Niersbach verkündete, er sei damit ‚voll auf einer Linie‘. Die DFL gab zudem bekannt, sie werde gegen den Bremer Beschluss ‚alle juristischen Möglichkeiten ausschöpfen‘. Der Alleingang der Hansestadt sei ‚mit unseren verfassungsrechtlichen Grundsätzen nicht vereinbar‘. Bereits Anfang des Monats hatten die Präsidenten des Deutschen Olympischen Sportbundes, des DFB und der DFL sich in einem gemeinsamen Protestbrief an Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) und die Landesinnenminister gegen das Bremer Vorgehen gewandt: ‚An öffentliche Sicherheit darf kein Preisschild gehängt werden.‘ Die Bremer treibt indes die nackte Not. Der kleine Stadtstaat mit knapp 550 000 Einwohnern ist schon lange hoch verschuldet. Vor wenigen Tagen verhängte die Finanzsenatorin mal wieder eine Haushaltssperre. Allein in der Saison 2013/14 hat das klamme Land 1,4 Millionen Euro für die Polizeieinsätze bei Bundesliga-Spielen gezahlt“ (Bielicki, Jan, Widmann, Marc, Teurer Anstoß, in SZ 23.7.2014).

– Andere Bundesländerfolgen nicht
Die anderen Bundesländer wollen dem Bremer Vorbild derzeit nicht folgen. „Solange es keine bundeseinheitliche Regelung gibt, steht das nicht zur Diskussion“, sagt Baden-Württembergs Innenminister Lothar Gall (SPD). Auch in Nordrhein-Westfalen sei ‚eine Beteiligung der Vereine kein Thema‘, heißt es aus dem Düsseldorfer Innenministerium. Im Land mit den meisten Bundesligaklubs verwenden die dortigen Polizei-Hundertschaften 30 Prozent ihrer Einsatzzeit auf die Sicherung von Fußballspielen. Bundesweit hat die Gewalt in und um die Stadien zuletzt stark zugenommen, besonders gegen Polizisten. Nach Zahlen der nordrhein-westfälischen Polizei wurden in der Saison 2012/13 bei Gewalttaten rund um Spiele der ersten und zweiten Liga 788 Menschen verletzt. 242 waren Polizisten“ (Bielicki, Jan, Widmann, Marc, Teurer Anstoß, in SZ 23.7.2014; Hervorhebung WZ).

– Die DFB-Konsequenz: Entziehung aller Länderspiele
„Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hat auf die umstrittene Gesetzes-Offensive der Bremer Landesregierung reagiert und der Hansestadt bis auf Weiteres die Länderspiele entzogen. (…) Das DFB-Präsidium tagt am Freitag in Frankfurt. Damit braucht der DFB für das EM-Qualifikationsspiel gegen Gibraltar am 14. November (20.45 Uhr) einen neuen Austragungsort“ (SID, Länderspiel entzogen, in SZ 24.7.2014).

SZ-Interview mit dem Bremer Innensenator Ulrich Mäurer: „Das soll wohl heißen – jetzt zeigen wir mal Bremen, wer mit wem hier tanzt. Ich finde, dieses Vorgehen spricht Bände. Es ist für die Fußballbranche ziemlich ungewohnt, dass ihr mal jemand auf die Füße steigt. (…) Es scheint einer Majestätsbeleidigung gleichzukommen. (…) Wir haben das Problem, dass die Polizeieinsätze bei Fußballspielen extrem hohe Kosten verursachen. Wir sind nicht in der Lage, die vielen Tausend Überstunden zu bezahlen, die in den letzten Jahren angefallen sind. Und wir sehen auch nicht, dass sich die Entwicklung bessert, im Gegenteil. Deswegen halten wir es für angemessen, dass die DFL sich an den Kosten beteiligt. (…) Wir können uns selbstverständlich über das Gebührenrecht gewisse Kosten erstatten lassen. Es ist überhaupt kein Widerspruch, dass man auf der einen Seite Steuern bezahlt und dennoch mit Gebühren belastet wird. (…) Das Thema Geld ist im Übrigen auch gar nicht unser Hauptthema. Mein Interesse ist es, die Gewalt zu reduzieren. Die Verhältnisse auf den Bahnhöfen an Spieltagen sind für mich katastrophal und unerträglich. (…) Es geht ja nur um die Risikospiele, bei denen oft mehr als tausend Polizisten eingesetzt werden. Das sind bei uns eine Hand voll Spiele pro Saison, wenn zum Beispiel die Teams aus Hamburg oder Hannover kommen. So ein Spiel kann gut und gerne 250 000 oder 300 000 Euro mehr kosten als ein normales Spiel. Nur diese Mehrkosten wollen wir in Rechnung stellen. (…) Die DFL hat gerade einen Vertrag für die Übertragungsrechte über 2,5 Milliarden Euro abgeschlossen, wie ich gelesen habe. Insofern dürften einige 100 000 Euro für sie nicht das Thema sein“ (Widmann, Marc, „Es scheint einer Majestätsbeleidigung gleichzukommen“, in SZ 24.7.2017).

– Von 1977 zu 2014
„Unentschieden endete das Spiel, 3:3. Nur eine Gelbe Karte gab es, auch sonst blieb alles friedlich im Stuttgarter Neckarstadion, als der VfB zum Saisonauftakt des Jahres 1977 auf den FC Bayern traf. Die Polizei aber hatte Schlimmeres befürchtet und 80 zusätzliche Beamte aus Tübingen geholt. Die Rechnung dafür über 10 307,85 Deutsche Mark schickte sie dem Verein. Der klagte – und scheiterte. Das Verwaltungsgericht Sigmaringen entschied: Die Polizei dürfe sich ‚bei privaten Veranstaltungen‘ sehr wohl Kosten ersetzen lassen, wenn weitere ‚als die im üblichen örtlichen Dienst eingesetzten Polizeibeamten‘ herangezogen würden. Lang ist’s her. Fußball ist ein Milliardengeschäft geworden, und auch sonst muten die Zahlen von damals fast putzig an. Heute stellt die Polizei zu Hochrisikospielen der Bundesliga schon mal 800, 1000 oder mehr Beamte ab, um der stark gewachsenen Gewalt aus Anlass der Partien zu begegnen. Ein Streitpunkt aber ist derselbe geblieben: Wer zahlt das? Der Steuerzahler, weil die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ureigenste Aufgabe des Staates ist? Oder nicht doch der Organisator einer Veranstaltung, die den Polizei-Großeinsatz erst auslöst und die zudem Millionengewinne in seine Kassen spült? (…)Es geht dabei eben nicht nur um den Fußball, sondern vor allem darum, welche Polizei das Land haben will: Soll sie in allererster Linie Träger staatlicher Gewalt sein, der im Auftrag und auf Kosten des Staates für die Sicherheit der Bürger sorgt? Oder ein Dienstleister, für dessen Leistungen der Begünstigte zu zahlen hat? Die Unterscheidung ist gar nicht so leicht zu treffen. Schon heute ist die Polizei beides, und Gebühren für polizeiliches Handeln gibt es längst, samt ‚Polizeibenutzungsgebührenordnung‘, wie das in Berlin heißt. Je nach Bundesland zahlt zum Beispiel, wer einen Schwertransport von Polizei begleiten lassen muss. Oder wessen Alarmanlage einen Fehlalarm auslöst. Oder wer berauscht in einer Ausnüchterungszelle landet. (…) Natürlich lässt sich darüber streiten, ob ein Polizeieinsatz im Stadion überwiegend öffentlichen oder privaten Interessen dient. Doch keine Schlägerei wird verhindert und kein Bengalo weniger abgefeuert, müssten die Vereine für die abgestellten Polizisten zahlen. Dazu müsste der Staat die Branche verpflichten, selbst mehr gegen die Stadiongewalt zu tun. Solche Auflagen dürfen ruhig teuer werden für die boomende Industrie der Weltmeister. Der Schutz der Bürger aber, die jedes Wochenende zu Hunderttausenden in die Stadien ziehen, gehört zur Kernaufgabe des Staates“ (Bielicki, Jan, Gleiches Recht für Diebe und Fußballfans, in SZ 25.7.2014).

Aus einem Kommentar von Peter Sturm in faz.net:  „Das, was der Deutsche Fußballbund jetzt als Vergeltung ins Werk setzt, ist allerdings anmaßend. Der größte Sportverband der Welt meint offenbar, staatliche Institutionen seien ihm untertan. Zumindest müssten diese alles unterlassen, was die Autoritäten des Fußballs nicht gut finden. Also wird Bremen die Austragung eines Qualifikationsspiels zur Fußball-Europameisterschaft entzogen. Und die Funktionäre, von denen man fast annehmen könnte, ihnen sei der Weltmeistertitel zu Kopf gestiegen, beschließen gleich noch, das aufmüpfige Bremen künftig bei Länderspielen gar nicht mehr zu berücksichtigen. (…) Die Damen und Herren in den Führungsetagen sollten bedenken, dass sie erstens Teil dieses Staates sind und vor allem zweitens auch auf dessen Institutionen angewiesen sind“ (Sturm, Peter, Anmaßung des DFB, in faz.net 25.7.2014; Hervorhebung WZ).

„Bremen goldrichtig“: „Björn Tschöpe, Fraktionsvorsitzender der SPD Bremen, hat den Vorstoß des Bremer Senats, die Kosten für Polizeieinsätze bei Hochrisikospielen der DFL in Rechnung zu stellen, verteidigt. Die Angelegenheit müsse auf dem Rechtsweg geklärt werden. (…) Tschöpe sähe Bremen durch den Vorstoß nicht isoliert. ‚In allen Umfragen sagen bis zu 80 Prozent der Befragten, dass, was Bremen macht, ist goldrichtig.‘ Man habe den Bund der Steuerzahler und die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) an der Seite. Im Gespräch kritisierte er auch DOSB-Präsident Alfons Hörmann: ‚Er nimmt den Breitensport in Geiselhaft für die wirtschaftlichen Interessen eines Milliardenunternehmens, wie die DFL. Herr Hörmann sollte sich fragen, ob er an der Stelle ein richtiger Vertreter des gemeinwohlorientierten Sports ist.‘ Für ein normales Bundesligaspiel seien in Bremen 200 bis 300 Polizisten im Einsatz, zählte der SPD-Politiker auf. Bei Hochrisikospielen, wie gegen den Hamburger SV oder Hannover 96, seien es 1.200. ‚Da kommen Zusatzkosten von 300.000 bis 500.000 Euro auf uns zu‘“ (Sturmberg, Jessica, „Was Bremen macht, ist goldrichtig“, in deutschlandfunk.de 26.7.2014).

– Wählt der Fußball SPD ab?
„Nicht zuletzt Trainer Robin Dutt hat bisher offenbar die SPD gewählt. Bisher . . .   Denn jetzt ist ihm der Kragen geplatzt. ‚Da weiß man ja, wo man sein Kreuzchen machen muss nächstes Mal‘, brummte der Fußballlehrer, nachdem klar war, dass die Deutsche Fußball Liga (DFL) das Kriegsbeil ausgraben würde. Der gesamte Verein ist zutiefst verärgert über den Vorstoß des SPD-geführten Bremer Senats, der eine Beteiligung der DFL an den Kosten für Polizeieinsätze bei Hochrisikospielen der Bundesliga durchsetzen will. Einen entsprechenden Beschluss des Senats, über den das Bremer Parlament noch abstimmen muss, will die DFL rechtlich bekämpfen. (…) Der Streit um die Kosten für Bundesligaspiele führt nun tatsächlich dazu, dass der DFB ein in Bremen geplantes Länderspiel gegen Gibraltar nach Nürnberg verlegt hat. (…) Während Werder Bremen mit Wut auf den Bremer Senat und mit Verständnis für DFL und DFB reagierte, kritisierten Teile der Bremer Politik den Beschluss scharf. Diese ‚fragwürdige Strafaktion‘, so Innensenator Ulrich Mäurer, schädige nicht nur die Bremer Fußballfans und die Wirtschaft. Er solle auch Warnung an die anderen Bundesländer sein, sich „ja nicht Bremen anzuschließen“. Wirtschaftssenator Martin Günthner sprach von einem „klaren Foul“ des DFB: Dort „mag ja mancher der Auffassung sein, dass König Fußball die Welt regiert. Für Bremen gilt das nicht“. Und auch der Fraktionsvorsitzende der Grünen, Matthias Güldner, wunderte sich über den „Versuch der Beeinflussung eines demokratisch gewählten Parlaments“. Der SPD-Fraktionschef Björn Tschöpe ging noch weiter: ‚Die Entscheidung des DFB wirft ein Schlaglicht auf das Verhältnis von mächtigen Unternehmen und Verbänden zum demokratischen Staat. Der Versuch, sich mit wirtschaftlicher Macht Gefolgschaft und Gefälligkeiten zu organisieren, wird in diesem Fall erfolglos bleiben‘“ (Wiegand, Ralf, Nürnberg statt Bremen, in SZ 26.7.2014).

DFL-Präsident Reinhard Rauball im SZ-Interview: „Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit ist immer die Aufgabe und das Monopol des Staates. Er ist für die Gefahrenabwehr zuständig, und auch in Zeiten leerer Staatskassen bleibt das so. Wenn wir an den Aufgaben der Polizei herumbasteln wollen, dann wird das ein ordnungspolitischer Bruch und ein Verfassungsbruch. (…) Bei dem, was dem Senator in Bremen vorschwebt, geht es aber darum, dass eine Gebührenpflicht für die Gefahrenabwehr eingeführt würde, die immer Aufgabe der Polizei ist und bleibt. Die gewünschte Änderung ist gleich mit mehreren Verfassungsartikeln nicht vereinbar. Weder der Ligaverband noch die Vereine sind ja Veranlasser oder Zweck-Veranlasser von Gewalt, die es im öffentlichen Raum gibt. Wenn es in der Innenstadt oder im Bahnhof oder anderswo im öffentlichen Raum an einem Bundesliga-Spieltag Gewalt gibt, dann hat das ursächlich doch nichts damit zu tun, dass wir im Stadion Fußballspiele veranstalten. Die Gewalt wird von den Tätern geplant und ausgeführt, ohne dass die Vereine dies wollen oder beteiligt sind. Und die Frage ist ja außerdem: Wer bestimmt denn, was ein sogenanntes Risikospiel ist? (…) Es kann doch unmöglich gesagt werden, dass die Bundesliga-Vereine dazu ermutigen, dass irgendwo Gewalt ausgeübt wird. Sobald die Leute die Stadiontore durchschritten haben, übernehmen ja die Vereine die Sicherheitsverantwortung und bezahlen dafür im Jahr einen zweistelligen Millionenbetrag an private Sicherheitsdienste. Aber für den öffentlichen Raum ist und bleibt die Polizei zuständig – auch in der Nähe der Stadien. Wenn wir daran rühren, dass die Polizei für die Aufrechterhaltung öffentlicher Sicherheit und Ordnung zuständig ist, dann kann das künftig auf jedes beliebige Thema angewendet werden. Jeder kann dann für alles Mögliche zur Kasse gebeten werden“ (Röckenhaus, Freddie, „An Populismus hat man sich ja gewöhnt“, in SZ 25.7.2017). Rauball äußerte zur Absage des EM-Qualifikationsspiels Deutschland gegen Gibraltar im November 2014: „Ja, das stimmt, das werde ich beantragen, und ich habe das im Vorfeld schon mit dem DFB-Präsidenten Wolfgang Niersbach und meinen Liga-Kollegen im Präsidium vorbesprochen. Es kann nicht sein, dass wir Bremen etwas Gutes mit so einem Länderspiel tun, bei dem viel Geld in die Stadt fließt. Und im Gegenzug werden wir mit unberechtigten Forderungen konfrontiert“ (Ebenda).

– Teure Bundesliga
Daten der Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze zeigen den Aufwand der Polizei bei Bundesligaspiele: „Demnach leisteten die Beamten der Länder in der abgelaufenen Saison mehr als 650.000 Stunden für Bundesligaspiele. Der größte Aufwand wurde am 6. April dieses Jahres betrieben: Beim Spiel Braunschweig gegen Hannover kümmerten sich 3181 Beamte um 23.150 Stadionbesucher. Zusätzlich zu den Beamten der Länder sind an den Spieltagen Bundespolizisten unterwegs zur ‚Überwachung des Fanreiseverkehrs‘ an Bahnhöfen. In der Saison 2012/13 waren dafür pro Woche durchschnittlich 2140 Beamte nötig. Kosten: 27,8 Millionen Euro. Nicht berücksichtigt sind in den Rechnungen erhebliche Ausgaben für Transport und Übernachtung der Beamten“ (Einsatz für Fußball, in Der Spiegel 31/28.7.2014). In der Bundesligasaison 2013/14 beliefen sich die Einsatzkosten der Polizei auf 39 Millionen Euro; Bremen lag bei 3,2 Millionen Euro (Ebenda).

– Bremen wehrt sich
„Bremens Regierungschef Jens Böhrnsen (SPD) hat die Verlegung des EM-Qualifikationsspiels gegen Gibraltar von Bremen nach Nürnberg massiv kritisiert. Er warf dem Deutschen Fußball-Bund (DFB) vor, Druck gegen eine demokratisch legitimierte Entscheidung auszuüben. „Das ist kein Umgang mit einem gewählten Parlament und einer Landesregierung.“ Bisher steht der Bremer Senat mit seiner Absicht allein da, die Bundesliga an den Kosten der Polizeieinsätze bei Risikospielen zu beteiligen. Andere Bundesländer lehnen den Vorstoß ab, der beim DFB und der Deutschen Fußball Liga (DFL) zu Protesten und dem Länderspiel-Entzug geführt hat. Das könnte sich nach einem Musterverfahren ändern, mit dem Bremens Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) rechnet“ (DPA, Kritik aus Bremen, in SZ 28.7.2017).

– „DFB brutal“
„Kaum einen Tag hat das Präsidium gebraucht, um im politischen Streit mit dem Bundesland Bremen einen schneidigen Sportboykott zu beschließen und das EM-Qualifikationsspiel gegen Gibraltar am 14. November von Bremen nach Nürnberg zu verlegen. Auch künftig soll es keine Länderspiele in der Hansestadt geben – so lange, wie die Bremer Politik fordert, dass sich der Profifußball an besonders teuren Polizeieinsätzen bei brisanten Bundesligaspielen beteiligt. (…) Schon diese Haltung, die Austragung von Länderspielen sei eine ‚Belohnung‘ für was auch immer, erreicht die Grenze des erträglichen Selbstbewusstseins von König Fußball. Es ist verblüffend, dass der DFB die Nationalmannschaft als Druckmittel einsetzt für einen Streit, den die Deutsche Fußball-Liga (DFL) über die Bundesliga führt. (…) Man kann beim DFB zu Recht der Meinung sein, die Bremer spielten Foul, weil sie als Einzige aus einer mit allen Ländern getroffenen Vereinbarung aussteigen wollen. Den Fans in Bremen alle Länderspiele wegzunehmen, ist dann aber ein Revanchefoul. Das verdient die Rote Karte“ (Wiegand, Ralf, Ein erstaunlich rabiater Akt, in SZ 28.7.2014).

– Deutsche Straftaten im WM-2014-Gefolge
„Eine geheime Polizeistatistik (‚VS – Nur für den Dienstgebrauch‘), die der ‚Welt‘ vorliegt, zeigt: In den vier WM-Wochen wurden im Zusammenhang mit Fußballfeiern fast 3000 Straftaten begangen. Auf eine Bilanz von genau 2888 registrierten Straftaten kommt der Bericht der ‚Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze‘, einer 1991 von den Innenministern eingerichteten Stelle, die zentral Daten über Gewalt im Fußball sammelt. Unter den einzeln aufgelisteten Delikten steht Körperverletzung mit 385 Vorfällen an erster Stelle. Das zweithäufigste Delikt waren Verstöße gegen das Sprengstoffgesetz (213). In 70 Fällen gab es Widerstand gegen die Staatsgewalt, wozu sowohl die Verweigerung gegenüber einer polizeilichen Anweisung als auch tätliche Angriffe auf Polizeibeamte gehören. 33 mal kam es zu einem Verstoß gegen Paragraf 86a des Strafgesetzbuchs („Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“). So wurde bei einer Feier nach dem Finale auf der Leopoldstraße in München von Teilnehmern der ‚Hitlergruß‘ gezeigt. In Frankfurt an der Oder schlugen in derselben Nacht randalierende Jugendliche Scheiben ein und riefen ‚Sieg Heil!‘. In vier Fällen kam es zu Anzeigen wegen Landfriedensbruch. 2183 Straftaten lassen sich laut Statistik nicht in die aufgelisteten Deliktbereiche einordnen. Dazu dürften unter anderem auch Raub und Verstöße gegen das Waffengesetz zählen, die sich in anderen Fußball-Statistiken der Polizei häufig finden, hier aber nicht gesondert angezeigt werden. Insgesamt waren in dieser Zeit mehr als 75.000 Polizeikräfte im „WM-Einsatz“. Bundesweit gab es bei den Feiern während der WM 730 Verletzte. Darunter waren 106 Polizeibeamte, 252 Störer, aber auch 348 Unbeteiligte sowie 24 Ordner, die bei den Veranstaltungen für Sicherheit sorgen sollten“ (Hollstein, Miriam, Die gewalttätige Seite der Fußball-WM, in welt.de 28.7.2017; Hervorhebung WZ). Allein beim Endspiel am 13.7.2014 waren in Baden-Württemberg 2.368 Polizeikräfte im Einsatz, in Bayern 6.822 und in Berlin 1.084 (Ebenda).

August 2014

– 50 Millionen Euro für Polizeieinsätze gefordert
„Im Streit über die Finanzierung von Polizeieinsätzen bei Fußballspielen hat der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, eine Pauschale der Vereine in Höhe von insgesamt 50 Millionen Euro pro Jahr gefordert. Mit dieser Gebühr sollen seiner Ansicht nach die erhöhten Einsatzkosten bei Risikobegegnungen aufgefangen werden, sagte er der ‚Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung‘.  (…) Wendt unterstützt damit die Forderung des Landes Bremen, den Vereinen erhöhte Sicherheitsvorkehrungen in Rechnung zu stellen. (…) Die Bremer Politiker mussten sich nach ihrem Beschluss heftige Kritik gefallen lassen. ‚Wir haben eine klare Vereinbarung mit der Innenministerkonferenz, dass wir unsere Präventivmaßnahmen verstärken und im Gegenzug die aus unserer Sicht verfassungswidrige Kostenbeteiligung an Polizeieinsätzen weiterhin nicht thematisiert wird‘, sagte DFB-Präsident Wolfgang Niersbach. Dem Verein Werder Bremen und der Weserstadion GmbH entsteht durch die Verlegung des Länderspiels nach eigener Aussage ein finanzieller Schaden von rund 600.000 Euro. ‚Die Zeche zahlen wir‘, beklagte Klaus Filbry, Werders Vorsitzender der Geschäftsführung: ‚Dass das Land Bremen aus der Solidargemeinschaft der Innenministerkonferenz ausschert, ist natürlich traurig.‘ Filbry bezeichnete die DFB-Entscheidung, das Spiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Gibraltar nach Nürnberg zu verlegen, als ‚absolut nachvollziehbar‘“ (Polizeigewerkschaft fordert 50 Millionen Euro für Fußball-Einsätze, in spiegelonline 2.8.2014).
Es ist schon interessant, dass der Verein Werder Bremen offensichtlich 600.000 Euro Einnahmen verbucht hätte, aber für Polizeieinsätze in Bremen Geld verweigert wird.

– Bayern will kein Geld
„Trotz extrem hoher Kosten will der Freistaat die Fußballvereine auch weiterhin nicht bei Polizeieinsätzen gegen randalierende Fans zur Kasse bitten. Das Bremer Modell, nach welchem Spielveranstalter für einen erhöhten Beamten-Einsatz zahlen sollen, ist für Innenminister Joachim Herrmann (CSU) kein Vorbild. Es sei Sache des Staates, für die öffentliche Sicherheit zu sorgen. Das stößt auf Kritik: Hermann Benker, der Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft in Bayern, rechnet vor, dass der Staatshaushalt bei 200 eingesetzten Polizisten mit mindestens 100 000 Euro belastet werde. Großeinsätze der Polizei bei Fußballspielen sind längst keine Einzelfälle mehr. Bei Bayern-Derbys ist nahezu immer mit Krawall zu rechnen. Als der FC Bayern München im April vergangenes Jahr den 1. FC Nürnberg zum Heimspiel empfing, kam es vor der Partie zu Ausschreitungen. Randalierende Fans warfen Steine und Flaschen, die Polizei antwortete mit Schlagstöcken und Pfefferspray. Die Bilanz: 30 Festnahmen und 16 verletzte Beamte. (…) Der Freistaat indes lässt es sich einiges kosten, das Modell nicht zu übernehmen: An jedem Fußballwochenende sind 500 bis 1000 Landespolizisten zu Spielen der ersten und zweiten Liga im Einsatz, teilte das Innenministerium mit. Hinzu kommen Bundespolizisten in Bahnhöfen und auf Reisewegen. Das Aufgebot variiere je nach Anzahl der Zuschauer, angereisten Fans und sogenannten Problemfans, sagte ein Ministeriumssprecher. So seien bei einem Heimspiel des FC Ingolstadt 04 etwa 60 bis 200 Landespolizisten im Einsatz, beim FC Bayern mindestens 200. Beim Hochrisikospiel des FC Bayern gegen den VfB Stuttgart im Mai mit anschließender Meisterfeier seien 682 Beamte im Einsatz gewesen, teilt das Polizeipräsidium München mit. Allein in der vergangenen Saison seien 16 Heimspiele des TSV 1860 und des FCB als Hochrisikospiele eingestuft worden. Wie viele Polizisten zusätzlich zum normalen Aufgebot bei Hochrisikospielen eingesetzt werden, sei nicht erfasst“ (Seidel, Jörn, Krawall zulasten der Steuerzahler, in SZ 4.8.2017). Hermann Benker äußerte Unverständnis, warum Bayern sich nicht dem Bremer Vorstoß anschloss: „Der Ligaverband kassiert für die Vermarktung der Fernsehrechte jährlich Hunderte Millionen Euro. Da ist es nicht zu viel verlangt, wenn er für die übermäßige Inanspruchnahme der Polizei eine Sicherheitsgebühr entrichtet“ (Ebenda). Benker lieferte auch eine Erklärung: „Solange unsere Spitzenpolitiker in den Aufsichtsräten der Fußballklubs sitzen, habe ich wenig Hoffnung, dass sich das bundesweit durchsetzt“ (Ebenda). – „In den bayerischen Fußballklubs stößt das Bremer Modell auf erheblichen Widerstand. ‚Der Bremer Senat missachtet rechtsstaatliche Prinzipien‘, sagte ein Sprecher des FC Bayern. Voll des Lobes ist er für Innenminister Herrmann, der bei seiner Meinung bleibt: ‚Für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung liegt die originäre Zuständigkeit beim Staat und damit bei der Polizei.‘ Nur in ihren eigenen Räumen seien die Spielveranstalter verantwortlich für den geordneten Ablauf“ (Ebenda). – „Das Bremer Konzept greift indes nicht nur bei Fußballspielen. Es regelt die ‚Finanzierung von Polizeieinsätzen bei gewinnorientierten Großveranstaltungen‘. Als Voraussetzung für die Kostenbeteiligung gilt, dass eine Veranstaltung auf einen wirtschaftlichen Überschuss abzielt, mehr als 3000 Besucher hat und Störungen der öffentlichen Sicherheit im Vorhinein zu erwarten sind.

– NRW-Innenminister Ralf Jäger will Polizisten reduzieren
Das NRW-Innenministerium „hat einen Erlass ausgearbeitet, der eine Reduzierung der Zahl bei Fußballspielen eingesetzter Polizisten vorsieht. In dem dreiseitigen Dokument, das SPIEGEL ONLINE vorliegt, heißt es, es sollten in einer Pilotphase bis zum 27. September (2014; WZ) diejenigen Spiele der ersten drei Ligen identifiziert werden, die mit weniger oder ganz ohne Beamte der Bereitschaftspolizei auskämen. Laut Jäger wird dazu das Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste in Duisburg unter anderem analysieren, bei welchen Partien es in den vergangenen Jahren Ausschreitungen gab. Zusammen mit aktuellen Erkenntnissen etwa der szenenkundigen Beamten werde der Einsatzleiter dann den jeweils geeigneten Kräfteansatz wählen. Zugleich sollen sich die Vereine stärker als bislang für die Sicherheit in ihren Stadien einsetzen. Generell will Jäger, dass sich Einsatzhundertschaften den Fans künftig nur im Notfall zeigen. (…) ‚Die Polizei wird aber weiterhin für Sicherheit beim Fußball sorgen‘, verspricht Innenminister Jäger. Doch das bezweifelt der NRW-Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Arnold Plickert. ‚Mir macht das Konzept große Bauchschmerzen‘, so der frühere Hundertschaftsführer aus Bochum. ‚Tausende Problemfans werden eine verdeckte Aufstellung der Polizeikräfte als Einladung verstehen, sich in den Innenstädten auszutoben.‘ Die Einheiten würden dann wiederum, wenn Krawalle entstanden seien, mit größerer Härte einschreiten müssen, als wenn sie sie schon im Keim hätten ersticken können. (…) NRW-Innenminister Jäger begründet sein Projekt mit einer strukturellen Überlastung der Bereitschaftspolizei. Schon jetzt müssten die 18 Hundertschaften des Landes ein Drittel ihrer Einsatzzeit auf Fußballspiele verwenden. Durch den Aufstieg zweier weiterer NRW-Vereine in die erste Liga – es handelt sich um Köln und Paderborn – werde sich die Belastung weiter erhöhen. ‚Das kann ich dem Steuerzahler nicht mehr vermitteln‘, so Jäger. Wie aus einem internen Dokument des Ministeriums hervorgeht, setzte die Polizei in der vergangenen Saison bei jedem Spiel der ersten drei Ligen durchschnittlich 235 Beamte ein. Sollte dieser Kräfteansatz beibehalten werden, benötigte NRW in der kommenden Spielzeit 54.285 Polizisten für Fußballspiele – das wären fast 5000 mehr als in der vergangenen Saison. (…) Unterstützung für Jäger kommt auch vom NRW-Landesvorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft, Erich Rettinghaus: ‚Das ist mutig und zukunftsweisend. Wir lassen keinen Zweifel daran, dass die Polizei einschreitet, wenn Straftaten passieren, aber die kräftezehrende Rundum-Betreuung wird es nicht mehr geben.‘ (…) Politisch ist das Manöver dennoch nicht ohne Risiko für Ralf Jäger: Sollte es bei schlecht geschützten Partien zu Krawallen kommen, stünde der Innenminister plötzlich persönlich in der Verantwortung. Sollte sich das Konzept jedoch bewähren, müsste Jäger wiederum die Frage beantworten, warum in den vergangenen Jahren offenbar stets zu viele Polizisten beim Fußball eingesetzt wurden“ (Diehl, Jörg, Eins zwei Polizei, drei vier keiner hier, in spiegelonline 4.8.2014).

– Wasserwerfer für Vereine?
„Die Ankündigung von Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger, bei einigen Fußballspielen der ersten drei Ligen keine Polizei mehr einsetzen zu wollen, hat für gespaltene Reaktionen gesorgt. ‚Es gibt Aufgaben im Umfeld der Stadien und auf dem Weg dorthin, die nur die Polizei wahrnehmen kann‘, sagte etwa Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) der ‚Bild‘-Zeitung. Im Zentrum der Kritik an den Jäger-Plänen steht die Frage: Wer soll gegen Randalierer und gewaltbereite Anhänger vorgehen, wenn keine Polizei vor Ort ist? ‚Der Schutz der friedlichen Fans vor solchen Gruppen gehört zu den Kernaufgaben der Polizei. Und daran wird sich auch nichts ändern‘, sagt Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU). ‚Der Staat hat im öffentlichen Raum das Gewaltmonopol. Das kann kein Verein im Griff haben‘, sagt Dynamo Dresdens Geschäftsführer Robert Schäfer der ‚Bild‘-Zeitung und fragt rhetorisch: ‚Sollen wir uns jetzt Wasserwerfer und Waffen kaufen und vielleicht von Schusswaffen Gebrauch machen?‘“ („Sollen wir uns Wasserwerfer kaufen?“, in spiegelonline 5.8.2014).

– Ein Drittel der Polizeizeit für Fußball
„Das vergangene Wochenende war für die Polizei in Düsseldorf und Essen mal wieder ein recht ereignisreiches. (…) In der Düsseldorfer Altstadt und im Zentrum von Essen schlugen sich Hooligans, bis zu 300 sollen es gewesen sein. Die Gewalttäter kamen aus England, sie waren Anhänger von Newcastle United und West Ham United, die einen Ausflug zum Schalke-Cup in Gelsenkirchen nutzten, um sich gegenseitig zu verprügeln. Nur ein paar Kilometer weiter hielt die Polizei Anhänger von Fortuna Düsseldorf und dem 1. FC Köln auseinander, deren zweite Mannschaften zum Saisonauftakt in der Regionalliga West aufeinandertrafen. Viel mehr hätte auch nicht passieren dürfen in Nordrhein-Westfalen – und das, obwohl die neue Bundesliga-Spielzeit noch nicht einmal begonnen hat“ (Dörries, Bernd, Weniger Polizisten bei Bundesliga-Spielen, in SZ 5.8.2014). Bis zu zehn Prozent mehr Einsätze der Polizei seien durch den Erfolg von Paderborn und Köln zu erwarten, sagte Innenminister Ralf Jäger (SPD) am Montag in Düsseldorf. Bei der angespannten Haushaltslage sei das nicht zu finanzieren: ‚Bereits jetzt verwendet die Bereitschaftspolizei ein Drittel ihrer Einsatzzeit nur für die Sicherheit von Fußballspielen.‘ Jäger will deshalb die Polizeipräsenz bei manchen Spielen reduzieren. Nicht bei brisanten Derbys wie Dortmund gegen Schalke, aber zum Beispiel bei Partien von Bayer Leverkusen, dessen Fans als unproblematisch gelten.  (…) Ligapräsident Reinhard Rauball hat zumindest nichts gegen den Vorstoß aus Düsseldorf. ‚Wir waren im Vorfeld nicht über entsprechende Konzepte informiert. Die Überlegungen des nordrhein-westfälischen Innenministeriums sind aber im Grundsatz durchaus nachvollziehbar.‘ (…) Dass dem so ist, liegt auch an Jägers Klarstellung, dass es ihm nur um eine bessere Verteilung der vorhandenen Kräfte gehe, nicht aber um mehr Geld. (…) Auch Jäger hat wenig Verständnis mit seinen SPD-Kollegen im Norden. ‚Man kann die Sicherheit im öffentlichen Raum nicht einfach anderen aufs Auge drücken.‘ Es sei nun mal die Aufgabe der Polizei, für Ordnung zu sorgen, wenn Menschen feierten. Sonst könne in Deutschland kein Volksfest mehr gefeiert werden, ohne dass danach eine Rechnung von der Polizei komme. Was Jäger durch seinen Vorstoß auch erreichen will, sei eine bessere Koordination der Polizeieinsätze und -taktiken innerhalb der Bundesländer. (…) Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU), der auch Vorsitzender der Sportministerkonferenz von Bund und Ländern ist, sagte, das Gewaltmonopol im öffentlichen Raum obliege der Polizei, die auch weiter mit Großeinsätzen beim Fußball präsent sein werde“ (Dörries, Bernd, Weniger Polizisten bei Bundesliga-Spielen, in SZ 5.8.2017). – „‘Wir wollen mit den friedlichen Fans kooperieren, das ist die Mehrzahl. Wir werden das Konzept bei den Spielen testen, die in der Vergangenheit ohne Krawalle blieben – und das waren die meisten‘, sagt Jäger. (…) ‚Da, wo es in der Vergangenheit immer wieder Probleme gegeben hat, werden wir auch weiterhin mit vielen tausend Beamten im Einsatz sein‘, so Jäger. (…) Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU), der auch Vorsitzender der Sportministerkonferenz von Bund und Ländern ist, sagte, das Gewaltmonopol im öffentlichen Raum obliege der Polizei, die auch weiter mit Großeinsätzen beim Fußball präsent sein werde“ (Glindmeier, Mike, Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Jäger-Vorstoß, in spiegelonline 5.8.2017).

Dazu Heribert Prantl in einem Kommentar in der SZ: „Der Fußball bestimmt das Arbeitsleben der deutschen Bereitschaftspolizei. Dreißig Prozent ihrer Kraft und ihre Kräfte sind durch die Polizeiarbeit vor und bei den großen Fußballspielen gebunden. Wenn sich ein Innenminister da nicht überlegen würde, ob das so bleiben kann, trüge er den Namen Innenminister zu Unrecht. Wenn der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger (SPD) vorsichtig versuchen will, die Polizeieinsätze bei einigen Fußballspielen zu reduzieren, ist das nicht ungehörig. (…) Es ist auch nicht verboten, darüber nachzudenken, ob die Vereine, die ja Wirtschaftsunternehmen sind, an polizeilichen Sonderkosten zu beteiligen sind“ (Prantl, Heribert, Bereit sein ist alles, in SZ 5.8.2014).

Und aus einem Kommentar von Florian Gathmann in spiegelonline: „Nun hat ausgerechnet das kleine Bremen als erstes Land aufbegehrt. Den Vorstoß des dortigen Innensenators, die Deutsche Fußball Liga (DFL) künftig an den Einsätzen bei sogenannten Risikospielen zu beteiligen, torpedierte die mächtige DFL umgehend. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) entzog Bremen ein Länderspiel. Aber die Kostendebatte ist wohl nicht mehr zu stoppen. Den Vorschlag aus der Hansestadt mag mancher noch belächelt haben, aber nun mischt sich auch Nordrhein-Westfalen in die Debatte ein: Der Innenminister des bevölkerungsreichsten Bundeslands will künftig einfach weniger Polizisten zu Spielen schicken, bei denen keine schlimmen Krawalle zu erwarten sind. Das könnte eine Lösung für die Bundesländer sein. Aber sauberer ließe sich das Problem Sicherheit vs. öffentliche Haushaltsnot wohl über das Bremer Modell klären: Nicht weniger Polizisten bei Fußballspielen als bisher, aber dafür eine Kostenbeteiligung der Verbände oder Vereine. So wird es beispielsweise in England oder Frankreich praktiziert. Berechnen ließe sich das – anders als von der Fußball-Lobby behauptet – ohne Probleme. Schließlich stellt in Deutschland regelmäßig die eine Landesregierung der anderen die Kosten für ausgeliehene Polizisten bei Großeinsätzen in Rechnung. (…) Dazu kommt: Auch wenn sie es nach Möglichkeit vermeiden möchten – die DFL und die meisten Vereine könnten sich eine Beteiligung an den Kosten problemlos leisten. Fußball ist ein Millionengeschäft. Und wo das nicht der Fall ist, beispielsweise im Osten des Landes, wäre sicherlich eine gütliche Einigung der Klubs mit der öffentlichen Hand möglich – so wird das beispielsweise bei finanzschwachen Vereinen in Frankreich gehandhabt. Und wer weiß – vielleicht hätte ein Kostenbeteiligungsmodell am Ende auch noch einen weiteren Effekt: Dass die DFL und die Vereine aus monetären Gründen mehr dafür tun, dass ihre Anhänger sich friedlicher verhalten“ (Gathmann, Florian, Wer kicken lässt, soll zahlen, in spiegelonline 5.8.2014).

– GdP gegen DPolG
„Wie diffizil das Thema ist, zeigt auch die unterschiedliche Bewertung der beiden Polizeigewerkschaften, die sich am Dienstag dazu äußerten – und sich selbst offenbar nicht einig sind, wie mit dem Pilotprojekt umzugehen ist. Weniger Polizisten bei Bundesliga-Spielen? Ein ‚Spiel mit dem Feuer‘ sagt die Gewerkschaft der Polizei (GdP), ‚mutig und richtig‘ findet das dagegen die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG). (…)„Die Gleichung, dass mehr Polizei ein höheres Maß an Sicherheit ergibt, geht nicht auf“, sagte der renommierte Fanforscher Gunter A. Pilz, ‚im Gegenteil, das ist eine fatale Botschaft. Ein massives Polizeiaufkommen führt in der Fanszene zu Solidarisierungseffekten gegen diese Machtdemonstration und in der Regel zu mehr Konfrontation‘“ (SZ, SID, „Fatale Botschaft“, in SZ 6.8.2014).

– Armes Bremen
„Mit 20 Milliarden Euro steht der Stadtstaat in der Kreide. 20 Milliarden, bei gut 650 000 Einwohnern. Wer da anfängt zu dividieren, erhält obszöne Ergebnisse. (…) Bremen kann die Extraschichten seiner Polizisten nicht mehr bezahlen, behauptet der Senator. 300 000 Überstunden hätten die 2600 Beamten angehäuft; würde man die auszahlen, kämen mehr als sechs Millionen Euro auf den Haushalt des Innensenators zu. Geld, das nicht da ist. Deshalb soll jetzt die Gebührenordnung geändert werden, damit das Land dem Veranstalter von Bundesligaspielen, der Deutschen Fußball-Liga (DFL), bei außergewöhnlich aufwendigen Einsätzen – sogenannten Risikospielen – Rechnungen schicken kann.(…) Bremen hat die höchste Armutsquote der Bundesrepublik, 23,1 Prozent der Bevölkerung gelten als von Armut gefährdet. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger ist nirgendwo höher, ebenso wie die Zahl der Wohnungseinbrüche. Die ist zwar rückläufig – und doch mit mehr als 500 Fällen pro hunderttausend Einwohnern die höchste in Deutschland. Für die Pflege der Grünflächen wird hier am wenigsten Zeit und Geld aufgewendet. Das Armutsrisiko für Kinder ist in Bremen am größten, die Pro-Kopf-Verschuldung am höchsten, die Zahl der Privatinsolvenzen unübertroffen. Die Chance auf eine gute Ausbildung ist dafür gering, sogar die Lebenserwartung ist in Bremen eher niedrig. Statistisch gesehen also: ein verlorenes Land. (…) Manchmal, sagt Innensenator Mäurer, säßen die Senatoren Bremens beisammen, um über die Verlängerung einer halben Stelle für einen Sozialarbeiter zu beraten“ (Wiegand, Ralf, Bremen verstehen, in SZ 8.8.2014).

– Runder Fußball-Tisch
„Bundesliga-Geschäftsführer Andreas Rettig hat im seit Wochen schwelenden Streit um die Kostenbeteiligung für Polizei-Einsätze in Bremen für einen Dialog geworben. (…) In der Sache aber blieb Rettig hart. Der Vorstoß des Bremer Senats, die Liga künftig an Kosten für Polizei-Einsätze bei Risikospielen zu beteiligen, sei der falsche Weg: „Zu glauben, die DFL gibt einen Scheck, und dann ist alles klar, ist zu kurz gedacht“, sagte Rettig. Stattdessen müsse ein gemeinsames Konzept verfolgt werden, um die Gewalt rund um den Fußball einzudämmen. Dann würden auch die Polizeikosten sinken. (…) Der DFL-Geschäftsführer lobte in der komplizierten Debatte hingegen ausdrücklich das in Nordrhein-Westfalen geplante Pilotprojekt, die Polizeikräfte bei ausgewählten, weniger gefährdeten Bundesliga-Partien zu reduzieren und damit Geld zu sparen“ (DPA, SID, Runder Tisch zum Polizei-Streit, in SZ 11.8.2014).

Fanforscher Jonas Gabler im Spiegel: „Die Polizeieinsatzstunden sind in den vergangenen 15 Jahren im Verhältnis zu den Zuschauerzahlen und auch zur Zahl der registrierten Gewalttäter ständig gestiegen. Daher ist es legitim, sich Gedanken zu machen. Fußballgewalt gibt es seit über 30 Jahren. Seitdem war die Antwort darauf fast immer nur: mehr Polizei. Ich kann mir vorstellen, dass auch manche Einsatzleiter dieses Pilotprojekt über vier Spieltage begrüßen. (…) Ein Drittel der Einsatzzeiten der Bereitschaftspolizei entfällt heute auf Fußballspiele. Es ist ein gesellschaftliches Anliegen, diese Kosten zu reduzieren. Eine weitere Komponente kommt hinzu. Die hohe Polizeipräsenz wird nicht nur von Ultras oder Hooligans, sondern auch von normalen Fußballfans beklagt. Sie sehen ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt. So haben sich zwei Blöcke formiert – Fans auf der einen Seite, Polizei auf der anderen. Das hat zu vielen Konflikten geführt“ („Riesenchance für die Fankultur“, in Der Spiegel 33/11.8.2014).

– FC Bayern gegen TSV 1860
„Mit 3:1 gewann der FC Bayern gegen die Sechzger im Vergleich der zweiten Mannschaften vor knapp 12 500 Zuschauern, die Polizei präsentierte am Mittwoch ganz andere Zahlen: 13 Festnahmen gab es in München, am Bahnhof Grafrath nahmen Bundespolizisten nach Mitternacht noch einmal drei Bayernfans in Gewahrsam, die sich in einem Alex-Zug mit Löwenfans geschlägert hatten. Den Festgenommenen werfen die Polizisten Körperverletzungen, Landfriedensbruch, Verstöße gegen das Sprengstoffgesetz und Beleidigung vor. Vier Polizisten wurden verletzt: Einem Beamten schossen Randalierer aus nächster Nähe eine Leuchtrakete an den Oberkörper, der Qualm drang in den Helm – der Mann erlitt eine Rauchgasvergiftung. ‚Wären unsere Leute nicht geschützt und gepanzert gewesen, würden die Verletzungen bei so etwas wesentlich schlimmer ausfallen‘, sagt ein Polizeisprecher. 500 Anhänger der Löwen hatten sich gegen 17 Uhr auf dem Candidplatz getroffen, um von dort aus zum Grünwalder Stadion zu ziehen. Die Teilnehmer des Marsches zündeten immer wieder Rauchbomben und Feuerwerkskörper, was dort Anwohner belästigte, aber weit weniger problematisch war als am Viktualienmarkt bei den Bayernfans“ (Fuchs, Florian, Leischwitz, Christoph, Fan-Randale auf dem Viktualienmarkt, in SZ 14.8.2014).
Nachlese: „Nach der Partie am vergangenen Dienstag, die die Amateure des FC Bayern mit 3:1 gewonnen hatten, sprach das Präsidium von einer ‚neuen Dimension‘ der Probleme, die es so bei Fußballspielen in der Stadt noch nie gegeben habe. Etwa 400 Anhänger des FC Bayern hatten sich am Abend auf dem Viktualienmarkt getroffen und zahlreiche Bengalos gezündet. Standbetreiber hatten aus Angst um ihre Ware ihre Geschäfte frühzeitig geschlossen. Nach der Viertligapartie mit 12 500 Zuschauern bilanzierte die Polizei 13 Festnahmen wegen Körperverletzungen, Landfriedensbruch, Verstöße gegen das Sprengstoffgesetz und Beleidigung“ (Fuchs, Florian, Spiel und Frieden, in SZ 19.8.2017). Die Polizei setzte „vergangenen Dienstag 400 Polizisten ein, bei normalen Spielen in der Allianz-Arena genügen auch mal 250. Das Präsidium will sich deshalb eng mit dem Innenministerium absprechen, weil Probleme mit Hooligans nicht nur in München bestehen. Bei der Partie Fürth gegen Nürnberg vergangene Woche kam es ebenfalls zu Ausschreitungen“ (Ebenda).

– Rauball droht mit Bundesverfassungsgericht
„Die Deutsche Fußball-Liga (DFL) soll sich nach den Plänen des Bremer Senats an den Kosten für Polizeieinsätze bei Bundesligaspielen beteiligen. DFL-Präsident Reinhard Rauball will das mit allen Mitteln verhindern. ‚Notfalls gehen wir bis vor das Bundesverfassungsgericht‘, sagte der 67-Jährige dem ‚Focus‘ für den Fall, dass die Liga zur Zahlung der anvisierten 300.000 Euro pro Risikospiel aufgefordert würde. (…) Die Bremer Landesregierung will die DFL noch in diesem Jahr an den Kosten für Polizeieinsätze bei Bundesligaspielen des SV Werder im Weserstadion beteiligen. Eine entsprechende Gesetzesänderung beschloss der Senat trotz massiver Kritik aus Politik und Sport“ (Rauball droht Bremen mit Bundesverfassungsgericht, in spiegelonline 16.8.2014). – „Bremen will, dass sich die Deutsche Fußball Liga (DFL) an den Kosten beteiligt, im Raum stehen rund 300 000 Euro pro Partie. ‚Wir drücken uns nicht vor dieser Verantwortung‘, sagte Rauball zu der seit Wochen andauernden Sicherheitsdebatte. ‚Wir wehren uns aber dagegen, dass Bremen ausschert, obwohl wir uns mit der Innenministerkonferenz längst auf Vorgehen und Absprachen geeinigt hatten‘, erklärte der Jurist: ‚Bremens Vorstoß ist einmalig und schafft Rechtsunsicherheit, weil alle anderen Länder ihm nicht gefolgt sind‘“ (DPA, Rauball entschlossen, in SZ 18.8.2014).

– Profifußball geht es „immer besser“
„Dem Profifußball in Deutschland geht es finanziell immer besser. Zwei Drittel (65 Prozent) der Klubs aus erster und zweiter Liga sehen sich in der abgelaufenen Saison in der Gewinnzone. Vor einem Jahr waren es gerade vier von zehn Vereinen (39 Prozent). Das ergab die jährliche Umfrage der Unternehmensberatung Ernst & Young (EY) bei den Profiklubs. Die Anzahl der Vereine, die beim Gewinn an der Nulllinie herumkrebsen, ist deutlich gesunken – von 24 auf drei Prozent. ‚Der deutsche Profifußball hat seine Hausaufgaben gemacht und steht heute erfreulich gut da‘, sagt EY-Manager Hubert Barth. Besonders gut hat sich die erste Bundesliga entwickelt. Dort sehen 72 Prozent der Klubs in der abgelaufenen Saison einen Gewinn, etwas mehr als im Vorjahr. 28 Prozent gehen sogar von einem hohen Gewinn aus. Auch die anderen Klassen weisen bessere Ergebnisse aus als 2013: In der zweiten Bundesliga erwarten 59 Prozent der Klubs einen Gewinn, in der dritten Liga sind es 19 Prozent. (…) In der Saison 2012/13 setzten die Klubs der ersten und zweiten Liga nach Zahlen der Deutschen Fußball-Liga (DFL) 2,6 Milliarden Euro um. In der Umfrage von EY gaben nun sechs Erstliga-Klubs an, dass ihr Umsatz bei mehr als 100 Millionen Euro liegt. Nur zwei Erstligisten nahmen weniger als 50 Millionen Euro ein. (…) Der größte Einnahmeblock kommt aus den Medienrechten. In der abgelaufenen Saison zahlten Fernsehsender und Internet-Dienstleister den Profivereinen 653 Millionen Euro. In der neuen Saison werden es 57 Millionen Euro mehr sein. Die weiteren Einnahmequellen sind Eintrittsgelder, Werbung und Sponsoring, Transfers sowie Merchandising“ (Freiberger, Harald, Ballkünstler, in SZ 21.8.2014).

– 70 Millionen Euro kosten Polizeieinsätze
„70 Millionen Euro allein in der vergangenen Saison – wer soll die Polizeieinsätze bei Bundesligaspielen bezahlen? Seit Wochen wird darüber gestritten, vor allem in Bremen. (…) 300.000 Euro pro Spiel: An diesen Kosten für den Einsatz der Polizei soll sich künftig die DFL beteiligen, so hat es der Bremer Senat im Juli beschlossen. Davon will sich der Deutsche Fußball-Bund augenscheinlich aber nicht beeindrucken lassen. (…) Insgesamt haben Polizeieinsätze bei Bundesligaspielen den Steuerzahler in der vergangenen Saison rund 70 Millionen Euro gekostet, hinzu kamen erhebliche Kosten für Transport und Unterbringung der Beamten. Aber es gibt große Unterschiede zwischen den verschiedenen Mannschaften und Spielorten. Abgerechnet werden meist sechs bis acht Stunden Dienst pro Polizist und Spiel, nur bei etwa jedem zehnten Spiel dauert der Einsatz durchschnittlich mehr als acht Stunden. Normalerweise sind pro Spiel keine 300 Polizisten vor Ort. Krasse Ausreißer mit mehr als 1000 eingesetzten Polizisten und mehr als 9000 Einsatzstunden lassen sich an einer Hand abzählen und haben eines gemeinsam: Es sind Regional-Derbys, deren Krawallpotenzial traditionell höher ist. (…) An welchen Spielorten gibt es den größten Polizeiaufwand? Betrachtet man die 20 Spiele mit den meisten Einsatzstunden, so taucht tatsächlich Bremen fünf Mal auf; Dortmund, München und Schalke nur je drei Mal, obwohl sie deutlich größere Stadien haben. Bremen gehört auch zu den Spitzenreitern beim Polizeiaufwand pro Zuschauer: Wieder taucht es fünf Mal unter den Top 20 auf, übertrumpft nur vom Sonderfall Braunschweig, in dessen Stadion vergleichsweise wenige Zuschauer passen“ (…) Schon jetzt investieren auch die Vereine in die Sicherheit bei ihren Heimspielen: Im Schnitt stellen sie mehr als doppelt so viele Ordner wie die Polizei Polizisten. Allerdings zeigt sich ein merkwürdiges Missverhältnis ausgerechnet bei Problemspielen. Betrachtet man die 20 Spiele mit den meisten Einsatzstunden der Polizei, so sind hier weniger Ordner als Polizisten vor Ort“ (Hunger, Bertolt, Elmer, Christina, Polizeieinsätze in Braunschweig und Bremen am größten, in spiegelonline 22.8.2014).

– Anfrage von MdL Katharina Schulze (Bündnis 90/Die Grünen) vom 20.8.2014: -Polizeieinsätze bei Fußballspielen. In Klammern Auszüge der Antworten des Staatsministeriums des Innern vom 23.10.2014)
1.Wie haben sich die Einsatzzeiten von Polizeieinsatzkräften bei Fußballspielen in Bayern seit  dem Jahr 2010 entwickelt (bitte aufschlüsseln nach 1. Liga, 2. Liga, 3. Liga, Regionalliga)?
(Bundesliga 2009/10: 63.694; 2013/14: 96.010; 2. Bundesliga 48.370; 55.301)

1.1 Wie verhalten sich die Einsatzzeiten der Bayerischen Polizei zur Sicherung von Fußballspielen zu den Gesamteinsatzzeiten der Bayerischen Polizei?
(Keine Statistik vorhanden)

  1. Wie setzen sich diese Polizeieinsatzkräfte zusammen (Bayerische Polizei, Polizei aus anderen Bundesländern, Bundespolizei)?
    (Grundsätzlich Einsatzkräfte der Bayerischen Polizei; wenn diese nicht ausreichen, Unterstützungskräfte aus anderen Bundesländern)
  2. Wie viele Spiele sind in dieser Saison und waren seit dem Jahr 2010 pro Saison in der ersten, zweiten und dritten Fußballbundesliga in Bayern angesetzt?
    (2013/14: Bundesliga 51, 2. Bundesliga 51)
  3. Wie viele Spiele werden oder wurden davon als Hochrisikospiele eingestuft?
    (2013/14: 39)

4.1 Werden oder wurden darüber hinaus Spiele als Hochrisikospiele eingestuft?
(2013/14: 8)

  1. Wie viele Polizeieinsatzkräfte werden bei „normalen“ Fußballspielen eingesetzt (bitte aufschlüsseln nach 1. Liga, 2. Liga, 3. Liga, Regionalliga)?
    5.1. Wie viele Polizeieinsatzkräfte werden bei sogenannten Hochrisikospielen eingesetzt (bitte aufschlüsseln nach 1. Liga, 2. Liga, 3. Liga, Regionalliga)?
    (Keine gesonderte Statistik. 2013/14: Kräfte Bundesliga 12.841; 2. Bundesliga 8.683)
  2. Wie hoch ist die Anzahl der gewaltbereiten Fußballfans in Bayern?

(6.1 Wie hoch ist die Anzahl der gewaltbereiten Fußballfans deutschlandweit?
Zusammen waren 2014 in Bayern ca. 1700, bundesweit 18.000 Personen bekannt)

  1. Welche Kosten fielen für Polizeieinsätze zur Sicherung von Fußballspielen in Bayern seit 2010 an (bitte aufschlüsseln nach 1. Liga, 2. Liga, 3. Liga, Regionalliga)?
    8. Welche Kosten trägt davon der Freistaat Bayern, welche Kosten tragen andere Bundesländer oder der Bund?
    (Fragen 7 und 8 zusammen: „Polizeieinsätze bei Fußballspielen dienen der Aufrechter-haltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und laufen überwiegend im Umfeld der Veranstaltungen ab. Aufgaben des Veranstalters, wie Zugangskontrollen oder Ordnertätig-keiten, nimmt die Polizei dabei nicht wahr. Da für dieses hoheitliche Handeln der Polizei nach geltender Rechtslage vom Veranstalter keine Kosten erhoben werden können, werden auch keine Aufzeichnungen bezüglich der Höhe, Zusammensetzung, örtlichen Verteilung oder nach sonstigen Kriterien geführt. Insoweit können hierzu auch keine Zahlen benannt werden.“)
    Dazu die DPA-Meldung: „Bayerns Polizei muss zur Verhinderung von Gewaltexzessen bei Fußballspielen einen immer größeren Personalaufwand betreiben. Sowohl die Zahl der beteiligten Polizisten als auch die Einsatzzeiten sind stark gestiegen. Das geht aus der Antwort des Innenministeriums au

Apr 182017
 
Zuletzt geändert am 02.12.2017 @ 12:22

Vorbemerkung:
Mit diesem Beitrag möchte ich vorläufig die Arbeit an der Webseite abschließen, an der ich gemeinsam mit dem Netzwerk NOlympia sieben Jahre gearbeitet habe. Aktualisierungen erfolgen bei Bedarf.
Der weitere Weg scheint klar: Der globale Sportkonzern IOC mit dem Oligarchen Thomas Bach an der Spitze hat den Weltsport offensichtlich fest im Griff. Die Förderung undemokratischer Prozesse im Sport („Sportdemokratur“) wird sich noch verstärken, die Tendenz zur Vergabe von Sportereignissen an autoritäre Regime wird weiter anhalten. Damit verschärfen sich auch die Dopingprobleme. Falls dies so weitergeht, werden auch Korruption und Schiebungen im Milliarden-Business Sport weiter zunehmen.
Es gäbe zu NOlympia auch durchaus noch weitere Themen zu bearbeiten: zum Beispiel die Tendenzen, mit der bereits Kinder- und Jugendliche kritiklos dem Hochleistungs- und Spitzensport zugeführt und geopfert werden. (Vgl. hierzu den Arte-TV-Film: Die Kehrseite der Medaille)
Wir würden uns freuen, falls externe Kenner und Kritiker des Spitzensports uns aktuelle und fundierte Beiträge zur Verfügung stellen.

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Schneller, höher, stärker: Frühinvalide

Gliederung:
Zur Absicht
1. Teil: Sport gegen Gesundheit
1.1. Das Olympische Motto * 1.2. Spitzensport und Gesundheit * 1.3. Illusionen und Sportideologien * 1.4. Sommersport: Leichtathletik – Radfahren – Fußball – Tennis – Handball – Basketball – Turnen – Gewichtheben – Klettern – Radsport – BMX – Mountainbike * 1.5. Wintersport : Skirennen – Zitate aus der Ski-Welt – Skispringen – Snowboard – Bob – Eislaufen – Biathlon – Eishockey – Golf * 1.6. Noch extremerer Sport: Die X-Games – Die Winter-X-Games – American Football – Boxen – Wrestling – Mixed-Martial-Arts – Motorsport
2. Teil: Schlechte Perspektiven
2.1. Zitate zum Sport * 2.2. Gehirnschäden * 2.3. Nach der Karriere
3. Teil: Die Kosten von Brot & Spiele
3.1. Zur Position der Berufsgenossenschaft * 3.2 Krankenversicherung * 3.3. Invaliditätsversicherung * 3.4. Doping
Fazit
Quellen

Zur Absicht
In diesem Beitrag geht es nicht darum, Spitzensportler zu diskriminieren. Sie werden – durch den Verwertungsdruck und aufgrund der Millionengeschäfte im Sport – seit Jahrzehnten gnadenlos ausgebeutet und gesundheitlich ruiniert. Viele sind am Ende ihrer kurzen Sportkarriere gesundheitlich schwer geschädigt, berufsunfähig oder Frühinvaliden. Die Allgemeinheit muss oftmals sowohl für die Kosten der Sportunfälle und der bleibenden Schäden als auch für deren Spätfolgen aufkommen. Auf die psychischen Folgen und Schädigungen kann hier nicht eingegangen werden: Sie wären ein eigenes Thema wert.

Die von mir seit Jahren gesammelten Meldungen stellen keine wissenschaftliche Untersuchung oder gar eine sportmedizinische Abhandlung dar. Diese Aufzählung soll an Einzelbeispielen über Karrieren in den verschiedenen Spitzen- und Hochleistungssportarten – und über das Leben nach der Sportlerkarriere- aufklären.
Besonders verhängnisvoll ist die Vorbildfunktion der in den Medien gefeierten Sportheroen für die nachfolgenden Jungsportler: Sie sind die nächsten Sport-Frühinvaliden.

Ich habe oft nur wenige Beispiele, manchmal auch nur einen besonderen Fall aufgenommen: Die Fallbeispiele erheben keinen Anspruch auf Vollständigkei

1. Teil: Sport gegen Gesundheit

1.1. Das Olympische Motto
„Citius, altius, fortius“ – „Schneller, höher, stärker“ wurde 1894 von Pierre de Coubertin als olympisches Motto vorgeschlagen, 1924 erstmals zitiert und 1949 in die IOC-Satzung aufgenommen. Es ist am Anfang des 21. Jahrhunderts – angesichts der sich auf vielen Gebieten andeutenden Katastrophen ein beispielhaft einfältiges Motto, das vom IOC noch  immer als Leitmotiv verwendet wird.
Unter dem Titel „Citius, altius, mortuus“ stellte der Theologe und Jesuit Alois Koch bereits 1988 bei einer Tagung zum Hochleistungssport fest: „Die fast einhellige Meinung war diese: Was muss bei  der Produktion von  sportlichen Höchstleistungen an Geld investiert werden von Vereinen, Verbänden, von Bund und Ländern? Wie wird die Höchstleistung honoriert? Was wird dabei verdient?“ (Koch 1988). Nach Henning Eichberg ist der Hochleistungssport der „Kultus der Industriereligion“ (Ebenda).

1.2. Spitzensport und Gesundheit
Bereits 1987 war im Spiegel zu lesen: „Genaugenommen sind Hochleistungssportler eine Division von Sportkrüppeln und Frühinvaliden. Für den Applaus und den Platz auf dem Siegertreppchen nebst seinen geldwerten Folgen müssen sie bitter bezahlen – die einen früher, der andere später“ (Spiegel 37/7.9.1987).
Der österreichische Sportmediziner Ludwig Prokop hat in einem Interview darauf hingewiesen, „dass bei etwa 80 % der untersuchten österreichischen Hochleistungssportler irreversible Dauerschädigungen festgestellt wurden, ohne dass bereits Beschwerden oder schmerzhafte Wahrnehmungen bestanden“ (Koch 1988).
Eine der größten Lügen im Sport ist wohl die Behauptung: „In einem gesunden Körper steckt immer ein gesunder Geist.“ Auf die Frage, was er von diesem Satz halte, antwortete der Psychiater Frank Schneider vom Universitätsklinikum Aachen, der im Jahr 20 bis 30 Profisportler behandelt, im Spiegel-Interview: „Nichts, wenn es um Leistungssportler geht“ (Gilbert, Großekathöfer 1.8.2011). Die Athleten, die zu ihm kommen, „sind depressiv oder zwangskrank, haben Tics, leiden unter Angstzuständen, haben Essstörungen. Oder sie sind abhängig von Alkohol, von Medikamenten. (…) Wir hatten vor einigen Wochen eine Top-Schwimmerin hier, schwer depressiv. (…) Sie kam nicht damit klar, nicht die Beste zu sein“ (Ebenda). Dazu kommen Burnout, Depressionen, Angstzustände, Suizidgefährdung. Dazu wiederum der Theologe Alois Koch 1995: „Der Leistungssport hat den Rubikon in Richtung ’Inhumanität’ schon überschritten. (…) Der Leistungssport ist in der Gefahr, zu einer Ideologie zu werden, ja einen quasi-religiösen Charakter anzunehmen und ‚Heil’ zu versprechen. Ein Symptom dafür ist die weitgehend übliche ‚Gleichung’ von Sport und Gesundheit“ (Koch 1995).
Der Mannschaftsarzt des deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), Helmut Schreiber, äußerte 2011: „Hochleistungssport ist kein Gesundheitssport. Nicht nur in der Leichtathletik“ (Hahn 1.9.2011). Oft sei es nötig, den Schmerz auszuschalten – mit Auswirkungen: „Diclofenac hat zum Beispiel Auswirkungen auf die Leber, auf die Niere, vor allem auf den Magen-Darm-Trakt“ (Ebenda). Und oft starten die Athleten trotz Verletzungen. „Aber derartige Entscheidungen sind nicht nur von medizinischen Erwägungen abhängig, sondern sicher auch von anderen, beispielsweise von finanziellen“ (Ebenda).
Symptomatisch ist auch die Geschichte der russischen Eiskunstläuferin Julia Lipnitskaja: „2014 erreichte Julia Lipnitskajas Karriere ihren Höhepunkt. Im zarten Alter von vier Jahren hatte sie erstmals Kufen unter den Füßen getragen, als Elfjährige war sie zur professionellen Ausbildung nach Moskau gezogen. Mit 15 war sie bereits die beste Eiskunstläuferin Russlands – pünktlich zu den olympischen Winterspielen in Sotschi. (…) Seither jedoch fügten sich immer dunklere Kapitel in die Karriere der Eiskunstläuferin, die am Montag vorläufig endete. Mit gerade einmal 19 Jahren gab die Entdeckung von Sotschi ihren Rücktritt bekannt. Der Grund: Magersucht. Schon Ende 2014 klagte Lipnitskaja über ‚konstanten Stress‘ und darüber, wie schwer es sei, ihre eigenen Erwartungen und die ihrer zahlreichen Fans zu erfüllen. (…) Lipnitskaja hungerte sich in Gewichtsregionen herunter, die ihre Gesundheit gefährdeten. Sie wurde magersüchtig. Vor drei Monaten begab sie sich schließlich in professionelle Behandlung. Über ihren aktuellen Zustand ist bislang nichts bekannt, fest steht aber: An Sport ist derzeit nicht zu denken“ (spiegelonline 29.8.2017).

1.3. Illusionen und Sport-Ideologien
Die Sportler sehen sich oft als Vorbild für den „gesunden Sport“. Und sie sind oft selbst bereit, freiwillig jede Risikoschwelle zu überschreiten – aus einem Gefühl der vermeintlichen Unverletzlichkeit. Hierzu drei Zitate von beliebig vielen:
Silke Spiegelburg, Stabhochspringerin: „“Wenn wir durch die Übertragungen die  Leute dazu bringen, dass sie Interesse am Sport haben, haben wir dadurch schon gewonnen. Das ist das, was wir als Sportler zu einer gesünderen Gesellschaft beitragen“ (Hahn 27.8.2011).
Seth Wescott, Snowboard-Olympiasieger: „Wenn man für den Moment lebt, ist es egal, was morgen passiert. Mit dieser Lebenseinstellung kommt man sehr weit – denn vielleicht gibt es ja gar kein Morgen mehr“ (Arnu 31.10.2011).
BMX-Fahrer Chad Kagy: „Wer Angst hat, darf nicht starten“ (Tögel 1.7.2013).

Es folgt eine kleine und bei Weitem unvollständige Auswahl von Sportlern und ihren Verletzungen. Der aktuelle Gesundheitszustand bzw. die Pflegebedürftigkeit der ehemaligen Sportler ist vielfach unbekannt, ähnlich die Quote der Berufsunfähigen.

1.4. Sommersport

Leichtathletik
Liu Xiang
(*1983), CHN. Hürdensportler, Achillessehnenverletzung, Rücktritt 2015. Zitat, an die Hürden gerichtet: „Ich bin wirklich alt und krank, ich kann euch nicht mehr nehmen“ (Hahn 8.4.2015).
Michael Schrader (*1987), DEU,  Zehnkämpfer, Sportsoldat. 2008 Stressfrakturen, Ermüdungsbruch im Kahnbein. Unfall am 22.1.2016: Durchriss der Patellasehne, Kreuzbandriss, Außen- und Innenbandriss am Knie, zerstörter Meniskus.
Kira Grünberg (*1993), AUT, Stabhochsprung. 15.7.2015 Riss des rechten Außenbandes; beim Sprung am 30.7.2015 landete Grünberg vor der Matte – Bruch des 5. Wirbels der Halswirbelsäule; querschnittsgelähmt.

Radfahren
Ohne Doping geht nichts – von  Lance Armstrong bis zu den heutigen Rennställen. Vgl. Links unter www.nolympia.de zu Armstrong und McQuaid, UCI, Verbruggen: hier)

Fußball
„Nicht der Ball ist das Sportgerät des Fußballers, sondern sein Körper. Den kann zusätzlich zu den Risiken eines normalen Arbeitnehmers jederzeit eine Sportverletzung treffen, die das Ende der Karriere bedeutet – vorübergehend oder endgültig. Anders als die meisten Berufstätigen kann ein Fußballprofi den Job durchschnittlich nur 12,5 Jahre ausüben. Dann ist die sportliche Karriere zu Ende – spätestens. Denn von Verletzungen bleibt kaum ein Leistungssportler verschont. Kommen zum Trümmerbruch eines Gelenkes oder gerissenen Bändern noch Komplikationen wie Infektionen dazu, dann wird aus einem Karriereknick schnell das Karriereende. Das ist der Super-Gau, der größte anzunehmende Unfall für einen verwöhnten Fußballprofi. Diesen Fall soll eine Sportinvaliditätsversicherung abdecken, bei der es keine Berufsunfähigkeitsgrade gibt wie bei normalen Versicherungen für Berufstätige. Der Fußballer kickt oder er kickt nicht“ (Kuntz 18.8.2012; Hervorhebung WZ).

Zur Assekuranz im Fußball: „Rund 3000 Euro Prämie im Monat zahlen die Spitzenverdiener der Bundesliga für den Schutz vor Invalidität. Nach Angaben des Versicherungsmaklers Aon erleidet jeder Profifußballer pro Saison statistisch 2,5 Verletzungen, eine davon ist so schwerwiegend, dass er danach für längere Zeit ausfällt. ‚37 Prozent aller Verletzungen betreffen allein das Knie‘, sagt Stefan Gericke, Sportexperte bei dem Makler, der rund 100 Profifußballer der ersten und zweiten Bundesliga in Versicherungsfragen betreut. Knieverletzungen sind auch einer der Hauptgründe, weswegen Fußballer ihre Karriere aufgeben müssen. (…) Wie bei jedem anderen Arbeitnehmer auch zahlt der Arbeitgeber, also der Club, das Spielergehalt nur bis zum 42. Tag weiter. Danach springt die Berufsgenossenschaft ein, falls sich der Fußballer im Spiel, beim Training oder auf dem Weg dorthin verletzt hat. Die monatliche Leistung beträgt maximal 4900 Euro für maximal 72 Wochen. Ist der Spieler in seiner Freizeit verunglückt, gibt es nur das gesetzliche Krankengeld in Höhe von maximal 2100 Euro, ebenfalls für höchstens 72 Wochen, sofern der Fußballer gesetzlich krankenversichert ist“ (Krieger 7.8.2013).

Zur Invaliditätsversicherung: „Gegen das Risiko, wegen eines Unfalls oder einer Erkrankung nie wieder spielen zu können, sichern sich viele Fußballer meist mit einer sogenannten Sportinvaliditätsversicherung ab. Denn auch hier ist die gesetzliche Absicherung mager: Die Berufsgenossenschaft zahlt maximal 4667 Euro brutto im Monat bei 100 Prozent Invalidität“ (Ebenda).

Claudio Catuogno in der SZ zum körperlichen Verschleiß bei Fußballern: „Es drängt sich der Eindruck auf, dass nicht die singuläre Verletzung das Problem ist. Sondern der allgemeine Verschleiß. Die Profi-Karriere beginnt heute oft schon in der B-Jugend, ab der A-Jugend gibt es dann die Junioren-Champions-League. Zugleich wird das Spiel immer intensiver: mehr Laufkilometer, mehr Sprints, mehr Zweikämpfe. Mit der Intensität steigt wiederum nicht nur die allgemeine Ermüdungs-, sondern auch die konkrete Verletzungs- Gefahr. Der moderne Vollgasfußball frisst seine Kinder, noch ehe sie 30 sind“ (Catuogno 18.11.2013).

Dazu kommt die Datenerfassung im Profifußball der Bundesliga: „Keiner der 396 Spieler kann mehr einen Schritt machen, ohne dass die Software jede seiner Bewegungen festhält, analysiert, aufbereitet, vergleicht“ (Schnibben 1.8.2011).
Zu Fußball-Frühinvaliden und -Langzeitverletzten gibt es ungezählte Beispiele die über Jahrzehnte bekannt wurden. Hier vier ganz „normale“ Fälle:
Daniel Bierofka (*1979), DEU, 1. und 2. Bundesliga. Bandscheibenvorfall, Knöchelbruch, Über 20 Operationen; Rücktritt 2014.
Hope Solo (*1981), USA, Nationaltorhüterin. 2010 Schultergelenk-OP mit zehn Schrauben.
Lena Lotzen (*1993), DEU, September 2013 Bruch des Mittelfußes, November 2013 erneuter Bruch an derselben Stelle; August 2014 Kreuz- und Innenbandriss im linken Knie; März 2017 Kreuz- und Innenbandriss im linken Knie (Dreher 29.6.2017).
Christian Cappek (*1990), DEU, Schlüsselbeinbruch, seit Februar 2016 drei Knieoperationen, gerissene Patellasehne mit 14 Monate Pause, Rücktritt März 2017, Sportinvalide (Kirchmeier 19.7.2017).

Und natürlich gibt es – von der Öffentlichkeit weitgehend ignoriert – gerade im modernen Fußball das Problem des Dopens. Dazu Thomas Kistner in der SZ: „In Zeiten, in denen Geheimdienste beim Dopen helfen und verfeinerte Nachtests die Umverteilung von Olympiamedaillen zur Tagesroutine machen, müssen selbst passionierte Träumer erkennen: Sport steckt in der Systemfalle. Wie wird man heute immer stärker, schneller, zäher – ohne all die hocheffektiven Mittel? Das Traumgespinst vom sauberen Sport ist geplatzt. Aber: Eine Episode aus der Märchensammlung trotzt weiterhin jeder Aufklärung – die vom dopingfreien Profifußball. Es ist müßig, die unzähligen Belege anzuführen, vom Schmerzmittelmissbrauch über all die Enthüllungen, die oft späten Geständnissen früherer Stars entstammen, bis hin zu den auffallend wenigen Blut- und Hormonstudien, die es zum weltgrößten Sportbusiness gibt. Jüngst zeigte eine wissenschaftlich gesicherte Studie eine Dopingmentalität unter Fußballprofis hierzulande von zehn bis 35 Prozent. Na und? (…)  Der reiche Fußball ist abgesichert; er wird immer energetischer. Siegerteams brauchen heute neben der Klasse größte Dynamik. Wie so eine Entwicklung funktionieren kann? Egal, einfach an das Gute glauben“ (Kistner 5.4.2017).
Dazu kommt die verhängnisvolle Vorbildfunktion des Spitzensports für Kinder und Jugendliche. „Rund 15 000 Kinder spielen Fußball an DFB-Stützpunkten, außerdem gibt es 11 500 Eliteschüler des Sports in Deutschland. Sie alle träumen von einer großen Sportlerkarriere. (…) Die Interessen und das Wohl der Kinder bleiben dabei oft auf der Strecke. Und die meisten der Kinderträume von der großen Sportkarriere ebenfalls. Denn nur die wenigsten der vielen Tausend, die es versuchen, kommen schließlich auch ganz oben an“ (Schültke 11.5.2015).

Tennis
Das Beispiele für viele: Boris Becker (*1967), DEU. U. a. Syndesmosenbandriss, OP an beiden Hüftgelenken, 10 cm lange Platte im Sprunggelenk mit sechs Schrauben gehalten, kann nach sieben Operationen kaum noch Sport ausüben. Becker: „Ich kann leider aufgrund von schweren Verletzungen nicht mehr viel Sport machen. Ich habe eine neue Hüfte, habe eine zehn Zentimeter lange Eisenplatte im Sprunggelenk. Ich kann nicht mehr joggen. Ich kann nur noch zu Charity-Zwecken etwas Tennis spielen“  (Trentmann 7.10.2013).

Handball
Das Beispiel Iker Romero
(*1980), ESP. Zitat: „Allein im rechten Knie hatte ich fünf Operationen (…) Ich habe eine chronische Arthrose. Und nach Spielen hab ich oft das Gefühl, dass das Knie platzt. (…) Frakturen in beiden Knöcheln, eine chronische Sehnenscheidenentzündung im linken Knie, einen Riss der Supra-ich-weiß-nicht-was-Sehne im Ellbogen, einen rechten Schulterbruch, bei dem zwei von drei Sehnen gerissen sind. Der einzige Finger, der mir nicht brach, ist dieser hier (er zeigt den rechten Zeigefinger). Der ist mir völlig rausgeflogen. Zwei Nasenbeinbrüche, sechs Stiche, als mein rechtes Auge genäht werden musste, oder links? Das weiß ich jetzt nicht mehr“ (Cáceres 15.5.2015).

Basketball
Moritz Wohlers
(* 1984), DEU. 2 Knieoperationen, Spritzenkuren, Meniskuseinriss, Knorpelschaden (Schmid 6.3.2014). „Die Ärzte haben mir empfohlen, lieber mit dem Sport aufzuhören, damit ich auch mit 40 Jahren noch normal gehen kann“ (Ebenda).

Johannes Herber (*1983), DEU, Basketball-Nationalspieler. 2 Kreuzbandrisse seit 2007, Rückenprobleme, Entzündung von Schleimbeutel und Knochenhaut der Ferse, Rücktritt 2012. Herber,: „Ich hab noch genau im Kopf, was ich für Schmerzen hatte. Wie es mich mitgenommen hat… „Je stärker ich litt, desto besser glaubte ich, trainiert zu haben. Schmerzen zu tolerieren gehörte dazu und war sogar zwingend notwendig, um Grenzen auszuloten und sie weiter hinauszuschieben… Am Tag nach meinem ersten Kreuzbandriss trainierte ich… Mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Es war, als ob er sagte: Jetzt bestimme ich! Plötzlich kämpften wir gegen- statt miteinander… Ich habe es satt, verletzt zu sein. Ich habe es satt, mit Schmerzen zu spielen“  (Dach, Spannagel, 6.4.2014).

Turnen
Kreuzbandrisse 2014 bei: Janine Berger, Nadine Jarosch, Marcel Nguyen
Kim Janas (*2000), DEU. Drei Kreuzbandrisse mit 16 Jahren; Karriereende 2016.
Fabian Hambüchen (*1987), DEU. Olympiasieger 2016. 2009 Bänderriss linkes Sprunggelenk, 2011 Riss Achillessehne, 2016 abgerissene Achillessehne. Hambüchen zum seit 2006 geltenden Bewertungssystem: „Es gibt kein Limit nach oben, viele meinen, immer volles Risiko gehen zu müssen“ (Spiegel 22.9.2014).
„Dass der Turn-Sport mit seinen immer weiteren Drehungen,  immer höheren Flugkurven und verdichteten Übungen riskanter wird, liegt auf der Hand“ (Kreisl 20.9.2014).

Gewichtheben
Gerd Bonk
(*1951, †2014), DDR. Doping-Opfer der DDR, bis zu 11,5 Gramm Oral-Turinabol jährlich, Diabetiker, Nierenversagen, Dialysepatient. Bonk 2014: „Verheizt von der DDR, vergessen vom vereinten Deutschland“ (Herrmann 15.6.2013).
Matthias Steiner (*1982), DEU. Olympische Sommerspiele London 2012:, 2. Versuch im Reißen mit 196 Kilogramm: Bandverletzung an der Halswirbelsäule, Prellung des Brustbeins, Muskelzerrung Brustwirbelsäule, Rücktritt 2013.Milen Dobrew
(*1980), BGR. Olympiasieger 2004, starb mit 35 Jahren im März 2015, Todesursache unbekannt.
Im April 2015 wurde bekannt, dass  elf bulgarische  Gewichtheber positiv auf  Doping getestet wurden. 2008 musste Bulgarien wegen positiver Dopingtests sein komplettes Team für Peking zurückziehen. (Siehe auch 3.4.)

Klettern
Stefan Glowacz
(*1965), DEU. Komplizierter Fersentrümmerbruch, Kahnbeinbruch, Meniskusschäden.
Didier Berthod (*1981), CHE. Probleme in beiden Knien, Bandoperation.
Thomas Huber (*1966), DEU. 2016 Sturz aus 16 Meter Höhe – Schädelfraktur, Wirbelsäulenverletzung.
Alexander Huber (*1968), DEU. 2005 Sturz aus 17 Meter Höhe – schwere Verletzungen an den Sprunggelenken. Alexander Huber: „An der Grenze zum Tod musst du umkehren. Wir Bergsteiger können unsere Leistung aber nur dann präsentieren, wenn wir erfolgreich waren. Deshalb existiert dieses schiefe öffentliche Bild“ (Wolfsgruber 14.10.2013).
Ueli Steck (*1977, † 2017): „Einer der bekanntesten Bergsteiger der Welt ist tot: Der Schweizer Ueli Steck verunglückte bei einer Expedition am Mount Everest. Rettungskräfte fanden die Leiche des 40-Jährigen in der Nähe des 7000 Meter hohen Nuptse-Berges. (…) Steck war immer auf der Suche nach neuen Extremen. In Nepal wollte er erneut einen Weltrekordversuch wagen: Eine Besteigung des Mount Everest, mit 8848 Metern der höchste Berg der Welt, und des daneben gelegenen Lhotse (8616 Meter) – innerhalb von 48 Stunden, ohne künstlichen Sauerstoff. (…) Die Besteigung binnen 48 Stunden hätte einen weiteren Weltrekord bedeutet“ (spiegelonline 30.4.2017). Aus einem Nachruf von Natascha Knecht: „Ueli Steck ist tot. Abgestürzt. 1000 Meter tief gefallen. Bei einer Akklimatisationstour am Nuptste (7861 m). Er war 40-jährig, verheiratet, keine Kinder. (…) Die Vorbereitung für seine Rekordtour tüftelt er mit Experten des Nationalen Sportzentrums Magglingen aus. Dazu gehört auch ein Ernährungsplan und mentales Coaching. Im Alpinismus war dies eine völlig neue Entwicklung. Doch Steck definiert sich schon lange nicht mehr als klassischer Bergsteiger, sondern als Spitzensportler. Sein Motiv war nicht das Erlebnis in der Natur, die Gemächlichkeit am Berg, die Entschleunigung – was den Alpinismus seit 150 Jahren ausmacht. Er hat den ‚athletischen Alpinismus‘ erfunden. Oder wie es Bergsteiger-Legende Reinhold Messner einmal ausdrückte: den ‚Zahlenalpinismus‘, bei dem es weniger um das Geheimnisvolle und Unbekannte im Gebirge geht als um Höhenmeter, Distanzen und schnelle Zeiten, die mit der Stoppuhr gemessen werden. Jetzt hat es Ueli Steck aus der Wand ‚gespickt'“ (Knecht, Natascha, „Gescheitert bin ich, wenn ich nicht mehr nach Hause komme“, in spiegelonline 1.5.2017).

Radsport
Werner Bartens über die Tour de France 2017 in der SZ: „Braucht man viel Mut oder wenig Hirn? Auch ohne Regen ist es waghalsig, sich auf zweieinhalb Zentimeter dünnen Reifen mit 110 Kilometer pro Stunde von einem Alpenpass ins Tal zu stürzen. Sind die Straßen nass, wie am Sonntag während der Tour de France, wird es lebensgefährlich. Trotzdem erreichten die Fahrer auf glitschiger Fahrbahn 90 Kilometer pro Stunde. Nicht alle kamen an. Wirbelbruch, Beckenbruch, Schlüsselbeinbruch lauteten die Diagnosen. Zwölf Fahrer mussten allein an diesem Tag aufgeben.   Spitzenleistungen sind faszinierend – egal in welcher Sportart. Doch ist ein Wettbewerb erst reizvoll, wenn das Risiko für Unfälle groß ist? Müssen Rennen immer waghalsiger gewählt, Strecken schwieriger abgesteckt werden?“ (Bartens 11.7.2017).

BMX
Chad Kagy
(*1980), USA. BMX-Freestyle. 15 Operationen, u. a. gebrochenes Genick, gebrochener Oberschenkelknochen, 26 Metallteile im Körper.
Daniel Tünte (*1993), DEU. Mehrfacher Bruch des Handgelenks und Bänderrisse.
Luis Brethauer (*1992), DEU: „Unser Sport ist, nun ja, kontaktfreudig. Wir fahren schon mal die Ellbogen und Schultern aus. es kommt vor, dass dich ein Bodycheck in der Steilkurve oder im Flug trifft“ (Der Spiegel 24/2012).

Mountainbike
Tarek Rasouli
, (*1974), DEU. Freeride-Mountainbiker. Unfall 2002 bei einem Stunt über 17 Meter, seitdem querschnittgelähmt.
Danny MacAskill (*1985), USA. 3x Schlüsselbeinbruch, 5x Bruch des linken Fußes, Handgelenk-Zertrümmerung, Rücken-OP.
Peter Henke, D. Mountainbike, Slopestyle: gebrochene Rippe, Bänderriss im Daumen, gebrochene Speiche, Gehirnerschütterung.
Alberto Léon (*1974, †2011), Spanien. Verdacht auf Mithilfe beim Dopingskandal um Eufemio Fuentes, soll Blutbeutel gedopter Sportler transportiert haben, Selbstmord 2011.

1.5. Wintersport

Skirennen
Daniel Albrecht
(*1983), CHE. Schädel-Hirn-Trauma Streif 2009; Knieverletzung 2012; Rücktritt 2013.
Silvano Beltrametti (*1979), CHE. Nach Sturz 2001 querschnittsgelähmt.
Gerhard Blöchl (*1981), DEU. Abriss des Gesäßmuskels, Riss eines Bandes an der Wirbelsäule 2006.
Sarah Burke (*1982, †2012); CAN. Schweres Schädel-Hirn-Trauma nach Sturz.
Florian Eckert (*1979), DEU. Knieverletzungen, Rücktritt 2005.
Beat Feuz (*1987), CHE. Zwei Fersenbrüche, Gesichtslähmung, Kreuzbandrisse 2007 und 2008, Knieverletzungen.
Marc Girardelli (*1963), AUT. 18 Operationen, davon 11 am Knie; Rücktritt 1997.
Alexandra Grauvogl (*1981), DEU. Kreuzbandrisse 1999, 2003, 2010; Rücktritt 2011.
Hans Grugger (*1981), AUT. Zwei Kreuzbandrisse 2007, Knieverletzungen, Wirbelbrüche, Schädel-Hirn-Trauma, Rippenbrüche und Lungenverletzung auf der Streif 2011; Rücktritt 2012.
Jessica Hilzinger (*1997), DEU. „Obwohl Hilzinger erst 19 Jahre alt ist, füllt sie schon eine dicke Krankenakte. Ein kurzer Auszug: Knorpelschaden zwischen Schien- und Wadenbeinkopf, Knochenprellung samt kleinster Brücke. Im April vergangenen Jahres riss sie sich noch das Innenband im rechten Knie“ (Schmid 22.2.2017).
Maria Höfl-Riesch (*1984), DEU. Sportsoldatin; Schulterfraktur 2004, zwei Kreuzbandrisse 2005; Rücktritt 2014.
Kathrin Hölzl (*1984), DEU. Sportsoldatin; Chronische Rücken-Nervenreizung 2011; Rücktritt 2013.
Stephan Keppler (*1983), DEU. Sportsoldat; Innenbandriss im rechten Knie sowie einen Abriss des Syndesmosebandes im linken Sprunggelenk 2011, Rücktritt 2014.
Ivica Kostelic (*1979), HRV. Kreuzbandriss 1999, insgesamt 8 Knieoperationen; Rücktritt 2017.
Matthias Lanzinger (*1980), AUT. Nach Sturz Amputation des linken Unterschenkels 2008.
Scott Macartney (*1978), USA. Nach Sturz auf der Streif 2008 Schädel-Hirn-Trauma; Rücktritt 2011.
Felix Neureuther (*1984), DEU. Sportsoldat; Schulterluxation 2007; Schulterverletzungen; drei Knieoperationen, vier Bandscheibenvorfälle.
Benjamin Raich (*1978), AUT. Kreuzbandriss 2011; Rücktritt 2015.
Susanne Riesch (*1987), DEU. Kreuzbandriss 2005, Bruch des Schienbeinkopfs, Kreuzbandriss und Meniskusverletzung 2011; Rücktritt 2015.
Mario Scheiber (*1983), AUT. Schulterverletzung 2008, Knieverletzungen 2008; Schlüsselbeinbruch und Nasenbeinbruch etc. 2011; Rücktritt 2012.
Gina Stechert (*1987), DEU. Sportsoldatin; Kreuzbandriss 2005 , 2009, 2011, Kniebeschwerden, Rücktritt 2015.
Anna Veith (geb. Fenninger; *1989), AUT. U. a. Sturz Oktober 2015 in Sölden: Riss des rechten Kreuzbands, des rechten Seitenbands, des Innen- und Außenmeniskus und derPatellasehne, derzeit nicht aktiv.
Lindsey Vonn (*1984), USA. Kreuzbandriss 2007, Gehirnerschütterung 2011, 2 Kreuzbandrisse 2013, Innenbandriss, 3 Schienbeinkopf-Frakturen 2015, Bruch Oberarmknochen 2016.
Markus Wasmeier (*1963), DEU. Sportsoldat; Bruch von zwei Rückenwirbeln 1987, Gehirnerschütterung und Knöchelbruch 1992; neues Hüftgelenk 2011; Rücktritt 1994.
Tina Weirather (*1989), LIE. Vier Kreuzbandrisse 2007, 2008 und 2010.
Heidi Zacher (*1988), DEU. Unterschenkelbruch 2012.

Zitate aus der Ski-Welt
Günter Hujara
, FIS-Renndirektor beim Worldcup der Herren: „Während der Laie vielleicht mit 50 km/h den Berg herunterrauscht, werden beim Super-G schon bis zu 100 km/h erreicht, bei der Abfahrt teilweise sogar 150 km/h (…) Reißt einen der Ski dann unkontrolliert herum, hält das kein Knie aus“ (Mertin 9.2.2014).  Hujara nach dem Unfall von Hans Grugger auf der Streif: „Wir werden nichts verändern“ (Neudecker 21.1.2011).
Taillierte Ski: „Mit den taillierten Skiern, die heute im Weltcup gefahren werden, entstehen bei schnell gefahrenen Schwüngen Kräfte, denen bei einem Sturz kein Kniegelenk mehr standhalten kann“ (wdr.de 14.2.2011).

Streif, Kitzbühel 2016
„Fünf Verletzte: So lautet die Streif-Bilanz 2016. Im Rennen am Samstag erwischte es den Norweger Aksel Lund Svindal sowie die beiden Österreicher Hannes Reichelt und Georg Streitberger. Der 33 Jahre alte Svindal, der die Gesamtweltcup-Wertung anführte, erlitt einen Kreuzband- und einen Meniskusriss im rechten Knie. Er wird in diesem Jahr kein Rennen mehr bestreiten können. Die gleiche Diagnose musste nach seinem Sturz auch Streitberger, 34, hinnehmen; bei ihm sind das vordere Kreuzband und der Außenmeniskus gerissen. Super-G-Weltmeister Hannes Reichelt, 35, trug eine Knochenprellung im Knie davon. Bereits im Training hatte es die Österreicher Max Franz (26/Verletzungen am linken Hand-, Knie- und Sprunggelenk) und Florian Scheiber (28/Kreuzband- und Meniskusriss) erwischt“ (Geprellte Knochen, gerissene Bänder, in SZ 25.1.2016).

Johannes Knuth in der SZ: „Die Streif ist die gefährlichste Abfahrtspiste der Welt. Das ist ein Titel, auf den man im Skizirkus stolz ist, und in Kitzbühel haben sie diesen Stolz immer vor sich hergetragen. Sie pflegen ihre Anekdoten, vom Starthaus, in dem es so ‚andächtig still ist wie in der Kirche‘ (Skirennfahrer Hannes Reichelt), von den Älteren, die den Jungen vor der Premiere auf der Streif raten, dass sie lieber nicht ihre Tasche im Hotel ganz auspacken sollen. Weil niemand Lust habe, die Tasche zu packen, wenn sie später im Krankenhaus liegen. Die Gefahr ist hier ihr Geschäftsmodell, knapp 50 000 Zuschauer bezahlen dafür, jedes Jahr, es ist tatsächlich ein bisschen wie im alten Rom: Der Hahnenkamm ist das Kolosseum, die Skifahrer sind die Gladiatoren. Wer ausscheidet, scheidet nicht einfach aus. Er riskiert oft seine Gesundheit, auch sein Leben“ (Knuth 25.1.2016; Hervorhebung WZ). Und zum Rennen 2016 mit den vielen Verletzten und der Frage, ob man das Rennen nicht früher hätte einstellen müssen und ob die Jury den Fahrern eine sichere Piste bereitgestellt habe: „Ja, beteuerte Markus Waldner, Renndirektor des Welt-Skiverbands FIS. Ja, versicherte Christian Mitter, Cheftrainer der Norweger, ‚es war absolut fahrbar‘, zumindest für die besten 30 Fahrer der Welt. Nachdem sie diese 30 Fahrer losgelassen hatten, nachdem die Quote erfüllt war, die das Rennen in die Wertung trug, brachen sie dann doch ab. Den Jungen wollte man das Ganze nicht zumuten, sagte Hannes Trinkl, Waldners Assistent“ (Ebenda; Hervorhebung WZ).

Ski-WM 2011 in Garmisch-Partenkirchen
„Die Abfahrtsstrecke wurde umgebaut, sie haben nun eine Passage, die sie ‚Freier Fall‘ nennen, Gefälle: 90 Prozent. Die Zahl ist plakativ, der Veranstalter wirbt mit ihr“ (Neudecker 29.1.2011).

FIS-Weltcuprennen Garmisch-Partenkirchen 2017
„Die ersten Fahrer hatten sich schon vor dem Rennen abgemeldet. Christof Innerhofer war im Training mit gebrochener Wade gefahren, wie schon bei seinem zweiten Platz im Super-G von Kitzbühel. ‚Ich habe sie getapt‘, sagte er, als spreche er über ein Möbelstück. Am Freitag verzichtete er dann aber doch. Dafür traf es Nyman, der 34-Jährige rauschte unkontrolliert an den Kramersprung, die Piste war dort über Nacht schneller geworden. Er wurde derart flink von der Überraschung gepackt, dass er in Rücklage geriet – Sturz, Knieschaden, Hubschraubereinsatz. Kurz darauf verlor der Kanadier Erik Guay vor dem Seilbahnsprung die Kontrolle über seinen rechten Ski, er lag in der Luft, alle Viere von sich gestreckt, es war ein grausamer Anblick. Am Ende verhinderte Guays Airbag wohl Schlimmeres. Er fuhr mit Prellungen ins Ziel. Dann Giraud Moine, er verlor nach dem Freien Fall die Kontrolle über seine Skier. Nach Angaben der Veranstalter kugelte er sich beide Knie aus und erlitt Bänderverletzungen. Sein Landsmann Guillermo Fayed wurde später noch mit einer Knochenstauchung abtransportiert. Auch Andreas Sander, als 14. der beste Deutsche, wäre im Kramersprung beinahe verunfallt. (…)   Und so kam die Frage auf, während sich nervöse Stille übers Ziel senkte: Hatten die Veranstalter eine sichere Piste präpariert? (…) Markus Waldner, Renndirektor des Ski-Weltverbands, widersprach: Die Fahrrinne des Riesenslaloms habe keinen Einfluss auf die Stürze gehabt, er schob sie auf Pilotenfehler. ‚Die Kitzbühel-Woche hat enorm viel Energie gekostet, ich habe die Läufer mental müde erlebt‘, sagte er: ‚Die Bedingungen waren super, aber die Kandahar verzeiht nichts‘“ (Knuth 28.1.2017).

Ski-WM 2017 in St. Moritz
Martin Khuber
(*1992), KAZ: Sturz mit instabiler Fraktur im Halsbereich; Andreas Zampa (*1993), SVK: Prellung von Fersenbein und Becken; Thomas Biesemeyer (*1989), USA: Schulterluxation und Hüftzerrung; Max Ullrich (*1994), NRV: schwere Prellungen im Becken- und Schulterbereich. Mirjam Puchner (*1992), Aut: Sturz mit Gehirnerschütterung und Schien- und Wadenbeinbruch. Olivier Jenot (*1988), MCO: interne Blutungen.

Skispringen
Nicholas Fairall
(*1989), USA. Sturz im Januar 2015, Wirbelsäulenverletzung, Rippenbrüche, Nierenquetschung, Lähmungserscheinungen.
Thomas Morgenstern (*1986), AUT. Sturz 2003 und 2013; bei Sturz 2014; Schädeltrauma und Lungenquetschung, Rücktritt 2014.
Lukas Müller (*1992), AUT. Sturz im Januar 2016; inkomplette Querschnittslähmung.
Severin Freund (*1988), DEU. Januar 2017 Kreuzbandriss im rechten Knie, Juli 2017 erneuter Kreuzbandriss im rechten Knie (SID 22.7.2017).
Sven Hannawald (*1974), DEU. Olympische Goldmedaille 2002. Magersucht, Burnout-Syndrom, fünf Jahre Therapie. „Ich habe gezeigt, dass erfolgreiche Athleten nicht unbedingt Superhelden sind, die nichts und niemand aufhält, ich hatte alles für den Sport gegeben – bis mein Körper streikte“ (spiegelonline 8.9.2013).
Die Weiten der Sprungschanzen werden durch Umbauten oft noch gesteigert. Beim Skifliegen mit über 100 km/h Absprunggeschwindigkeit liegen sie inzwischen bei über 250 Metern.

Snowboard
Kevin Pearce
(* 1987), USA. Schädel-Hirn-Trauma 2009, 3 Wochen im Koma.
Jeret Peterson (*1981), USA. Freestyle. Alkoholabhängigkeit, Suizid 2011.
Marie-France Roy (*1985), CAN. Bruch des 2. Halswirbels 2010, Ellbogenüberdehnung 2005, vier geprellte Rippen 2007.
Nicola Thost (*1977), DEU. Drei Kreuzbandrisse; Rücktritt 2002.
Silvia Mittermüller (*1983), DEU, Freestyle: „Verletzungen sind der unliebsame Begleiter im Freestyle-Genre. ‚In unserem Sport haben schon die 18-Jährigen ihre Wehwehchen‘, sagt Silvia Mittermüller, die schon vor drei Jahren in Sotschi dabei sein wollte, sogar als Gold-Kandidatin gehandelt wurde. Dann riss die Achillessehne. Auch drei Kreuzbandrisse hat sie hinter sich, in der letzten Saison wäre es fast zu einem vierten gekommen. Dann war es der Meniskus, Ausfall: vier Monate“ (Brunner 12.9.2017).
Maximilian Stark, (*1992), DEU. Sportsoldat; Oberschenkelbruch, Karriereende 2015.
„Es gebe einfache und schwere Tage in seinem neuen Leben, sagt Maximilian Stark. Die einfachen Tage sind die, an denen er aufsteht, ohne dass allzu viel schmerzt. An schweren Tagen ist das so eine Sache. Mit dem Aufstehen. Starks rechter Oberschenkel ist seit ein paar Jahren kürzer als der linke, sein Becken steht deshalb schief, das wirkt sich wiederum auf die Lendenwirbel aus. An schlechten Tagen tut Starks Rücken so sehr weh, ‚da möchte ich am liebsten liegen bleiben‘. Aber alles in allem gehe es ihm doch ordentlich. Jetzt, da er seine Karriere als Snowboard-Profi seit ein paar Tagen hinter sich hat. Mit 23 Jahren“ (Knuth 8.6.2015).

Bob
Nodar Kumaritaschwili
(*1988), GEO. Tod am 12.2.2010  im Eiskanal bei den Olympischen Sommerspielen 2010 in Vancouver. „Bobfahren ist seit 1924 olympisch, seitdem sind 42 Sportler tödlich verunglückt“ (Eberle 3.2.2014).
Udo Gurgel, Konstrukteur der Bobbahn von Vancouver 2010, äußerte: „Vor ein paar Jahren habe er von Funktionären die Anregung bekommen, eine Bahn zu bauen, die Bobs öfter umkippen lässt. Gurgel weigerte sich. Die Russen, sagt er, hätten sich zunächst eine Strecke gewünscht, die schneller sein sollte als die von Vancouver: 160 Stundenkilometer“ (Eberle 3.2.2014).

Eislaufen
Das Beispiel Jewgeni Pluschenko (*1982), RUS. Vier Knieoperationen, Rückeninjektionen, zwölf Operationen der Wirbelsäule, darunter Kunststoff-Einsatz, vier Schrauben. Karriereende 2014.

Biathlon
Das Beispiel Miriam Gössner (*1990), DEU. Sportsoldatin; Gesichtsverletzungen durch Slalomstange 2004; Sturz vom Mountainbike mit vier gebrochenen Lendenwirbel 2013.

Eishockey
Zwei Beispiele für viele:
Stefan Ustorf (*1974), DEU. Insgesamt vier Gehirnerschütterungen; Dezember 2011 Schädel-Hirn-Trauma. Augenprobleme, Kopfschmerzen, Müdigkeit, Schlafstörungen. Rücktritt 2013. Ustorf im März 2013: „Mir geht es vor allem im Kopf unverändert sehr schlecht. Dadurch spüre ich, wie nach und nach auch mein Körper auseinanderfällt (…) Mir war es nicht bewusst, wie schlecht meine Verfassung werden kann, weil ich nicht mehr trainieren, mich nicht mehr körperlich fithalten kann“ (Schmieder 4.3.2013).
Chris Heid (*1983), CAN. Gehirnerschütterung 2011, Zusammenprall 2014 mit erneuter Gehirnerschütterung, Rücktritt 2016, Antrag auf Berufsunfähigkeit. Heid: „Die Ärzte wussten es nicht besser, es ist ein Fehler im System. Denn alles hängt zusammen: Trainer wollen nicht verzichten, Ärzte können nichts sehen, Spieler nicht aufhören. Und die Zuschauer erwarten, dass es auf dem Eis kracht“ (Ferstl 17.2.2016).

Golf
Auch beim Golf zeigen sich Tendenzen zur Invalidisierung. Das Beispiel Tiger Woods (*1975): „Schon wieder musste sich Eldrick ‚Tiger‘ Woods am Rücken operieren lassen, zum vierten Mal in einer Zeitspanne von knapp mehr als drei Jahren. Experten rechnen damit, dass er eine Wettkampfpause von bis zu sechs Monaten einlegen muss. Dies, nachdem er erst im Januar nach einem Unterbruch von 17 Monaten auf die Tour zurückgekehrt war. (…) Restlos bewiesen werden kann es zwar nicht, viele Verletzungen sind aber Spätfolgen seines aufwändigen Spiels. (…) Woods‘ Krankenakte ist mittlerweile fast so umfangreich wie seine Trophäensammlung. Zwischen 1995 und 2008 musste er vier Knieoperationen über sich ergehen lassen. Danach gab er bei Turnieren wegen Beschwerden in der Achillessehne, Halswirbelsäule, im Rücken und Handgelenk auf. Im April 2014 unterzog er sich seiner ersten mikrochirurgischen Diskektomie an der Lendenwirbelsäule, einer Prozedur, bei der der Teil einer Bandscheibe entfernt wird, der auf einen Nerv drückt. (…) Woods kehrte zurück, erreichte aber nie mehr seine frühere Leistungsstärke. Dafür sorgte er Anfang 2015 mit Yips, dem unwillkürlichen Muskelzucken im Treffmoment bei flachen und hohen Annäherungsschlägen für unrühmliche Schlagzeilen. Anschließend schien er beschwerdefrei, aber am 14. September 2015 benötigte er eine zweite Diskektomie, wenige Wochen später, am 30. Oktober, einen weiteren Eingriff in dieser Region“ (Keller 21.4.2015). – „Seit August 2015 hat er gerade zwei Turniere gespielt. Vor wenigen Wochen wurde er das vierte Mal am Rücken operiert. Sein Schwung war lange kraftvoller als der vieler Kollegen. Nun zahlt der Pionier den Preis dieses Muskelspiels“ (Pfeiffer, Friedrich, Das Bild eines gebrochenen Mannes, in spiegelonline 30.5.2017). – „Woods, 41 Jahre alt und mit 14 Major-Titeln dekoriert, befasst sich ernsthaft mit dem Gedanken an das Ende seiner Laufbahn. Nicht weil er das will, sein Sport erfülle ihn schließlich noch immer mit ‚viel Spaß und Freude‘, sondern weil er müsse. Der geschundene Rücken lasse ihm keine andere Wahl. Wegen anhaltender Beschwerden hat der ehemals beste Golfer des Planeten letztmals im Februar unter Wettkampfbedingungen gespielt. Das war in Dubai, nach einer katastrophalen Auftaktrunde stieg der Kalifornier damals aus – weil der Rücken zu sehr zwickte. Schmerzen verspüre Woods, der sich am 25. Oktober für eine Autofahrt unter Medikamenteneinfluss vor einem Gericht verantworten muss, nach der vierten Operation binnen drei Jahren zwar nicht mehr. (…) Für eine Rückkehr auf die Grüns reicht das aber freilich noch lange nicht aus. 60 Yards, so seine Angabe, könne er den Ball mittlerweile schlagen, rund 55 Meter. Zum Vergleich: Die derzeit Besten überwinden Distanzen von mehr als 270 Metern“ (SID, SZ, „Absolut möglich“, in SZ 29.9.2017).

1.6. Noch extremerer Sport

Die X-Games
„Citius, altius, fortius (schneller, höher, stärker) – das olympische Motto passt zu den X-Games wie die Faust aufs Auge. (…) Die Wettbewerbe, die sich mit Bezeichnungen wie ‘Big Air’ (Skateboard, BMX), ‘Best Whip’ (Motocross) oder „Slopestyle’ (Mountain Bike) schmücken, stehen im Zeichen von Höhe, Geschwindigkeit und Kraft. (…) Natürlich dürfen bei derlei Einlagen Kontrolle und Geschicklichkeit nicht fehlen – sowie eine hohe Schmerztoleranz, denn Stürze gehören bei den riskanten Manövern zur Tagesordnung ” (Ignatowitsch 11.5.2013).
Die X-Games sind ein Franchise-Unternehmen des amerikanischen Fernsehsenders ESPN (Entertainment and Sports Production), der zum Disney-Konzern gehört. Das „X“ steht für „extrem“: So laufen diese Sportarten dann auch ab. „Die X-Games kommen ohne schwere Unfälle selten aus, und wer nicht mindestens einmal ziemlich böse verletzt war, wird vermutlich erst gar nicht eingeladen“ (Münchner Merkur 26.6.2013).
Das X-Games-Publikum ist im Durchschnitt 20,4 Jahre alt, männlich und besserverdienend (Ebenda). Davon kann das IOC nur träumen – deshalb schaut es bei den X-Games die Wettbewerbe ab. 1998 holte das IOC die Snowboarder, 2010 ist Skicross olympisch, Slopestyle seit 2014, Skateboarden wird es 2020 sein (Ebenda).

Die kanadische Ski-Freestylerin Sarah Burke gewann viermal den Halfpipe-Titel beim Extremsport-Event X-Games. Sie hatte sich dafür eingesetzt, dass ihre Sportart Ski-Slopestyle in das Programm der Olympischen Spiele  aufgenommen wurde und erstmals 2014 in Sotschi die Freeski-Disziplinen Halfpipe und Slopestyle olympisch wurden (Hahn 21.1.2012). Am 10.1.2012 stürzte sie beim Training in der Olympia-Halfpipe in Vancouver, landete auf dem Kopf und erlitt schwere Kopfverletzungen (SZ 12.1.2012; SZ 13.1.2012). Nach einem Herzstillstand kam es zu “schweren, irreparablen Gehirnschäden” (Tod von Ski-Freestylerin Burke, in spiegelonline 20.1.2012). Neun Tage später starb sie im Krankenhaus von Salt Lake City.

Der Amerikaner Caleb Moore verlor am 24.1.2013 in der X-Games-Disziplin “Freestyle-Snowmobiling” in Aspen/Colorado die Kontrolle über sein 200 Kilo schweres Schneemobil nach einem missglückten Rückwärtssalto und erlag seinen inneren Verletzungen (sueddeutsche.de 1.2.2013; SZ 2.2.2013). Mitte März 2013 strichen dann die Veranstalter des Senders ESPN die Schneemobil-Disziplin.
Weitere X-Games-„Helden“: Paris Rosen, Freestyle-Motocrosser, Unfall 2010 bei Salto vorwärts: Leberriss, Knorpelbruch, Bruch der unteren Lendenwirbelsäule, Lungenquetschung, Abschürfungen und Prellungen. Steffi Laier, “Women’s Enduro X”, Unfall August 2012: Motorrad durchschlägt von hinten den Oberschenkel. Brian Deegan, Rallycross und Moto X Step Up: Beine und Arme gebrochen, Niere und Milz verloren. Manny Santiago, Street League Skateboarding: Sprunggelenke ausgeleiert, Knieschmerzen, Zahnverlust. Jackson Strong, Freestyle Moto X: Knochenbrüche usw. (Winter 21.6.2013; Biazza 21.6.2013; Münchner Merkur 26.6.2013).
Lisa Zimmermann (*1996), DEU. Freestyle-Skifahrerin, sprang als erste Frau den „Switch Double Cork 180“, das sind drei Seitwärts- Drehungen und zwei Drehungen um die eigene Achse. Sturz 2017 in Aspen, Colorado bei den X-Games: Riss von Kreuzband, Innen- und Außenband.

Der Sportwissenschaftler Martin Stern zur Gefahrenentwicklung bei neuen Wintersportarten: “Das Risiko ist Teil der Struktur dieser Sportarten. Neue Tricks, mehr Schrauben, spektakulärere Sprünge – davon leben diese Disziplinen. Die Sportler werden immer den Grenzgang probieren, egal wie die Bedingungen sind. Und die Zuschauer erwarten das auch von ihnen” (Der Spiegel 7/9.2.2013; Hervorhebung WZ). „Und am Streckenrand wartet bereits der Krankenwagen“ (SID, Münchner Merkur 26.6.2013).
Die jungen Sportler können einem leidtun: Sie sind Verführte und setzen ihre Gesundheit aufs Spiel. Die Verführer – Veranstalter, Fernsehsender, Sponsoren etc. – machen mit ihnen das Geschäft.

American Football
Der Film Concussion („Gehirnerschütterung“; deutscher Titel: „Erschütternde Wahrheit“) lief im Herbst 2015 in den US-Kinos an und berichtete über die Gefahren von Kopfverletzungen durch American Football. Interessant ist das Verhalten der Profiliga NFL, die jahrelang einen Zusammenhang zwischen ihrer Sportart und ernsthaften Kopfverletzungen geleugnet hat. „Sie hat sich von einem Geständnis sogar freigekauft, indem sie im August 2013 einer Einigung zugestimmt hat, derzufolge sie 765 Millionen Dollar an ehemalige Akteure bezahlt. Im Gegenzug übernimmt sie keine Verantwortung für Verletzungen und muss auch nicht zugeben, dass diese Erkrankungen durch Football hervorgerufen wurden. (…) Schließlich hat die NFL die Studien von Ärzten wie Bennet Omalu (der das Gehirn des 2002 verstorbenen Footballprofis Mike Webster untersucht und schwere Schäden festgestellt hat) und Ann McKee (die 94 verstorbene ehemalige Spieler untersucht und bei 90 davon die Krankheit

CTE [Chronisch-traumatische Enzephalopathie, auch Dementia pugilistica genannt] nachgewiesen hat) bislang als Quacksalberei abgetan und durch selbst finanzierte Studien zu widerlegen versucht. (Vgl. hierzu auch die  Erkrankung eines Lehrers an CTE 20 Jahre nach seiner Football-Karriere bei: Mooshammer 8.4.2017.) – „Es wird vermutet, dass sie (CTW; WZ) durch wiederholte Zusammenstöße mit dem Kopf verursacht wird. Solche Kollisionen gibt es beim Football häufig. Die Krankheit kann etwa Gedächtnisverlust, Depressionen oder Demenz verursachen. Nachweisen lässt sich CTE momentan aber erst nach dem Tod“ („Überwältigende Indizien“ – Football laut Studie für Gehirnschäden verantwortlich, in spiegelonline 25.7.2017).

„Noch vor dem diesjährigen Endspiel im Februar sagte Ligachef Roger Goodell: ‚Es gibt nun mal Risiken im Leben. Es ist auch gefährlich, auf der Couch zu sitzen.‘ Die NFL kann es sich angesichts von Einnahmen von 13,5 Milliarden Dollar alleine in dieser Saison leisten, ihr ursprüngliches Angebot für ehemalige Profis auf bis zu eine Milliarde Dollar zu erhöhen“ (Schmieder 18.3.2016). Die Medizinerin Ann McKee äußerte: „Wir haben CTE in 90 von 94 NFL-Spielern gefunden, in 45 von 55 College-Athleten und in sechs von 26 High-School-Schülern. Das sind keine Einzelfälle. Wir werden erschüttert sein, wenn wir feststellen, wie weit verbreitet die Krankheit wirklich ist“ (Ebenda). – „ Genau an diesem Punkt wird es interessant: Die Einigung von 2013 verpflichtet die NFL grundsätzlich, nur Zahlungen an Spieler zu leisten, die bis dahin verletzt worden sind. Deshalb haben die Kläger – unterstützt von der Spielergewerkschaft – Einspruch eingelegt. Sie fürchten, dass Profis, die künftig erkranken oder bei denen Spätfolgen festgestellt werden, leer ausgehen“ (Ebenda).

„Das Risiko, so eine Studie der Boston University, für einen Footballspieler etwa an Demenz, Parkinson oder Alzheimer zu erkranken, sei 19 Mal so hoch wie bei einem Menschen, der nie Football gespielt hat“ (Schmieder 4.3.2013). – „Fortan kann sich jeder ehemalige NFL-Akteur untersuchen lassen und dann – je nach Erkrankung und Länge seiner Profilaufbahn – Geld aus dem Kompensationstopf beantragen. Ein Alzheimer-Patient beispielsweise bekommt maximal fünf Millionen Dollar, wer an Demenz leidet, erhält maximal drei Millionen. Zudem gibt es eine Entschädigung für die Angehörigen verstorbener Spieler wie Junior Seau, Dave Duerson oder Ray Easterling. Etwa zehn Millionen Dollar gehen an Forschungseinrichtungen, die sich mit den Folgen von Gehirnerschütterungen beschäftigen. ‘Jetzt werde ich ein bisschen Geld haben, um meine Kinder aufs College zu schicken‘, sagt Kevin Turner. Er spielte einst für die New England Patriots und die Philadelphia Eagles und leidet nun an amyotropher Lateralsklerose, einer Erkrankung des Nervensystems: ‚Ich bin jetzt 44 Jahre alt, wahrscheinlich werde ich die 50 oder 60 nicht erreichen – aber dieser Deal nimmt eine große Belastung von den Schultern derer, die leiden‘“ (Schmieder 31.8.2013).

Zu den Verletzungen kommt die Verabreichung von Schmerzmitteln: „Eine Gruppe von rund 500 ehemaligen Spielern hat die National Football League (NFL) der USA verklagt. Die früheren Profis werfen Teamärzten vor, illegal Arzneimittel verabreicht zu haben, ohne auf Nebenwirkungen hinzuweisen, unter denen viele noch heute litten. Einige der Kläger versicherten, man habe ihnen Knochenbrüche verheimlicht und stattdessen Schmerztabletten gegeben. Andere bekräftigten, dass sie auch lange nach ihrem Ausscheiden von den Schmerzmitteln abhängig blieben“ (SZ 22.5.2014).

Das Bekanntwerden der Erkrankungen bewirkte auch Verhaltensänderungen: „Die Eltern schicken ihre Kinder nicht mehr in Football-Sommercamps, die Zahl der Anmeldungen ist in den vergangenen fünf Jahren um 20 Prozent zurückgegangen. Es sind mittlerweile nicht mehr nur die Verletzungsstatistiken, die Eltern beunruhigen. Eine kürzlich von der NFL in Auftrag gegebene Studie ergab, dass etwa jeder dritte NFL-Profi eine ernsthafte Gehirnkrankheit erleben dürfte. Seit 2010 haben sich neun ehemalige Profis umgebracht. Die Universität Boston hat in 76 Gehirnen ehemaliger Spieler, die sie untersuchte, Defekte entdeckt; insgesamt waren 79 Proben genommen worden. Jake Locker, Jason Worlids, Patrick Willis, Maurice Jones-Drew – diese Spieler waren alle noch keine 30 Jahre alt und sind in den vergangenen Wochen zurückgetreten“ (Schmieder 28.3.2015).

Nachtrag Juli 2017: „Eine soeben veröffentlichte Studie der Neuropathologin Ann McKee aus Boston ist nicht nur schockierend, sie ist vor allem eindeutig: Sie hat die Gehirne von 111 verstorbenen NFL-Profis untersucht und in 110 davon Symptome von CTE (Chronisch Traumatische Enzephalopathie) entdeckt. Die auf den Kopf einwirkende Kraft bei einer Football-Kollision ist vergleichbar mit der, wenn ein Auto mit Tempo 50 gegen die Wand fährt. Ein Akteur erlebt pro Partie bis zu 60 Kollisionen. Was vermutet wurde, ist durch die Studie nun wissenschaftlich belegt“ (Schmieder, Jürgen, Erschütterte Gehirne, in SZ 27.7.2017).

Boxen
Das Beispiel Braydon Smith (*1991, *2015), USA. Tod im Boxring. Zunächst gratulierte Smith dem Sieger noch in einem Interview im Ring. 90 Minuten später kollabierte er im Umkleideraum. Auf der Fahrt ins Krankenhaus wurde er wegen einer Hirnschwellung ins künstliche Koma versetzt. Zwei Tage später starb Smith in Brisbane. Nach dem Tod des Boxers entbrannte in Australien erneut die Debatte über die Gefahren des Boxsports. Shaun Rudd, Präsident der Vereinigung australischer Ärzte in Queensland, forderte eine Verbannung der Sportart: ‚Es ist besonders traurig, wenn jemand stirbt in einem sogenannten Sport, in dem es nur darum geht, den Gegner auszuknocken oder zumindest möglichst viele Schläge gegen seinen Kopf anzubringen‘“ (spiegelonline 17.3.2015).

Wrestling
Pedro Aguayo Ramirez
(*1979, †2015), MEX. Genickbruch beim Kampf. „Die anderen Wrestler dachten offenbar, das gehöre zur Show – und kämpften noch etwa zwei Minuten weiter. Als sie Aguayo Ramirez, Sohn von Wrestling-Legende Perro Aguayo, anstupsten, um ihn zum Weitermachen zu animieren, fiel dessen lebloser Körper kopfüber auf den Boden.  (…) Der Veranstalter des Showkampfes, eine Firma namens The Crash, hat sich bislang nicht zu dem tragischen Vorfall geäußert. Die Box- und Wrestling-Vereinigung Tijuanas nannte den Tod einen unglücklich Unfall, der in einer Risikosportart wie Wrestling eben vorkomme“ (spiegelonline 22.3.2015).

Mixed-Martial-Arts
Joao Carvalho
(*1988, †2016). „Als alles vorbei war, stützte sich João Carvalho mit einem Arm auf, er saß bereits auf dem Boden, das Gesicht vom Blut verschmiert. Dann legte er sich auf den Käfigboden. So sehen die letzten bewegten Bilder der Karriere und des Lebens des portugiesischen Mixed-Martial-Arts-Kämpfers aus, es gibt davon verwackelte Aufnahmen im Internet. 48 Stunden später war João Carvalho tot, er wurde 28 Jahre alt – und durch seinen Tod zu einem Symbol dafür, wie weit das Kämpferische in einem Kampfsport gehen darf. Beim Mixed Martial Arts (MMA) kombinieren die Kämpfer mehrere Kampfsportarten, unter anderem dürfen sie sich noch schlagen und treten, wenn einer bereits am oden liegt. So hatte auch am Samstag Carvalhos Gegner, der Ire Charlie Ward (Kampfname: The Hospital), den Portugiesen noch mit Faustschlägen getroffen, als dieser bereits auf dem Boden kniete. (…)  MMA ist in den vergangenen Jahren immer populärer geworden, gerade durch die amerikanische Ultimate Fighting Championship, die auch Kämpfe in Deutschland veranstaltet. In den USA nimmt die UFC dem klassischen Boxen viele Zuschauer weg“ (SZ 14.4.2016).

Motorsport
Statt vieler möglicher Meldungen eine ganz aktuelle Nachricht: „Der britische Nachwuchspilot Billy Monger, 17, hat infolge eines Unfalls am Sonntag bei einem Formel-4-Rennen in Donington Park beide Beine verloren. Wie Mongers Management mitteilte, sei eine Amputation unumgänglich gewesen. Der Teenager war mit hoher Geschwindigkeit auf das nach einem Defekt deutlich verlangsamte Fahrzeug eines Mitstreiters aufgefahren“ (SID, Nachwuchspilot verliert Beine, in SZ 21.4.2017).
Dass die Autoraserei und der automobile Rennzirkus global seit Jahrzehnten zum Rasen auf den regulären Straßen beitragen, was dort entsprechend hohe Opferzahlen fordert, ist eindeutig.

Zu den gefährlichen Sportarten kommen dann noch andere neue Disziplinen mit Hochrisiko: DeanPotter (*1972, †2015), USA. Free Solo, Speed Climbing, Wingsuit-Sprünge, Tod mit Kollegen Graham Hunt bei Wingsuit-Sprung Mai 2015.

2. Teil: Schlechte Perspektiven

2.1. Zitate zum Sport
Sportszene USA, August 2011
: „Es wird seitdem viel diskutiert in Nordamerika, Rick Rypien ist ja schon der dritte Leistungssportler und der zweite NHL-Profi innerhalb von drei Monaten, der starb: Im Mai nahm Derek Boogaard von den New York Rangers eine Mischung aus Alkohol und dem Schmerzmittel Oxycodon, die er nicht überlebte; Boogaard war alkoholkrank. Im Juli erschoss sich der Freestyle-Skifahrer Jeret Petersen, Silbermedaillengewinner bei Olympia 2010, in einem Canyon bei Salt Lake City, Petersen war depressiv. Boogaard wurde 28 Jahre alt, Petersen 29“ (Neudecker 24.8.2011).
Nicola Thost, Snowboarderin: „Schon ungünstig, wenn du mit 33 Knie hast, die du erst mit 60 haben solltest“ (Becker 11.1.2011).
Ivica Kostelic, Sprecher der FIS-Athletenkommission zum Sturz von Hans Grugger auf der Streif in Kitzbühel: „Es ist schwierig, etwas über einen Kurs zu sagen, wenn hier fast jedes zweite Jahr jemand beinahe tödlich verunglückt“ (Neudecker 24.1.2011). – Die FIS prüfte daraufhin eine Klage gegen Kostelic.
Lindsey Vonn: „Ich bin eine erfolgreiche Skirennfahrerin, niemand will meine Probleme hören“ (Neudecker 18.12.2012). – „Ich habe Probleme mit einfachen Sachen, wie meinen Skischuh anziehen, mir die Haare zu machen, ein Glas Wasser zu heben“ (Otzelberger 16.2.2017).
Kathrin Hölzl, deutsche Skirennfahrerin, zu Schmerzmitteln: „Ich hatte über Monate so viel Zeug genommen und gespritzt bekommen, ich wollte das nicht mehr. Ich habe mich durchgekämpft, aber ich hatte ja solche Schmerzen, dass ich am Start kaum anschieben konnte“ (Neudecker 20.9.2011). Und zur F rage nach der Zahl ihrer Ärzte: „Puh, da habe ich den Überblick verloren (…) Ich würde sagen: 30 oder 40, wenn man Physiotherapeuten und Heilpraktiker mitrechnet. Irgendwann ist das total aus dem Ruder gelaufen“ (Ebenda).
Felix Neureuther zum neuen Riesenslalomski: „Wir fahren jetzt noch aggressiver“ Neudecker 27.10.2012). – „Bei Tests der FIS mit den neuen Skiern verletzten sich gleich vier Testfahrer, alle vier erlitten einen Kreuzbandriss“ (Ebenda).
Marc Girardelli zur Streif-Abfahrt: „Schlussendlich lebt die Abfahrt von Kitzbühel auch von diesen tragischen Unfällen, dem Reiz des Gefährl

Dez 122016
 
Zuletzt geändert am 24.06.2017 @ 15:50

12.12.2016, aktualisiert 24.6.2017
Zum Thema Russlands Staatsdoping-System:
zum McLaren-Report 1: hier; Dopingnation Russland in Rio 2016: Ja oder Nein? (20.6.2016; aktualisiert 25.10.2016); System-Doping Russland (II): Laborchef von Sotschi 2014 packt aus (13.5.2016, aktualisiert 26.11.2016); IAAF-Doping, System-Doping Russland und Fortgang (13.11.2015, aktualisiert 7.12.2016)

– Vor der Pressekonferenz von Richard McLaren in London am 9.12.2016
Jens Weinreich in spiegelonline: „Der Rechtsprofessor McLaren ermittelt im Auftrag der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada. Er gehörte bereits der ersten Wada-Kommission an, die vor einem Jahr einen spektakulären Bericht über das staatlich orchestrierte Doping in Russland veröffentlichte. McLaren recherchierte weiter, unterstützt von Kriminalisten, und legte im Juli 2016 den ersten sogenannten McLaren-Bericht vor, auf dessen Grundlage etwas mehr als ein Drittel des russischen Olympiateams für die Sommerspiele in Rio de Janeiro gesperrt wurde. Die Wada hatte die Suspendierung des russischen NOK und damit der gesamten Olympiamannschaft gefordert, doch das Internationale Olympische Komitee (IOC) unter seinem Präsidenten Thomas Bach solidarisierte sich mit den Russen. Das IOC co-finanzierte mit einer halben Million Dollar die weitere Arbeit der McLaren-Kommission“ (Weinreich, Jens, Jetzt wird es ernst für das IOC, in spiegelonline 9.12.2016). IOC-Präsident Bach hatte nach dem 1. McLaren-Report flugs  eine dreiköpfige Kommission einberufen und mit zwei Adepten besetzt: Juan Antonio Samaranch junior (Spanien) und Ugur Erdener (Türkei). Sie ebneten den russischen Sportlern den Zugang zu Rio 2016. Beide wurden kurz darauf zu IOC-Vizepräsidenten ernannt.
Vor der Veröffentlichung des Mc-Laren-Reports II machten die Russen mobil. „Putins Sprecher Dmitri Peskow hat den betroffenen Sportlern die Unterstützung des Kreml zugesagt. Witali Tschurkin, Russlands Gesandter bei den Vereinten Nationen, fordert die UN auf, Maßnahmen gegen die angebliche Ungleichbehandlung von Sportlern zu ergreifen. Putin hat unlängst behauptet, Russland habe das effektivste Anti-Doping-Programm der Welt. Und Alt-Kader Witali Smirnow, ehemals IOC-Mitglied und Cheforganisator der Sommerspiele 1980 in Moskau, hat als Chef einer internen russischen Kommission dem IOC berichtet, es habe in Russland nie Staatsdoping gegeben“ (Ebenda). Wieder hat Bach das Mittel der Kommission gewählt, diesmal setzte er gleich zwei ein. Eine leitete der ehemalige Schweizer Bundesrat Samuel Schmid: Sie beschäftigte sich mit Fragen des Staatsdopings. „Das Schweizer IOC-Mitglied Denis Oswald agiert als Chef einer Disziplinarkommission zum Russland-Doping. Oswald hat vor Jahren auch eine IOC-Ermittlungsgruppe zum Telekom-Doping geleitet und routiniert einschlafen lassen. Welche politischen Fliehkräfte bereits wirken, lässt auch die Benennung von Schmid erahnen, denn der Franzose Guy Canivet trat gerade als Chef dieser Kommission zurück, angeblich aus privaten Gründen. In sportpolitischen Kreisen heißt es indes, dies könne mit der laufenden Olympiabewerbung von Paris für die Sommerspiele 2024 zusammenhängen. Mit den Russen will es sich niemand verscherzen“ (Ebenda; Hervorhebung WZ). Weinreich erwähnt, dass bei den Olympischen Spielen 2008 (Peking), 2012 (London) und 2014 (Sotschi) nicht die Wada, sondern das IOC selbst die Oberhoheit über das Dopingkontrollsystem ausübte. „Von den knapp 10.000 Proben aus Peking und London hat das IOC allerdings nur 1.525 ausgewählte Proben analysieren lassen. Das IOC kontrolliert sich in einem intransparenten Verfahren quasi selbst“ (Ebenda).

– Eine erste Reaktion Anfang Dezember 2016
„US-amerikanische Bob- und Skeleton-Fahrer erwägen einen Boykott der WM im Februar in Sotschi/Russland. Die Athleten sorgen sich um die Sicherheit bei den Doping-Tests. Der kanadische Ermittler Richard McLaren hatte in seinem ersten Bericht im Juli dem Riesenreich für die Jahre von 2011 bis 2015 Staatsdoping nachgewiesen.Die Athleten nannten in einer Korrespondenz, die der New York Times vorliegt, Gründe, warum sie nicht in Sotschi starten wollen. Dabei wurden Professionalität bei den Doping-Proben, die Integrität des Sicherheits-Personals sowie eine mangelhafte Geheimhaltung von internen Informationen kritisiert. ‚Die Tatsache, dass nach dem Sotschi-Skandal nichts passiert ist und der Fakt, dass wir trotzdem dahin fahren sollen, gibt uns nicht das Gefühl, dass die Situation ernst genommen wird‘, sagte die ehemalige Skeleton-Weltmeisterin Katie Uhlaender und kritisierte damit die zuständigen Verbände“ (SID, Nicht nach Sotschi, in SZ 6.12.2016).

– Der McLaren-Report II
„Der zweite Teil des McLaren-Reports stellt fest, dass über 1000 russische Athleten in 30 Sportarten von der staatlich gesteuerten und systematischen Dopingvertuschung profitiert haben sollen. Zudem habe es, initiiert vom russischen Sportministerium, eine ‚institutionelle Verschwörung‘ gegeben. Betroffen gewesen seien dabei unter anderem die Olympischen Sommerspiele in London 2012, die Leichtathletik-WM 2013 in Moskau sowie die Olympischen Winterspiele in Sotschi 2014. Es habe eine ‚Strategie zur Medaillenbeschaffung in Sommer- und Wintersportarten‘ gegeben, sagte der von der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) beauftragte Sonderermittler in London. Weiter sprach der Kanadier von Betrug in ‚beispiellosem Umfang‘. ‚Das russische Team hat die Spiele von London in einer Weise korrumpiert, die nie da gewesen ist. Das ganze Ausmaß dessen wird wohl nie bekannt werden‘, sagte McLaren. In dem Report wird Witali Mutko direkt beschuldigt. Der 57-jährige Politiker ist seit 2008 für Sport in Russland zuständig und wurde von Präsident Wladimir Putin im Oktober zum Vize-Ministerpräsidenten ernannt. Putin selbst wird in dem Bericht nicht erwähnt. McLaren nannte auch konkrete Zahlen zu Dopingenthüllungen in Sotschi. Es seien Beweise gefunden worden, dass Dopingproben von insgesamt zwölf Medaillengewinnern manipuliert worden seien. Dabei handele es sich in vier Fällen um Gewinner von Goldmedaillen. Namen wurden nicht genannt. Betroffen sind demnach außerdem fünfzehn russische Medaillengewinner der Spiele in London und vier Teilnehmer der Leichtathletik-WM in Moskau“ (Mehr als 1000 russische Athleten in Dopingaffäre verwickelt, in spiegelonline 9.12.2016).
Dazu Jens Weinreich: „Während der Spiele 2012 in London wurde offiziell kein Russe erwischt. McLaren belegt nun, dass mindestens 78 Proben manipuliert worden sind, darunter die Tests von 15 Medaillengewinnern. Bei den vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) in diesem Jahr angeordneten Nachtests ausgewählter Dopingproben der Sommerspiele 2008 in Peking und 2012 in London sind bislang mehr als 30 russische Sportler als Doper enttarnt worden, darunter knapp 20 Medaillengewinner. Diese Zahl dürfte sich in Kürze erhöhen, daran ließ IOC-Medizindirektor Richard Budgett in dieser Woche kaum Zweifel. McLaren bestätigt dies und spricht von mindestens fünf weiteren russischen Medaillengewinnern der London-Spiele. Die Sportwelt konzentriert sich jetzt vor allem auf die Ergebnisse der Sotschi-Untersuchungen. Russland belegte bei den Winterspielen und den Paralympics jeweils Rang eins in der Nationenwertung. Bei den Winterspielen gewannen die Russen 13 Gold-, elf Silber- und neun Bronzemedaillen, bei den Paralympics 30 goldene, 28 silberne und 22 bronzene. (…) McLaren belegt in seinem Bericht ein Dutzend gedopte Medaillengewinner bei den Sotschi-Spielen im März 2014, die ein Prestigeprojekt des russischen Präsidenten Wladimir Putin waren und mehr als 50 Milliarden Dollar verschlangen. (…) Russland hatte in Sotschi fünf Sportler, die zwei Goldmedaillen gewannen: die Eiskunstläufer Tatjana Wolossoschar und Maxim Trankow (Paarlaufen und Team), der Snowboarder Vic Wild, Shorttracker Wiktor Ahn (gewann sogar drei Mal Gold) – sowie die Bobfahrer Alexander Subkow und Alexej Wojewoda (Zweier- und Viererbob). Bobfahrer Subkow zählt zu Putins Lieblingssportlern und saß bei der Schlussfeier der Sotschi-Spiele neben Putin und IOC-Präsident Thomas Bach in der ersten Reihe. Inzwischen ist Subkow Präsident des russischen Bob- und Skeletonverbandes. Die Beichten des Kronzeugen Grigori Rodschenkow und die ersten Ermittlungsberichte der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada und von MacLaren hat er gern als ‚Schwachsinn‘ bezeichnet“ (Weinreich, Jens, Urinproben mit Kaffeepulver, in spiegelonline 9.12.2016).

– Johannes Aumüller und Thomas Kistner in der SZ:
„Mitunter musste es schnell gehen mit dem Betrug. Um das spezifische Gewicht einer manipulierten Urinprobe in einen Bereich zu bringen, in dem die Schummelei nicht schon auf den ersten Blick aufflog, griffen die Konspirateure bisweilen zu ungewöhnlichen Mitteln: Sie schütteten Instant- Kaffee in die zuvor heimlich aufgehebelten Fläschchen. Manchmal aber reichte die Sorgfalt beim Verschleiern des Betrugs nicht einmal mehr so weit. In den Urinproben, die zwei russische Eishockeyspielerinnen 2014 bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi abgaben, wurde nun – bei Nachtests – eindeutig männliche DNA gefunden. Weil das kaum sein kann, wenn alles mit rechten Dingen zugeht, liegt der Verdacht nah, dass die Proben nachträglich vertauscht wurden. (…) In den Jahren 2011 bis 2015 sollen demnach mehr als 1000 Athleten von dem Staatsdopingprogramm profitiert haben, das in Russland nach der Enttäuschung bei den Winterspielen 2010 in Vancouver initiiert worden war, referierte McLaren. Dies beträfe Sommer- und Wintersportler sowie auch paralympische Athleten. (…) McLaren ist sich sicher: Sechs russische Sportler, die bei den Paralympics in Sotschi zusammen 21 Medaillen gewannen, haben betrogen. Bei den Winterspielen am selben Ort wurden die Dopingproben von mindestens zwölf russischen Medaillengewinnern manipuliert, unter ihnen vier, die Gold gewannen. Bei der Leichtathletik-WM 2013 in Moskau spielten mindestens vier russische Sportler falsch, bei den Sommerspielen 2012 in London mindestens 15  Russen, die Medaillen gewannen. ‚Das russische Team hat die Spiele von London in einer nie da gewesenen Weise korrumpiert‘, behauptet McLaren. (…) Als die Welt-Anti-Doping-Agentur das Moskauer Labor im September 2012 aufforderte, 67  Proben zu Nachtests in das Labor nach Lausanne zu überstellen, sei Hektik ausgebrochen. Die Verantwortlichen des Betrugsprogrammes hätten realisiert, dass ihre Täuschungskette nicht lückenlos war: Anhand der B-Proben ließ sich der Betrug stets rekonstruieren. Um diese Lücke zu schließen, habe der Geheimdienst im Februar 2013 eine Methode entwickelt, wie die Fläschchen, in denen A- und B-Proben gesammelt wurden, aufzuhebeln sind. In Sotschi seien dann jede Nacht Proben russischer Sportler durch ein Loch in der Wand des Testlabors in eine Nebenkammer gereicht worden. Dort sei deren schmutziger Urin gegen garantiert unverdächtigen getauscht worden, den die Kadersportler lange im Voraus abgegeben hatten. Die Geschichte klingt wie eine Räuberpistole, aber McLaren hat erstaunliche Details parat, die seine Version stützen. So hat er die Anforderungen gefunden, die der Geheimdienst für die Werkzeuge formulierte, mit denen die Fläschchen geöffnet wurden. Am besten seien Metallstäbchen, hieß es da, flexibel genug, um sie unter die Deckel zu schieben, aber doch auch stabil genug, um Druck aufzubauen. An vielen Dopingproben, die in Sotschi von russischen Athleten gesammelt wurden und die noch vorhanden sind, fanden sich Kratzer, die nahelegen, dass derlei Stäbchen tatsächlich zum Einsatz kamen“ (Aumüller, Johannes, Kistner, Thomas, Mehr als 1000 Profiteure, in SZ 10.12.2016).

– McLaren-Report II teilweise erstaunlich harmlos
„An einigen Stellen wirkt McLarens zweiter Report vorsichtiger als sein erster. Das fällt vor allem an den Stellen auf, an denen es um das Nationale Olympische Komitee Russlands geht, das ROK. Für Bach war dieses Gremium im Sommer das entscheidende Argument, um Russland nicht komplett von den Spielen in Rio auszuschließen. Bachs Argumentation: Es gebe keine Beweise, dass das ROK in das Dopingsystem involviert gewesen sei. Deshalb sollten die internationalen Fachverbände entscheiden, welche russischen Sportler auszuschließen seien. Über diesen Weg fanden letztlich doch fast 300 Russen den Weg nach Rio. Das war aber eine mutige Zusammenfassung von Bach, weil der Report darlegte, wie zwei ROK-Mitglieder in das System verstrickt waren, unter anderem der stellvertretende Sportminister Juri Nagornych. (…) Bemerkenswert waren auch die Einlassungen McLarens zu Russlands mächtigstem Sportfunktionär Witali Mutko. Der war lange Jahre Sportminister, inzwischen ist er zum Vize-Premier aufgerückt. Außerdem sitzt er im Fußball-Weltverband Fifa und führt das Organisationskomitee für die Fußball-WM 2018, Russlands großes Prestigeprojekt. Noch in seinem ersten Report dokumentierte McLaren eine Mail, aus der sich der klare Verdacht ergab, dass Mutko selbst die Vertuschung einer Positivprobe in Auftrag gegeben habe. Dieses Dokument fehlt nun, stattdessen heißt es von McLaren, es gebe für eine Verstrickung von Mutko ‚keine direkten Beweise‘. Allerdings schreibt der Aufklärer an anderer Stelle, dass das Manipulationssystem mitsamt den vielen vertuschten Positivbefunden unter der Führung von Sportminister Mutko und seinem Stellvertreter Nagornych betrieben worden sei. (Ebenda). – „Gerade angesichts dieses überwältigenden Sittenbilds ist der Report schockierend schwach: Er rührt nicht an die Hauptverantwortlichen. Jedes Kind kann sie sehen, im Report bleiben sie Silhouetten. Schlimmer: Richard McLaren tat auf Nachfrage gar so, als glaube er selbst an einen Kulturwandel im russischen Sport. Klar, er will als objektiver Prüfer keine Angriffsfläche bieten. Wie Moskaus sportpolitische Maschine arbeitet, haben ja die letzten Monate gezeigt. Diese Funktionäre haben alle Weltverbände durchdrungen, ihre Seilschaft ist so stark wie die Freundschaft zwischen Bach und Putin“ (Kistner, Thomas, Kein Pardon für Eisberge! in SZ 10.12.2016). – „Das angeblich saubere ROK lieferte schon im Sommer, nach Vorlage des ersten McLaren-Reportes, die Begründung dafür, dass das IOC Russland den nahezu geschlossenen Start in Rio ermöglichte. Dieses Gremium selbst sei ja nicht involviert, argumentierte IOC-Präsident Thomas Bach, der Russland traditionell nahesteht. Das verblüffte, weil gemäß des damaligen Berichtes zwei ROK-Leute involviert waren. Einer davon war der (inzwischen entlassene) Vize-Sportminister Jurij Nagornych: Der entschied gemäß McLaren über Jahre, ob ein Positivtest korrekt oder falsch weitergegeben werden sollte“ (Aumüller, Johannes, Russland jubelt schon, in SZ 12.12.2016).

Dazu Thomas Kistner in einem Kommentar in der SZ:
„Lustig auch, was Thomas Bach erzählt. Der Boss des Internationalen Olympischen Komitees will alle lebenslang sperren, die in ein Betrugssystem eingebunden waren. Er ist zurück, der unbeugsame Null-Toleranz-Politiker! Der das Gros des Russenteams bei den Rio-Spielen starten und Whistleblowerin Stepanowa wegen ethischer Defizite sperren ließ. (…) Dass sich Bach und Co. weiter durchschlängeln dürfen, ist ein betrübliches Fazit des McLaren-Reports. Dieser präsentiert zum Russendoping die Art Mülltrennung, die bei sportinternen Ermittlungen stets droht. Zwar wird akribisch die staatliche Rolle aufgedeckt; der zynische Geist, Sünderzahlen, filmreife Tricks und Techniken – alles gipfelnd in der beispiellosen Betrugsdimension der Spiele in London und Sotschi. Klar muss aber sein: So war es vorher auch. Und so wäre es heute, wären nicht die Zeugen aufgestanden, die das IOC dafür aus Rio verbannte. (…) Hollywoods Spitzenkomiker könnten die Figuren ja gar nicht besser erfinden, die Russland nun in eine saubere Zukunft führen sollen. Kopf der Reformer ist Witali Smirnow, 81, ein Topkader aus der KPdSU-Ära, als Helden der Sowjetunion mit den DDR-Brüdern um die Wette dopten. Er betont: Es gab kein Staatsdoping! Auch die Hochsprung-Ikone Jelena Issinbajewa glaubt an Verschwörungen, dank Sonderregelung rückte sie in Bachs IOC-Athletenkomitee ein und beaufsichtigt zugleich Russlands Anti-Doping-Agentur. Dann ist da Witali Mutko. Sein Sportministerium hat den Betrug orchestriert. Aber ganz diskret, der Ärmste hatte keine Ahnung. Gehört er nicht schon deshalb raus? Nicht bei Putin. Nicht im Sport. Mutko sitzt auch im Vorstand des Fußball-Weltverbands Fifa und des WM-Organisationskomitees 2018. Satte Interessenskonflikte? Nicht im Sport“ (Kistner, Thomas, Kein Pardon für Eisberge! in SZ 10.12.2016).

– Stimmen zum Mc-Laren-Report II (in spiegelonline)
Sport-Ekspress, Russland: „Der kanadische Professor stützt seine Schlussfolgerungen auf das, was er Beweise nennt. Doch es steht zu bezweifeln, dass irgendein Gericht, das etwas auf sich hält, sie akzeptieren würde. Die Beschuldigten wurden nicht befragt, der Tatort nicht untersucht, die Zeugenauswahl ist einseitig.“
The Guardian, Großbritannien: „Das Verhalten des Internationalen Olympischen Komitees zeichnet sich vor allem durch seine Unschlüssigkeit und seine Verschleppung der Sache aus.“
The Times, Großbritannien: „Die Arbeit McLarens legt die Frage nahe, ob der Kampf gegen das Doping überhaupt zu gewinnen ist. Der naheliegende Impuls ist, mehr Geld reinzustecken, in der Hoffnung, ein robusteres System zu schaffen. Aber Geld ist nicht das eigentliche Problem, eher der Mangel an Entschlossenheit.“
The Daily Telegraph, Großbritannien: „Solange der Fünf-Ringe-Zirkus keine ernsthaften Maßnahmen gegen das Doping unternimmt, sollten sich die großen Städte der Welt der ‚Größten Show der Welt‘ verweigern.“
Le Parisien, Frankreich: „Der Bericht stellt noch eine Steigerung dar. Er zeigt, dass die Betrügerei alle sportlichen Wettkämpfe betrifft, die zwischen 2011 und 2015 stattgefunden haben.“
(Alle Zitate: „Ein starkes Nachbeben“, in spiegelonline 10.12.2016).
Der ehemalige Wada-Generaldirektor David Howman: „Es ist die nächste Gelegenheit für sie (das IOC), ihrer Verpflichtung nachzukommen, nämlich alle Proben nachzutesten, die sie gelagert haben, bevor die Frist ausläuft. Auf jeden Fall die Proben von London, auf jeden Fall von Sotschi, und von den Spielen in Vancouver hat bisher noch gar keiner gesprochen“ (Aumüller, Johannes, Russland jubelt schon, in SZ 12.12.2016).
Dagmar Freitag, die Chefin des Bundestag-Sportausschusses. Russland dürfe „so lange nicht an Welt- und Europameisterschaften und Olympia teilnehmen, bis das Sportsystem überprüfbar einer glaubwürdigen Reform unterzogen worden“ (Kistner, Thomas, Alles unter Kontrolle, in SZ 13.12.2016).

– Kommentare aus Russland: leugnen, lügen, abstreiten
Michail Degtjarjow, Chef des Sportausschusses in der Duma: „Bis jetzt hat McLaren über Doping in Russland nichts Neues gesagt. Irgendwelche ,1000 Sportler‘, wo sind die Beweise und die Zeugen?“ (Aumüller, Johannes, Kistner, Thomas, Mehr als 1000 Profiteure, in SZ 10.12.2016).
Russlands Rodel-Chefin Natalia Gart: „Das ist nichts als Müll“ (Ebenda).
Die ehemalige Stabhochspringerin Jelena Issinbajewa, jetzt Aufsichtsratschefin der russischen Anti-Doping-Agentur: „Es ist immer sehr einfach, Schuldige und Unschuldige in einen Topf zu werfen. Ich bezweifle, dass uns konkrete Beweise für eine Schuld gezeigt werden können, wenn wir darum bitten“ (Ebenda). – „Ich bezweifle, dass uns konkrete Beweise für eine Schuld gezeigt werden können“ (Hofmann, René, „Wir sind bereit, diese Opfer zu bringen“, in SZ 17.12.2016). – „Wir werden beschuldigt für Dinge, die wir nicht gemacht haben. Ich sehe das als Diskriminierung unserer Nation, weil wir Russland sind“ (Brüngger, Christian, Die Vorturnerin, in SZ 22.12.2016). – „Wir tolerieren diese  beweislosen Anschuldigungen, wir würden ein Staatsdoping betreiben, künftig nicht mehr“ (Ebenda).
Welche Beweise sollen denn noch geliefert werden – von der Entdeckung des „Mauselochs“ bis hin zu dem Beweis der geöffneten Urinproben-Gläsern – und nicht zuletzt der Aussagen des Laborchefs von Sotschi 2014?
Die bizarre und streng Putin-konforme Sichtweise offenbarte Issinbajewa auch bei dem Besuch des größten russischen Luftwaffenstützpunktes in Syrien nahe Lakatia im August 2016, wo die russischen Kampfbomber nach Aleppo starteten: „Jeder Start eines Jets war wie ein Wiegenlied für uns, auf das wir warteten, um einschlafen zu können“ (Ebenda).
Das könnte man als offen faschistisches Gedankengut bezeichnen.
Witalij Mutko, Ex-Sportminister und jetziger Vize-Premier: „Mir scheint, dass das IOC seinen Kurs schon eingeschlagen hat. Dass es in diesem Fall keine Kollektivstrafe geben soll“ (Aumüller, Johannes, Russland jubelt schon, in SZ 12.12.2016). Mutko bestritt am 10.12.2016 in der TASS, dass bei Sotschi 2014 heimlich Dopingproben ausgetauscht wurden: „In Sotschi wäre es unrealistisch gewesen, das zu tun, was man uns vorwirft“ (Hofmann, René, „Wir sind bereit, diese Opfer zu bringen“, in SZ 17.12.2016).
Dmitri Medwedew, russischer Ministerpräsident nannte am 15.12.2016 die Vorwürfe, dass es in Russland staatlich organisiertes Doping gegeben hätte, „völligen Blödsinn“: „Selbstverständlich hat es in Russland kein staatlich gestütztes Dopingsystem gegeben, gibt es nicht und kann es nicht geben… Die Anti-Doping-Kampagne hat sich in eine antirussische Kampagne verwandelt, das ist klar“ (Ebenda).
Staatspräsident Wladimir Putin bei seiner Jahres-Pressekonferenz am 23.12.2016: „In Russland hat es nie ein staatliches Dopingsystem oder Doping-Unterstützung gegeben, das ist einfach unmöglich“ (IOC ermittelt gegen 28 Atheten, in spiegelonline 23.12.2016).
Wer hat wohl das „Mauseloch“ im „Anti-Doping-Labor“ von Sotschi 2014 installiert?

– Skandal-Sportfunktionär Witalij Mutko
„Mutko war in all den schmutzigen Jahren der Sportminister, nun stieg er zum Vize-Premier auf. Er sitzt im Vorstand des Fußball-Weltverbands Fifa und – mehr Interessenskonflikt geht nicht –, er präsidiert auch dem Organisationskomitee für die WM 2018. Noch im Juni hatte McLaren, in seinem ersten Report für die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada, Mutko als Mitwisser, womöglich Initiator einer Dopingvertuschung im Fußball dargestellt. Die Wada forderte die Fifa-Ethikkommission öffentlich auf, ‚die Vorwürfe zu untersuchen, die den Fußball betreffen, und auch die Rolle, die ein Exekutivmitglied, Minister Witalij Mutko, spielt‘. Sofort erbaten die Fifa-Ethiker alle Dokumente zu Mutko, weitere Gesuche folgten. Vergeblich. Sie bekam nie etwas. Nun weckt das neue Fußball-Material erneut ihr Interesse. Auch das werden die Ethiker anfordern, zumal nun 33 Doping-Verdachtsfälle aufgelistet sind. Nur Mutkos Rolle wird groteskerweise immer unschärfer – dabei hat er jenes Ministerium geleitet, das als Regiepult der Betrugsverschwörung gilt. (…) Der dänische Nada-Chef Michael Ask findet, Russland dürfe vorläufig keine Fußball-WM veranstalten. Damian Collins, Sportvorsitzender im britischen Parlament, fragt die Fifa, ob Mutko der richtige Vorstand sei und fordert sie auf, ’sehr ernsthaft zu prüfen, wie die WM veranstaltet wird. Wie kann Russland der Fifa und der Welt Vertrauen geben, dass es richtige Anti-Doping-Maßnahmen gibt?‘ (…) Fifa-Boss Gianni Infantino sprach Mutko schon das Vertrauen aus. (…) Die Wada ist bei der WM sogar ausgesperrt, hat ‚Beobachterstatus‘. Das Fifa-Testsystem regelt handverlesenes Personal. Zwar gehen die Proben an ein Wada-Labor, aber bis 2018 dürfte das in Moskau wieder akkreditiert sein. Beaufsichtigt wird es von Sportfiguren wie Jelena Issinbajewa, die das ganze Dopingtheater für eine Auslands-Verschwörung hält. Das größere Problem ist: Nicht mal das integerste Labor könnte etwas ausrichten. Selbst wenn es 100 WM-Sündenfälle ermitteln würde, könnte das folgenlos bleiben und die Öffentlichkeit niemals erreichen. Denn die Befunde gehen an die Fifa, zum Anti-Doping-Chef (der Job ist gerade vakant) sowie an Präsident und Generalsekretär. Die entscheiden, was passiert; nur die Fifa hat das Recht, Dopingfälle zu publizieren. Tut sie es nicht? Gibt es keinen Fall“ (Kistner, Thomas, Alles unter Kontrolle, in SZ 13.12.2016; Hervorhebung WZ).

– Bob- und Skeleton-WM 2017 in Sotschi abgesagt
„Der Bob- und Skeleton-Weltverband IBSF hat vor dem Hintergrund der jüngsten Dopingenthüllungen Sotschi die Weltmeisterschaft entzogen. Das gab der Verband auf seiner Website bekannt. Der zweite McLaren-Report hatte ein staatlich gestütztes Dopingsystem in Russland bestätigt. (…)  ‚Das IBSF-Exekutivkomitee war der Auffassung, dass es in dieser schwierigen Zeit nicht ratsam ist, eine solche Veranstaltung in Russland zu organisieren‘, hieß es in einer Mitteilung. Moskau reagierte verärgert und sieht in den Vorwürfen eine Kampagne des Westens“ (Bob- und Skeleton-Verband entzieht Sotschi die WM, in spiegelonline 13.12.2016). – „Der zweite McLaren-Report hatte ein staatlich gestütztes Dopingsystem in Russland bestätigt. Mehr als 1000 Sportler sollen von Doping-Vertuschung profitiert haben, u.a. bei den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi. Der Skeleton-Verband Lettlands hatte am Montag bereits angekündigt, eine WM in Sotschi boykottieren zu wollen. Mehrere andere Länder diskutierten denselben Schritt und erhöhten damit den Druck auf die IBSF“ (SID, SZ, WM-Entzug für Sotschi, in SZ 14.12.2016).
Zum Hintergrund: „Dass die Bob- und Skeleton-WM 2017 in Sotschi dem russischen Verband entzogen wird, war am Mittwochabend bekannt gegeben worden. Doch schon viel früher war klar, dass es nichts wird mit Sotschi. Denn beim Meeting während des Weltcups Anfang Dezember in Whistler hatten die Trainer ihren Ärger über die Zustände im russischen Sport offenbart, außerdem war die Buchungsfrist für die Hotels längst überschritten – und, so berichtet Thomas Schwab, der Sportdirektor des deutschen Verbandes: ‚Fast niemand hatte gebucht.‘ (…) Der Druck wurde also immens, und der Internationale Bob- und Skeletonverband (IBSF) konnte gar nicht mehr anders: Die WM in Sotschi, dem Olympiaort von 2014, wo laut Wada-Erkenntnissen im berüchtigten Anti-Doping-Labor russische Doping-Proben durch ein Loch in der Wand ausgetauscht und durch saubere ersetzt wurden, diese WM wird also abgesagt und an einen anderen Ort verlegt. Wahrscheinlich wird dies der deutsche Bob- und Rodelstandort Königssee sein. (…) Jenseits von Russland wird die Entscheidung dagegen überwiegend begrüßt, und zwar als Statement gegen Systemdoping. ‚Ich bin so froh, dass unsere Stimmen gehört wurden und unser Sport beim Kampf gegen Doping mitmacht‘, sagte die Skeleton-Olympiasiegerin Lizzy Yarnold aus Großbritannien. Dagmar Freitag (SPD), die Vorsitzende des Bundestags-Sportausschusses, bezeichnet den WM-Entzug als ’starkes Signal‘ an die Sportwelt. Die Entscheidung mache deutlich: ‚Konsequente Sanktionierung von Dopingvergehen funktioniert nicht durch sportpolitische Verbalnoten, hinter denen sich das IOC und sein Präsident Thomas Bach gerne verstecken‘. Tatsächlich kommt vom Internationalen Olympischen Komitee für Einzelverbände kaum konkrete Hilfe bei der Entscheidungsfindung. Zwar erklärte ein IOC-Sprecher am Mittwoch, die Organisation begrüße die IBSF-Maßnahme, eine klare Haltung zu Staatsdoping wird aber vermieden. Der deutsche Bob- und Rodel-Sportchef Thomas Schwab beklagt offen: ‚Was uns fehlt, ist die Unterstützung vom IOC’“ (Kreisl, Volker, Auf Entzug, in SZ 15.12.2016).
Dazu aus einem Kommentar von Volker Kreisl in der SZ: „Zunächst ist er ein durchaus empfindlicher Schlag gegen das russische Selbstverständnis, wonach sich am Ende doch immer das eigene undurchschaubare Erfolgssystem durchsetzt. Der Standort Sotschi, mit seiner Bob-Bahn, in den Wald geschnitten für einen heldenhaften Olympia-Auftritt 2014, ist mit Bedeutung aufgeladen. Dass die Welt, und wenn es auch nur die Bob-Welt ist, hier partout nicht zu Gast sein will, passt nicht ins Konzept. Genauer gesagt besteht diese sich verweigernde Bob-Welt aus den Bob-Athleten. Anders als beim Olympia-Bann der Leichtathleten und der paralympischen Mannschaft ging die Initiative hier nicht von Verbandsherren aus, sondern von den Sportlern, die einfach keine Lust hatten, in einem Land anzutreten, dessen Sportfunktionäre nur abstreiten und zur Aufklärung nichts beitragen. Durch die Front, die Letten, Briten, Amerikaner, Österreicher und manche andere gebildet haben, wurden die Bob-Gremien zum Handeln gezwungen. Auf einmal begrüßten auch Sponsoren die Entscheidung, und das übliche Verschieben der Verantwortung war nicht mehr möglich. Eine Lösung des russischen Problems wird die Bob-Entscheidung dennoch nicht bringen. Denn die Fachverbände erweisen sich meist als überfordert, nicht selten stehen sie unter russischem Einfluss. Und das IOC wird sich unter seinem Präsidenten Thomas Bach weiter vor harten Konsequenzen gegen russisches Staatsdoping drücken, dabei hätte es als einzige Institution wirksame Hebel gegen die Zersetzung seiner Glaubwürdigkeit “ (Kreisl, Volker, Absage von unten, in SZ 15.12.2016).
Nachtrag: „Die Bob- und Skeleton-Weltmeisterschaften finden im Februar 2017 am Königssee statt. Das entschied das Präsidium des Weltverbandes IBSF. Dem Olympia-Ort Sotschi waren die Titelkämpfe am 13. Dezember wegen der massiven Dopingvorwürfe gegen Russland entzogen worden“ (Königssee springt für Sotschi ein, in spiegelonline 19.12.2016).

– Deutsche Politiker kritisieren Bachs IOC
„Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat IOC-Präsident Thomas Bach aufgefordert, nach den Dopingenthüllungen der Welt-Antidoping-Agentur Wada zu handeln. Der zweite Bericht des Wada-Sonderermittlers Richard McLaren zeige, dass das Ausmaß der Manipulationen von Dopingkontrollen in Russland noch deutlich größer und erschreckender sei als angenommen, sagte de Maizière dem SPIEGEL. ‚Nun sind klare und harte Konsequenzen erforderlich‘. Das IOC müsse endlich erklären, wie der Kampf gegen Doping verbessert werden könne. Die Vorsitzende des Sportausschusses im Bundestag, Dagmar Freitag, kritisierte, Bach sei bisher viel zu zögerlich vorgegangen. Die SPD-Politikerin schloss auch drastische Maßnahmen nicht aus: ‚Ich habe viel Verständnis für die Frage, ob Russland die Fußball-WM entzogen werden sollte.‘ Der CDU-Obmann im Ausschuss, Frank Steffel, forderte, das IOC müsse mit aller Härte gegen Moskau vorgehen, sonst werde die Organisation zum Totengräber des Sports“ (Neukirch, Ralf, Bundesregierung setzt Bach unter Druck, in spiegelonline 17.12.2016).

– DLV-Präsident Prokop greift Bach an
Der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, der Jurist Clemens Prokop, hat in einem Beitrag in der FAZ dem IOC-Präsidenten Thomas Bach Rechtsbruch vorgeworfen, weil  Bach trotz des erwiesenen russischen Systemdopings russische Sportler bei Rio 2016 zugelassen habe. Prokop bezog sich dabei auf den Paragraphen 59 der Olympischen Charta, der die Suspendierung von Nationalen Olympischen Komitees regelt. Prokop: „Wenn die Werte des Internationalen Olympischen Komitees ernst genommen werden, müsste das NOK Russlands bis  zur Lösung seines Doping-Problems vom IOC suspendiert werden, zum Schutz aller betroffenen Athleten und von Fair-Play im Wettkampf“ (DPA, Prokop: Russland müsste vom IOC suspendiert werden, in faz.net 20.12.2016). Prokop bezog sich dabei auch auf den Paragraphen 27, der die Dopingbekämpfung den NOKs überträgt. Dazu kommentierte Thomas Kistner in der SZ: „Dass ein Jurist einem Juristen öffentlich eine Art Rechtsbruch vorwirft, kommt im Sport nicht alle Tage vor. Fast unvorstellbar war bisher, dass so eine Attacke auf den Thronherrn dieser Sportwelt zielen könnte: auf Thomas Bach, den Boss des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). (…) Prokop pocht überdies auf Regel 27, die den NOKs die Dopingbekämpfung überträgt: Gar keine Frage, Russlands ROK hat diese Kernaufgabe nicht erfüllt. Bach aber sieht es lieber so, dass letzte Beweise für die Dopingteilhabe des ROK so wenig vorlägen wie dafür, dass Sportminister Mutko gewusst habe, was sein Ministerium trieb. Das sei kaum vorstellbar, sagt Prokop und stellt die Vernunftsfrage: Wie realitätsfern müssen Funktionäre sein, die ‚eine institutionell strukturierte Dopingpraxis in diesem unglaublichen Ausmaß nicht wahrnehmen?‘  Die Russland-Affäre wird immer absurder. Dass Moskau dazu kräftig beiträgt, liegt in der Natur der Sache“ (Kistner, Thomas, Anklage vom Juristen, in SZ 21.12.2016).

– Nach Bob und Skeleton sagt auch Biathlon ab
Die Biathlon-Weltverband IBU erhielt von der Wada eine Liste mit 31 russischen Biathleten und -innen, die dopingverdächtig sind. Die IBU hatte sofort nach Veröffentlichung des zweiten McLaren-Berichts am 9.12.2016 eine Arbeitsgruppe am 12.12.2016 gegründet mit Experten im Bereich Dopingbekämpfung, Medizin, Recht und Ergebnismanagement. Die IBU-Vorstandssitzung am 22.12.2016 in München brachte u. a. als  Ergebnis, dass eine formelle Untersuchung durch die IBU gegen die russische Biathlon-Union RBU und 29 im McLaren-Bericht genannten AthletInnen eingeleitet wird. Zwei AthletInnen, Teilnehmer von Sotschi 2014, wurden suspendiert. Die RBU hat die IBU informiert, dass sie die Jugend- und Junioren-WM 2017 (an Ostrov) und der BMW IBU-Weltcup 2017 (Tyumen) zurückgeben wird. IBU-Präsident Anders Besseberg: „Die  Erkenntnisse des McLaren-Berichts zeigen schwerwiegende Probleme im russischen Sport und seinem Anti-Doping-Kontrollsystem auf. Die IBU nimmt alle diese Informationen sehr ernst; es ist nun an uns, im Einzelnen herauszufinden, welches Ausmaß dieses Problem im russischen Biathlon hat“ (IBU-Pressemitteilung: Außerordentliche Sitzung des IBU-Vorstandes, in de.biathlonworld.com 22.12.2016). Die Maßnahmen waren allerdings sehr milde: Gegen die RBU und 29 AthletInnen wurden formelle Verfahren und gegen zwei BiathletInnen Disziplinarmaßnahmen eingeleitet; diese wurden vorläufig suspendiert (Mölter, Joachim, Die nächsten Lawinen, in SZ 23.12.2016). – „Der erste Vizepräsident der IBU, der auch Mitglied des Vorstands der Russischen Biathlon-Union ist, hat sich nicht an den Entscheidungen beteiligt“ (Ebenda). Falls  sich die IBU entscheide, Athleten zu sperren, soll dies vor der ersten Weltcup-Woche 2017 in Oberhof geschehen (Dopingverdacht gegen 31 russische Sportler, in spiegelonline 15.12.2016).
Die Rückgabe von Ostrov und Tyumen durch die RBU „dürfte allein taktisch motiviert sein, denn so wie sich die Dinge zuletzt entwickelten, wäre ohnehin kaum ein anderer Biathlet dort angetreten“ (Kreisl, Volker, Vergiftete Winterwelt, in SZ 25.12.2016). So sagte der fünfmalige Biathlon-Gesamtsieger Martin Fourcade aus Frankreich: „Ich hoffe, sie haben die Eier, sie zu sperren… Wenn nicht, müssen die Biathleten selbst aktiv werden“ (Hofmann, René, „Wir sind bereit, diese Opfer zu bringen“, in SZ 17.12.2016). Auch die tschechische Spitzenbiathletin Gabriela Koukalova und die gesamte norwegische Mannschaft hatten mit Boykott gedroht (Kreisl 24.12.2016). – „Das Internationale Olympische Komitee IOC hat Doping-Ermittlungen gegen 28 russische Athleten eingeleitet und wird darüber hinaus die Dopingproben aller Olympiateilnehmer von Sotschi 2014, London 2012 und Vancouver 2010  aus Russland erneut analysieren. Das teilte das IOC am Freitag (23.12.2016; WZ) mit“ (IOC ermittelt gegen 28 Athleten, in spiegelonline 23.12.2016).
Dazu Volker Kreisl in einem Beitrag in der SZ: „Die Vertreter des Ski-Zweikampfs stehen im Zentrum des Wintersports, und sie präsentieren sich besonders als harmonischer Clan. Doch nun herrscht Streit in der Familie. Im Biathlon ging es zuletzt nicht mehr um die Sieger eines Rennens, sondern um die Frage, wie man mit dem russischen Staatsdoping umgehen soll. Die Atmosphäre ist vergiftet, beherrscht von Unsicherheit, Misstrauen und Wut gegen die gerade wieder mal plötzlich erfolgreichen russischen Kontrahenten – und gegen den eigenen Weltverband IBU. (…) Wie die IBU, so lobte auch die Fis (Internationaler Skiverband; WZ) den neuen russischen Willen zur Kooperation, auch sie hofft, dass sich nun die Stimmung beruhigt – und auch sie täuscht sich wahrscheinlich. Denn für eine echte Kooperation, also die gemeinsame Aufklärung der Vergiftung der Winterwelt, wäre als Basis die Einsicht vonnöten, dass irgendetwas falsch gelaufen ist. Doch der aktuell beste Biathlet Anton Schipulin, Staffel-Olympiasieger von Sotschi, sagte nur, dass die Dopingvorwürfe politisch motiviert seien, ‚Beschuldigungen ohne jede Beweise‘. (…) Die Gemüter werden sich auch bei den Biathlon-Weltcups in Oberhof, Ruhpolding und wohl auch bei der WM in Hochfilzen/Österreich kaum beruhigen, denn besonders die jüngere russische Biathlon-Geschichte ist eine Geschichte des Dopings. Bei den Spielen in Turin wurde Olga Pylewa gesperrt, 2009, kurz vor der WM in Pyeongchang, war das Doping dann klar systematisch: Die drei aufgeflogenen Sportler nahmen alle den gleichen modifizierten Blutbeschleuniger. Dafür erhielt der Verband eine Strafe von 50 000 Euro, und im Jahr 2014, als abermals die RBU drei Dopingfälle hatte, eine Strafe von 100 000 Euro. Das russische Biathlon-Doping hat eine historische und eine politische Dimension durch die naheliegende Verwicklung in Vertuschung in Sotschi. Es ist nahezu unmöglich, nicht davon überzeugt zu sein, dass staatlich gelenktes Doping vorliegt“ (Kreisl, Volker, Vergiftete Winterwelt, in SZ 24.12.2016).

– Russische Langläufer werden gesperrt
„Der Internationale Ski-Verband FIS hat derweil vorläufig sechs russische Ski-Langläufer gesperrt. Die Namen der betroffenen Athleten, deren Sperre seit Donnerstag (22.12.2016; WZ) in Kraft ist, wurden nicht genannt. Man sei entschlossen, die nötigen Maßnahmen zur Bestrafung möglicher Verstöße zu ergreifen, sagte Fis-Präsident Gian Franco Kasper“ (Ebenda). – „Die russische Skilangläuferin Julia Iwanowa hat eine vorläufige Sperre wegen Doping-Verdachts bestätigt. (…) Der Welt-Skiverband Fis hat sechs russische Langläuferinnen und Langläufer gesperrt, weil sie durch Nachprüfungen unter Verdacht stehen, in Sotschi gedopt zu haben. (…) Der zweite Bericht des Sonderermittlers Richard McLaren für die Welt-Anti- Doping-Agentur Wada enthält die Namen von etwa 1000 russischen Sportlern. Sie sollen in Manipulationen von Dopingproben verwickelt sein“ (DPA, Iwanowa bestätigt Sperre, in SZ 27.12.2016).

– Auch Langläufer wehren sich
Mehr als hundert aktive Skilangläufer, darunter 15 Aktive des DSV und auch vier Russinnen, schrieben an IOC-Präsident Thomas Bach und Fis-Präsident Gian Franco Kasper einen offenen Brief, in dem sie die unzureichenden Konsequenzen aus dem McLaren-Report kritisierten. „Wir finden, dass der Umgang mit dem Nachweis des staatlich geförderten systematischen Dopings im McLaren-Bericht und mit anderen Dopingverstößen rund um die Olympischen Sommerspiele 2016 über mehrere Sportarten hinweg beunruhigend nachsichtig gewesen ist… Dies hat die Glaubwürdigkeit dessen, was es bedeutet, ein olympischer Sportler zu sein, beschädigt. Wir glauben, dass diese Nachsicht nicht zu einer Organisation wie dem IOC passt, das daran arbeiten sollte, den Sport sauberer zu machen. Wir sind auch betroffen über Kommentare der Fis-Führung über Doping in unserem Sport… Wir glauben, dass ein nachsichtiger Ansatz gegenüber Doping es erlaubt, dass Betrug in unserem Sport weiter besteht. Wir fordern für einen sauberen Sport stärkere Führung durch die Fis und das IOC“ (SID, „Glaubwürdigkeit beschädigt“, in SZ 27.12.2016).

– „Athletenvertreterin“ Issinbajewa
„Was ist die Aufgabe exponierter Athletenvertreter in der heutigen Sportwelt? Ganz einfach: Sie sollten versuchen, ‚eine zuverlässige Brücke zwischen Russland und dem IOC zu sein‘. So sagte das vor ein paar Monaten Jelena Issinbajewa. Die war mal als Stabhochsprung-Olympiasiegerin berühmt. Inzwischen ist sie ein Vorzeigegesicht von Wladimir Putins neuem Sportsystem, Aufsichtsratschefin von Russlands Anti-Doping-Agentur Rusada – und Athletenvertreterin im Internationalen Olympischen Komitee mit oben genannter Arbeitsdefinition“ (Aumüller, Johannes, Die Kraft des Kerns, in SZ 28.12.2016).
Von daher sollte Issinbajewa besser als „Putinvertreterin“ deklariert werden.
„Ach, wie schön könnte das Leben als führender Sportpolitiker sein, wenn sich nur alle Sportler derart brav die passenden sportpolitischen Leitsätze zu eigen machen würden. Nur ist es so, dass die Zahl stromlinienförmiger Athletenvertreter à la Issinbajewa deutlich abnimmt. (…) Und in diesen Tagen sind es insbesondere Vertreter verschiedener Wintersportarten, die sich positionieren und so zeigen, welche Kraft sie bisweilen haben können.  Zuerst zwang eine Boykott-Drohung lettischer und anderer Bob-Athleten den internationalen Fachverband, die WM aus Sotschi abzuziehen. (…) Russlands Verband kam anderen Konsequenzen zuvor, indem er freiwillig einen Weltcup zurückgab. Nun bitten 104 Langläufer aus zehn Nationen die eigene Weltverbandsführung zum Krisengespräch, weil der Umgang mit Russlands Dopingsumpf ‚über mehrere Sportarten hinweg beunruhigend nachsichtig‘ gewesen sei“ (Ebenda).

– Goldmedaille per Post
Thomas Kistner in der SZ: „Olympische Spiele wandern in den Privatsender Eurosport ab? Was dramatisch klingt, ist eigentlich kaum noch ein Problem. Denn die Spiele sind eh nur mehr Momentaufnahme, eine Illusion fürs Publikum: In Zeiten massivsten Dopings durch einzelne Athleten und ganze Staaten steht erst Jahre später fest, wer welche Medaille gewonnen hat. Gerade rückt die Hochsprung-Siebte von Peking 2008, Ariane Friedrich, auf Rang vier, bei Dopingnachtests flogen drei der Damen vor ihr als Betrügerinnen auf. Noch so ein Pröbchen, und Deutschland hat Bronze. Die Vierte im Gewichtheben von London 2012, Lidia Valentin, kriegt Gold nun per Post nach Spanien geschickt. All das schreckt die Leute ab. Es passt nicht zu den schönen Bildern“ (Kistner, Thomas, In der Nische, in SZ 29.12.2016).

– Kasper: Debatte über Fußball-WM 2018
FIS-Präsident Gian Franco Kasper debattiert anlässlich des russischen Staatsdoping auch über die Fußball-WM 2018 in Russland: „Kasper fragt in der Berliner Zeitung, ob jetzt nicht auch über die Fußball-WM 2018 debattiert werden müsse: ‚Die Diskussion müsste eigentlich noch in Gang kommen.‘ Es könne nicht sein, dass nur die kleineren, nachrangigen Sport-Verbände reagieren – vier internationale Veranstaltungen (Skilanglauf-Weltcupfinale, Eisschnelllauf-Weltcup-Finale, Biathlon-Weltcup, Bob-WM) wurden Russland in diesem Winter bereits entzogen. Zwar steht Russlands Fußball nicht im Zentrum des McLaren-Reports, mehr als 30 Doping-Erwähnungen betreffen jedoch auch die Königsdisziplin“ (Hoeltzenbein, Klaus, Die Drohkulisse, in SZ 29.12.2016).

–  „Institutionelle Verschwörung“
„‚Es war eine institutionelle Verschwörung.‘ Diese Worte sind im Zusammenhang mit dem umfangreichen russischen Manipulationssystem schon des Öfteren gefallen. Bemerkenswert war, wer sie dieses Mal benutzte: Anna Anzeliowitsch, Chefin der nationalen Anti-Doping-Agentur Rusada. Am Mittwoch zitierte die New York Times die Funktionärin mit diesem Satz. Bisher hatten Russlands Vertreter ein solches Bekenntnis stets vermieden; nun klang es so, als würden sie endlich einen ohnehin längst dokumentierten Vorwurf eingestehen. Doch nur wenige Stunden nach Publikation des Textes versuchte Moskau, den Ausspruch wieder einzukassieren. (…) Und besonders spektakulär war die Einlassung ohnehin nicht. Denn dass es eine ‚institutionelle Verschwörung‘ gab, ist durch Aussagen des früheren Moskauer Labor-Chefs Grigorij Rodtschenkow sowie McLarens Arbeit ohnehin bekannt und belegt. Demnach waren das Sportministerium, der Geheimdienst FSB, das Kontrolllabor sowie die Rusada, für die Anzeliowitsch in der fraglichen Zeit als Abteilungsleiterin arbeitete, selbst beteiligt. Der Laborchef mixte für ausgewählte Sportler für die Winterspiele 2014 in Sotschi einen Doping-Cocktail. Während der Wettkämpfe tauschte der Geheimdienst Proben gegen saubere aus. Und unter Überwachung des Sportministeriums, insbesondere des Vize-Ministers Jurij Nagornych, wurden Positivtests über Jahre systematisch vertuscht“ (Aumüller, Johannes, Verwirrung um Doping-Geständnis, in SZ 29.12.2016). Anzeliowitsch ist seit Dezember 2015 Rusada-Chefin („Es war eine institutionelle Verschwörung“, in spiegelonline 28.12.2016).

– Russische Politik, russische Sportpolitik
Julian Hans in der SZ zu russischen Tarnmanövern: „Der Eiertanz um die Aussagen der Rusada-Vorsitzenden Anna Anzeliowitsch über die Staatsbeteiligung beim Doping sagt mehr über das Verhältnis des Kremls zum Betrug aus, als es ein klares Geständnis vermocht hätte. (…) Die Panama-Papers enthüllen, dass ein Cellist und Jugendfreund Putins Milliarden aus russischen Staatsunternehmen über Offshore-Konten bewegt? Alles nur eine Kampagne fremder Mächte gegen den russischen Präsidenten! Offshore-Konten sind doch nichts Außergewöhnliches! Stunden nach Vereinbarung einer Feuerpause wird vor Aleppo ein Hilfstransport der Vereinten Nationen beschossen? Wir waren es nicht! (…) Diesmal war es noch nicht mal sensationell, was die Chefin der Anti-Doping-Agentur laut New York Times über Doping in ihrer Heimat gesagt haben soll: ‚Es war eine institutionelle Verschwörung.‘ Das Zitat sei entstellt und aus dem Kontext gerissen, erklärte die Rusada. (…) Gab es also ein Doping-System? Irgendwie schon, aber dann auch wieder nicht, jedenfalls nicht staatlich, jedenfalls wusste der Präsident nichts davon. So hatte das ja auch Anna Anzeliowitsch gesagt. Das Prinzip ist bekannt: Männer in seltsamen Uniformen sind erst Selbstverteidigungskräfte der Krim, dann aber doch irgendwie ein bisschen russische Spezialeinheiten. Von den großen Sportverbänden muss Putin kaum Konsequenzen fürchten. In deren Gremien reden seit Langem Leute mit, die ihm in Dankbarkeit (und Erpressbarkeit?) ergeben sind. Von Fußball bis Fechten gibt es kaum einen Weltverband, in dessen Führung nicht ein Milliardär oder Politiker sitzt, dessen Gedeih und Verderb von seiner Loyalität zum Präsidenten abhängt“ (Hans, Julian, Tarnen, täuschen, dopen, in SZ 29.12.2016).
Richard McLaren hatte wohlweislich zurückhaltend auf das Doping-Geständnis von Anzeliowitsch reagiert: „Das ist Schadensbegrenzung“ (Ermittler McLaren bleibt misstrauisch, in spiegelonline 28.12.2016). – „Gleichzeitig vermutete McLaren, dass mit dem Eingeständnis womöglich weitere Untersuchungen verhindert werden sollen“ (Ebenda).

– US-Dopingfahnder Travis Tygart zum russischen Staatsdoping
Travis Tygart ist Chef der US-Anti-Doping.Agentur Usada und überführte 2012 den Radrennfahrer Lance Armstrong. Im Spiegel-Interview sagte er zum russischen Dopingsystem, er hätte sich nicht dessen Niveau und dessen Zeitraum vorstellen können: „Die Russen waren in der Lage, versiegelte Urinproben aufzubrechen, ohne dass es jemand merkt, unsaubere gegen saubere auszutauschen oder ganz verschwinden zu lassen. Unglaublich.“ – Zur „Nulltoleranzpolitik“ von IOC-Präsident Thomas Bach: „Aus Nulltoleranz wurde Toleranz für Staatsdoping, aus  der Drohung harter Konsequenzen sind gar keine Konsequenzen geworden.“ Tygart plädierte dafür, die russischen Sportler von internationalen Wettbewerben auszuschließen „und zwar so lange, bis sich das Land wieder an die Regeln des Anti-Doping-Codes hält“. – Das russische Staatsdoping funktionierte von oben nach unten: „Es gab Befehle: Ihr nehmt diese und jene Mittel, sonst werdet ihr aus dem Kader geschmissen.“ Zur Sperre der Whistleblowerin Julia Stepanowa für Rio 2016 durch das Bach-IOC: „Wäre sie dabei gewesen, wäre das ein Signal an alle Sportler in der Welt gewesen: Steht auf! Sagt, was ihr wisst! Es war eine verpasste Chance.“ (Alle Zitate: Eberle, Lukas, Hacke, Detlef, „Steht auf! Sagt, was ihr wisst!“ in Der Spiegel 52/23.12.2016).
Genau deshalb drückte ja Bach die Starterlaubnis für die russischen Sportler und die Sperre für Stepanowa durch: um den Athleten weltweit zu zeigen, dass Staatsdoping durchgeht und Whistleblower keine Chance haben im verrotteten IOC-Sport.

– McLaren-Report zwiespältig
Für Johannes Aumüller und Thomas Kistner hat der McLaren-Report zwei Seiten: „Verdienstvoll ist die Kärrnerarbeit, die einen mit staatlicher Akribie kompilierten Pharmabetrug offenlegt und endlose Belege für Doping und Dopingvertuschung im russischen Sport präsentiert. Mehr als 1000 Athleten profitierten demnach davon. Die ersten Wintersportler sind schon suspendiert, mehr Athleten werden folgen, Ergebnislisten von Olympischen Spielen müssen umgeschrieben werden. Die Enthüllungen sind so ungeheuerlich, dass weltweit erstmals sogar die Athleten – bisher das schwächste und faktisch willenlose Glied in der Verwertungskette des Kommerzsports – heftig protestieren. Daneben gibt es eine andere Seite. Sie geht, ob all der Aufgeregtheit, bisher eher unter: Der Report kreiert diskret ein Raster, mit dessen Hilfe die Sportmacht Russland und seine traditionellen Verbündeten im Internationalen Olympischen Komitee (IOC) recht kommod durch die nächsten Monaten steuern können. Trotz der klaren Belege, der vernichtenden Detailfülle. Womöglich ist das der Grund, warum der IOC-Chef Thomas Bach McLaren nach der Präsentation so lobte. (…) Das betrifft als Erstes die Kernfrage nach der Rolle des Staates. Interessanterweise sprach McLaren im ersten Report von einer staatlichen Steuerung. Im zweiten, der noch viel mehr Pharma-Unrat transportiert, rudert der Chefermittler plötzlich zurück. Es konstatiert ausdrücklich nur noch eine ‚institutionelle Verschwörung‘, an der, Achtung, Sportministerium, der Geheimdienst FSB, Kontrolllabor und Anti-Doping-Agentur beteiligt waren. ‚Ich habe die Terminologie gewechselt. Ich benutze jetzt nicht mehr das Wort staatlich‘, erklärte er jüngst“ (Aumüller, Johannes, Kistner, Thomas, Dunkle Seiten, in SZ 30.12.2016). Als weitere Besonderheit benennen Aumüller und Kistner den Eiertanz um das Nationale Olympische Komitee Russlands: „Die angebliche Reinheit dieses Gremiums im Zentrum allen Sports diente dem IOC dazu, das russische Team unter russischer Flagge in Rio starten zu lassen; zum Entsetzen der internationalen Sportwelt und der Anti-Doping-Kämpfer. Der Dreh: Das ROK sei nicht am Dopingkonstrukt beteiligt gewesen. Das war eine höchst eigenwillige Bewertung von McLarens erstem Report, zumal Vize-Minister Nagornych Teil des NOK war. Bericht zwei fiel auch diesbezüglich zurückhaltender aus, es gebe ‚keine Beweise‘, dass das Gremium involviert war. Dem IOC steht die Argumentationskette also weiter zur Verfügung – etwa, wenn es um die Winterspiele 2018 in Korea geht“ (Ebenda).

– Die „Ziege“ Alexander Legkow
„Wer schon immer einmal in die Tiefen des russischen Dopingmorastes eintauchen wollte, dem sei die Internetseite www.ipevidencedisclosurepackage.net empfohlen (Russischkenntnisse sind von Vorteil). Der Kanadier Richard McLaren breitet dort 1166 Dokumente aus, E-mails, forensische Gutachten, mehr als 1000 Athleten, die vom jahrelangen Systemdoping profitierten. Allerdings sind die scharfen Konturen des Betrugs selten ausgemalt, viele Namen sind verschlüsselt. Nur an wenigen Stellen sind Fährten gelegt, warum auch immer. Eine der Fährten führt zum Skilangläufer Alexander Legkow. ‚Sie haben die dumme Ziege Legkow gerettet,‘ schreibt Grigorij Rodschenkow in einer der Mails; jener ehemalige Laborleiter, der im Epizentrum des Systemdopings agierte und es im vergangenen Sommer in der New York Times freilegte. (…) In diesem Zusammenhang ist von einer Positivprobe die Rede, sie wurde am 28. März 2014 genommen, bei den russischen Meisterschaften. In der Probe wurde Budesonid gefunden, es ist oft in Asthmamitteln enthalten. Der betroffene Athlet wird in der E-mmail als A0467 geführt. Diese Kennung taucht mehrmals in McLarens Datenbanken auf, unter anderem in einem ‚State Program‘ für Sotschi. Athlet A0467 wurde dort mehrmals auf Blut und Urin getestet, auch am Tag des Massenstarts über 50 Kilometer. Laut einer weiteren Liste gewann dieser Athlet dabei Gold. Der Sieger damals hieß: Legkow“ (Knuth, Johannes, Cocktails für die Ziege, in SZ 2.1.2017).

IAAF und russische Sportler
Der Leichtathletik-Weltverband IAAF will russischen Sportlern 2017 ein internationales Startrecht ermöglichen: „Damit sie unter neutraler Flagge an Wettkämpfen teilnehmen dürfen, müssen die Sportler einen umfangreichen Fragenkatalog beantworten, um nachzuweisen, dass sie von dem laut McLaren-Report staatlich verordneten Doping in ihrer Heimat nicht betroffen waren“ (SID, Fragenkatalog für die Russen, in SZ 4.1.2017). Die IAAF hat von den Ermittlern um Richard McLaren die Namen von 200 russischen Athleten erhalten, die Teil der Doping-Maschinerie ihres Landes gewesen sein sollen. „Die IAAF unter dem Vorsitz ihres Präsidenten Sebastian Coe hat mittlerweile 50 russische Athleten in ihren sogenannten IRT-Pool aufgenommen. Diese Sportler sind bereits in den vergangenen Monaten unter Aufsicht des Weltverbandes mehrfach getestet worden, ihre Proben wurden außerhalb von Russland untersucht. (…) Derweil hält die IAAF weiter an der Sperre für den russischen Verband fest, da die Fortschritte im Anti-Doping-Kampf nicht groß genug seien“  (Ebenda).

– Nados fordern Ausschluss von Russland
„Die Replik aus Moskau ließ nicht lange auf sich warten. Die Anti-Doping-Agenturen sollen bitteschön in ihren Ländern den Urin einsammeln und sich ansonsten aus der Politik raushalten. So hat das Witalij Mutko formuliert, Russlands mächtiger und inzwischen zum Vize-Premier aufgerückter Sportfunktionär. Derartige Unflätigkeiten des Apparatschiks sind keine Seltenheit, in diesem Fall liegen sie in zwei Forderungen begründet, die 19 nationale Anti-Doping-Agenturen (Nados) aus vorwiegend westlichen Ländern nach einem Treffen schriftlich festhielten. Erstens: alle russischen Verbände unbefristet von den sportlichen Wettbewerben auszuschließen und höchstens einzelne Athleten unter neutraler Flagge starten zu lassen. Zweitens: Russland alle bereits zugeschlagenen Großereignisse zu entziehen, auch die Fußball-WM 2018. Bis sich im Land wirklich etwas geändert hat im Bewusstsein und im Kampf gegen Doping. (…) Aber der klassische sportpolitische Kern um das Internationale Olympische Komitee (IOC) und zahlreiche Spitzenverbände geht einen anderen Weg. Ja, ein paar Veranstaltungen wie die Bob-WM sind Russland entzogen worden, aber ihr Prinzip lautet: Das russische Sportsystem und der russische Staat werden weitgehend verschont und das Dopingproblem auf die einzelnen von McLaren identifizierten Athleten heruntergebrochen. Circa drei Dutzend Langläufer, Biathleten, Skeletonis wurden so bereits suspendiert“ (Aumüller, Johannes, Kratzspuren im System, in SZ 12.1.2017).

– „Lernprozess“ in Russland: Bewerbung um 2028
„Trotz des massiven Dopingskandals schließt Russland eine Bewerbung um die Olympischen Sommerspiele 2028 nicht aus. ‚Warum nicht? Ich denke, es ist auf jeden Fall möglich, es zu versuchen‘, sagte der Chef des Nationalen Olympischen Komitees (NOC), Alexander Schukow, der Agentur Ria Nowosti in Moskau. Mögliche Bewerber könnten die Millionenstädte St. Petersburg oder Kasan sowie der Schwarzmeer-Kurort Sotschi sein, sagte er. Wegen Vorwürfen staatlich gelenkten Dopings steht Russland in der Kritik. Bei den Sommerspielen in Rio de Janeiro 2016 waren die russischen Leichtathleten deswegen gesperrt“ (Russland erwägt Olympia-Bewerbung für 2028, in spiegelonline 13.1.2017).
Und IOC-Präsident Thomas Bach – in Treue fest zu Wladimir Putin -, wird  dafür sorgen, dass es mit 2028 klappt. Entscheiden wird das IOC 2021: Da ist Bach gerade seine erste Periode im Amt. Die zweite dauert vier Jahre – bis 2015. Falls ihm nicht noch ein Trick einfällt. Bachs Freund Putin, der 2018 mit Sicherheit noch einmal als russischer Staatspräsident antreten (und es natürlich auch werden) wird, ist bis 2024 im Amt. Falls ihm nicht noch eine Wahl ermöglicht wird. weil er unabkömmlich ist. Oder den islamischen Terror bekämpfen muss. Oder ein Land bombardiert werden muss…

– Dokumentationsfilm „Icarus“ mit Grigori Rodschenkow
Am 20.1.2017 wird beim Sundance-Filmfestival die Dokumentation des US-Filmemachers Bryan Fogel gezeigt, der drei Jahre lang die Hintergründe des russischen Dopingsystems verfolgte. Von 2006 bis 2015 leitete Rodschenkow Moskaus Anti-Doping-Labor. „Als die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada Ende 2015 Russland vorwarf, mehr als 1400 Proben vernichtet zu haben, musste er seinen Platz als Laborleiter räumen“ (DPA, Nervosität im Kreml, in SZ 16.1.2017). Im Januar 2016 setzte er sich in die in die USA ab. Rodschenkow wird in Fogels Film Aussagen zum russischen Staatsdoping machen (DPA, Nervosität im Kreml, in SZ 16.1.2017). – „In der Dokumentation Icarus, die am Freitag beim Sundance-Filmfestival in Utah Premiere feierte, gab der frühere Chef des Moskauer Dopinglabors, Grigori Rodschenkow, zu, 30 russische Medaillengewinner bei Olympia in Peking 2008 sowie mindestens die Hälfte der 72 Medaillengewinner 2012 in London gedopt zu haben. Auch deutete der in die USA geflohene einstige Chefalchimist des Russen-Sports an, er sei 2011 nur dank Putin im Amt geblieben. Auf dessen Anweisung hin sei damals eine Ermittlung wegen des Handels mit Dopingstoffen gegen ihn abgeblasen worden. Rodschenkow blieb Laborchef, er behauptet: ‚Putin hat mich angefragt.'“ (Kistner, Thomas, Hörmann für Sperre bei Olympia, in SZ 23.1.2017). Dazu berichtete die ARD am 22.1.2017 von einem neuen russischen Whistleblower: er „widerlegt mit Bildbeweisen die Mär vom russischen Reformwillen; zumindest im ohnehin suspendierten Leichtathletik-Verband RUSAF. Mittelstreckenläufer Andrej Dmitrijew filmte heimlich den weltweit gesperrten Coach Wladimir Kasarin dabei, wie er russische Top-Athleten betreut. (…) Falls das Video tatsächlich Kasarin zeige, habe RUSAF die Kriterien für die Wiederzulassung verletzt, sagt IAAF-Generaldirektor Olivier Gers. (…) Dabei halten die großen Bruderverbände, IOC und Fußball-Weltverband Fifa, weiter in Treue fest zu Russland. Dass ihre Kameradschaftsphilosophie des Aussitzens und Zerredens auch bei nachrangigen Verbänden treu gepflegt wird, liegt auf der Hand. Soeben stellte der Biathlon-Weltverband IBU 22 der 29 Dopingverfahren gegen russische Sportler ein; gesperrt wurden nur zwei Athletinnen. Am Wochenende machten jetzt die enttäuschten Sportler selbst Druck – und die IBU einen Salto rückwärts. Noch vor der WM in Hochfilzen Mitte Februar soll es einen Sonderkongress geben. Bis dahin dürften die Funktionäre einen neuen Dreh finden, um dem höchsten Gerechtigkeitsideal von Bach, Putin und – die Wette sei offeriert – bald auch Donald Trump Geltung zu verschaffen“ (Ebenda; Hervorhebung WZ).

– Aberkannte Olympische Medaillen bei Olympischen Sommerspielen: Russland liegt vorn
(Autoritäre Staaten fett)
Athen 2004: 8 x Gold, 2 x Silber, 5 x Bronze (Russland 3, Ungarn 3, Weißrussland 2, Ukraine 2, USA 2, Deutschland, Irland, Griechenland je 1)
Peking 2008: 7 x Gold, 17 x Silber, 17 x Bronze (Russland 11, Weißrussland 6, Kasachstan 5, Ukraine 4, China 3, Nordkorea 2, Schweden, Italien, Norwegen, Bahrain, Türkei, Armenien, Kuba, Usbekistan, Griechenland, Aserbaidschan je 1)
London 2012:  7 x Gold, 7 x Silber, 7 x Bronze (Russland 6, Kasachstan 4, Weißrussland 3, Ukraine 2, Moldawien 2, Türkei, USA, Usbekistan, Armenien je 1; Nachtests dauern noch an)
Rio 2016: bis jetzt 2 x Bronze (Kirgisistan, Moldawien; Nachtests dauern noch an)
Quelle: Wie gewonnen, so zerronnen, in Der Spiegel 3/14.1.2017
Nachtrag: „Ebenfalls bei Nachtests von Peling überführt wrde die Weit- und Dreispringerin Tatjana Lebedewa. Die Russin gewann 2008 in beiden Disziplinen jeweils Silber – und muss nun beide Medaillen abgeben“ (SID, Bolt verliert das Triple-Triple, in SZ 26.1.2017).

– Deutsche Biathletin übt sportpolitische Kritik
Die deutsche Biathletin Laura Dahlmeier forderte angesichts des russischen Dopingskandals forderte in Antholz Maßnahmen des Biathlon-Weltverbands IBU vor der Weltmeisterschaft im Februar 2017. „‚Auch um einfach der Welt zu zeigen, wir Biathleten sind für einen sauberen Sport – und auch die IBU steht voll hinter uns‘, sagte die 23-Jährige am Donnerstag dem ZDF. ‚Wir möchten jetzt konsequente Handlungen, am besten noch vor der WM.’Am Samstag trifft sich am Rande des Biathlon-Weltcups in Antholz der IBU-Vorstand, danach soll es eine Pressekonferenz geben. (…) Nachdem im zweiten McLaren-Report im Auftrag der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada zu Staatsdoping in Russland 31 russische Skijäger genannt worden waren, rumort es in der Biathlon-Szene. Bisher sind die zurückgetretene Olga Wiluchina und Jana Romanowa von der IBU vorläufig gesperrt worden. Gegen 29 namentlich nicht bekannte Russen und den Verband laufen Untersuchungen“ (DPA, SZ; SID, Dahlmeier siegt und kritisiert, in SZ 20.1.2017). – „Bislang hat sich die IBU in Sachen Anti-Doping-Kampf nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert, er hat trotz der Erkenntnisse des McLaren-Reports über gezieltes russisches Doping im Biathlon erst zwei Athleten gesperrt, obwohl in dem Report 31 Sportler belastet werden. Die Verfahren gegen 22 Sportler sind bereits wegen Mangels an Beweisen eingestellt worden. (…) Frankrei

Aug 082016
 
Zuletzt geändert am 12.11.2017 @ 13:36

8.8.2016, aktualisiert 12.11.2017

Vergleiche auch im Kritischen Olympischen Lexikon: Nuzman, Carlos

„Rio 2016 und Doping“ schließt nahtlos an Russland in Rio 2016: Ja oder Nein? und an die Berichte über  das staatliche russische Doping-System an. (Anmerkung: Cas = Internationaler Sportgerichtshof in Lausanne; Schreibweise Witalij Mutko wurde vereinheitlicht). Vergleiche auch im Kritischen Olympischen Lexikon: Hickey, Pat

Doper mit Rio-2016-Medaillen (ohne Dunkelziffer und Anspruch auf Vollständigkeit):
Nijat Rachimow
, Kasachstan, Gewichtheben: Goldmedaille (zweijährige Dopingsperre; Ausschluss der kasachischen Gewichtheber sportjuristisch nicht vor den Spielen abgeschlossen – bei 27 Dopingfällen seit 2012); Sukanya Srisurat, Thailand, Gewichtheben, Goldmedaille 2016 (zweijährige Dopingsperre); Majlinda Kelmeni, Kosovo, Judo: Goldmedaille (Verweigerung von Dopingtest im Juni 2016 bei Olympiavorbereitung); Olga Zabelinskaja, Russland, Radfahren: Silbermedaille (Dopingsperre, aufgehoben durch IOC-Beschluss vom Juli 2016); Julia Jefimowa, Schwimmen, Russland: Silbermedaille (Herbst 2013 Positivtest auf  Steroid Dehydroepiandrosteron; Frühjahr 2016 Meldonium); Sun Yang, China, Schwimmen: Goldmedaille, Silbermedaille (Mai 2014 Positivtest auf Octapamin) (Quelle: Zahlreiche Dopingsünder starten in Rio, in spiegelonline 11.8.2016; Ahrens, Peter, Wer einmal lügt, in spiegelonline 11.8.2016). Justin Gatlin, USA, Sprinter, noch ohne Medaille (2001 Positivtest auf Amphetamine, 4/2006 Positivprobe auf Testosteron/Wikipedia).

Doper in Rio 2016 – ohne Dunkelziffer!
1. Dopingfall:
„Wie das Nationale Olympische Komitee Italiens (Coni) bestätigte, wurde die Beachvolleyballerin Viktoria Orsi Toth bei einem Turnier am 19. Juli in Rom positiv auf das anabole Steroid Clostebol getestet. Orsi Toth wurde von der italienischen Anti-Doping-Agentur TNA suspendiert und vom Coni aus der Teilnehmerliste für Rio gestrichen“ (SID, Erster Dopingfall, in SZ 3.8.2016).
2. Dopingfall: „Laut einem Bericht des Irish Examiner wurde der irische Boxer Michael O’Reilly positiv auf eine verbotene Substanz getestet“ (SID, Zweiter Dopingfall, in SZ 5.8.2016).
3. und 4. Dopingfall: „Kurz vor der Abreise nach Rio de Janeiro sind die ungarischen Rennsport-Kanuten Bence Horvath und Mate Szomolanyi aus dem Aufgebot gestrichen worden. (…) Horvath und Szomolanyi sollen nach Informationen der ungarischen Anti-Doping-Agentur verbotene Substanzen genommen haben“ (SID, Verbotene Substanz, in SZ 5.8.2016).
5., 6. und 7. Dopingfall: N.N., Griechenland, Schwimmerin, gesperrt am Tag vor der Eröffnungszeremonie; N.N., Mitglied des griechischen Paralympischen Teams. Antonis Martasidis, Zypern, Gewichtheber (Zikakou, Ioanna, 2 Greek Athletes Banned from the Olympic Games for Doping, in greece.greekreporter.com 5.8.2016).  
8. Dopingfall:
„Nach einer positiven Doping-Probe wird der polnische Gewichtheber-Europameister Tomasz Zielinski aus dem Olympia-Team ausgeschlossen. Der 26-Jährige wurde in der A-Probe positiv auf das anabole Steroid Nandrolon getestet. (…) Die Gewichtheber hatten vor den Olympischen Spielen bereits die dopingbelasteten Verbände von Bulgarien und Russland ausgeschlossen“ (SID, B-Probe positiv, in SZ 10.8.2016).
9. Dopingfall: „Taiwans ehemalige Weltrekordhalterin im Gewichtheben, Lin Tzu-chi, wurde wegen eines positiven Doping-Tests von den Spielen ausgeschlossen. (…) Lin hatte bereits 2012 die Spiele in London verpasst, weil sie 2010 wegen eines positiven Tests zwei Jahre gesperrt worden war“ (SID, Gewichtheberin gedopt, in SZ 11.8.2016).
10. und 11. Dopingfall: Chen Xinyi, China, Schwimmerin; Silvia Danekova, Bulgarien, Hindernisläuferin, positiver Test auf Epo (Schwimmerin Chen Xinyi positiv getestet, in spiegelonline 12.8.2016; Chinese swimmer and Bulgarian athlete fail doping tests at Rio 2016 Olympics, in theguardian.com 12.8.2016).
12. Dopingfall: Kenianischer Trainer pinkelt für Läufer (siehe unter 12.8.2016)
13. Dopingfall: Adrian Zielinski, Polen, Gewichtheber (Olympa-Sieger London 2012, positiver Dopingtest auf anaboles Steroid Nandrolon in Rio in SID, Gewichtheben: Auch zweiter Zielinski-Bruder nach positiver Dopingprobe ausgeschlossen, in zeit.de 12.8.2016).
14. Dopingfall: Kleber da Silva Ramos, Radsportler, Brasilien, positive Probe auf EPO-Präparat Cera (SID, Radsport: Brasilianer da Silva positiv getestet, in zeit.de 12.8.2016).
15. Dopingfall: Luciano Dos Santos Pereira, Brasilien, Diskuswerfer, Paralympics, Mai 2016 positiv getestet auf anabole Steroide Stanozol und Oxandrolon (SID, IPC sperrt Kanat, in SZ 17.8.2016).
16. Dopingfall: Izzettin Kanat, Türkei, Gewichtheber, Paralympics, zwei Jahre Dopingsperre wegen Medonium (SID, IPC sperrt Kanat, in SZ 17.8.2016).
17. Dopingfall: Issat Artykow, Kirgisien, Gewichtheber, positiver Befund auf Stimulans Strychnin (SID, Rattengift, in SZ 19.8.2016).
18. Dopingfall: Sergei Tarnowtschi, Moldau, Rennkanute (SID, Medaille aberkannt, in SZ 19.8.2016).
19. Dopingfall: Narsingh Yadav, Indien, Ringer, vom Cas für vier Jahre wegen Doping gesperrt (SID, Indischer Ringer gesperrt, in SZ 20.8.2016).
20. Dopingfall: Usukhbayar, Chagnaadorj, Mongolei, Gewichtheber, getestet auf Testosteron (Cas Anti-Doping Division, Media release, 21.8.2016).
21. Dopingfall: Chadovich, Stanislav, Weißrussland, Gewichtheber, verwendete Ersatzurin beim Dopingtest (AP, Weightlifter Stanislav Chadovich suspended over sample tampering, in espn.com 27.8.2016).

2.8.2016
– Russische Sportler klagen systematisch (I)

„Vier Tage vor dem Start der Olympischen Spiele in Rio wird das Nominierungs-Chaos immer größer. Nach den Schwimmern ziehen auch die russischen Gewichtheber vor den Internationalen Sportgerichtshof Cas – die Ruderer kündigten den Schritt an. ‚Unsere Anwälte haben mit den Athleten eine Klage vereinbart, die wegen fehlender internationaler Dopingtests gesperrt wurden“, sagte der russische Ruder-Präsident Wenijamin But und erklärte: ‚Es ist eine Kollektiv-Klage von 17 Personen’“ (SID, Russische Klagewelle, in SZ 2.8.2016).

– Russische Sportler klagen systematisch (II)
„Russische Sportler aus mehreren Disziplinen wollen ihre Teilnahme an den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro gerichtlich durchsetzen. Drei Tage vor der Eröffnungsfeier ziehen nach den Schwimmern auch die russischen Gewichtheber vor den Internationalen Sportgerichtshof Cas. (…) Der Ruder-Weltverband Fisa hatte zuvor hart durchgegriffen und nur sechs der insgesamt 28 russischen Ruderer das Startrecht für die Rio-Spiele erteilt. Der Cas bestätigte den Eingang der Klage noch nicht. Nach Bekanntwerden des McLaren-Berichts der Welt-Antidoping-Agentur Wada hatte das Internationale Olympische Komitee (IOC) angeordnet, dass alle Weltverbände ihre russischen Athleten erneut auf Verstöße gegen die Doping-Richtlinien überprüfen sollten“  (Russische Klagewelle rollt auf Olympia zu, in spiegelonline 2.8.2016). Auch die russischen Gewichtheber klagen. „Der Weltverband (IWF) hatte im Rahmen seiner Prüfung keinem der acht nominierten russischen Athletinnen und Athleten, drei Frauen und fünf Männern, eine Startberechtigung für Rio erteilt. Am Wochenende hatten sich mit Wladimir Morozow, Nikita Lobinzew sowie Julia Jefimowa drei russische Schwimmer juristisch gegen ihren Olympia-Ausschluss gewehrt. Russlands Sportminister Witalij Mutko hatte die Klagewelle am Wochenende bereits angekündigt. ‚Wir sollten versuchen, unsere Athleten zu schützen‘, sagte Mutko, der auch alle ausgeschlossenen russischen Athleten aufforderte, vor Zivilgerichte zu ziehen und um ihr Recht zu kämpfen. (…) Ursprünglich hatten sich 387 russische Athleten für die ersten Sommerspiele in Südamerika qualifiziert. Nach der Streichung von 117 Sportlern zählt das russische Team derzeit 270 Athleten“ (Ebenda; Hervorhebung WZ).

– Pressekonferenz des IOC: Bach fechtet
Thomas Bach auf die Frage nach dem russischen Staatsdoping und ob er von Russland beeinflusst worden war: „‚No‘, rief Bach in den Saal, um einen forschen Tonfall bemüht. Dazu breitete der deutsche Spitzenfunktionär seine Sicht auf die Problematik aus, die schwer auf den Spielen lastet. Niemals, sagt am Sonntag der Alterspräsident des IOC, Richard Pound, habe er den Ringe-Zirkel in größerer Erklärungsnot erlebt zu dem Thema schlechthin: Integrität. (…) Bach war Fechter. Er hat stets hinter der Maske gekämpft; täuschen, fintieren, jäh zustechen gehört hier zum Repertoire. Aber selbst der Wirtschaftsadvokat, dessen Spezialität es ist, entschlossen für eine Sache zu sein und zugleich strikt dagegen, verheddert sich nun in den eigenen Argumentationssträngen. Am Ende klingen seine Ausflüchte zur Behandlung der Staatsdoping-Causa Russland wie ein wirrer Aufruf pro Staatsdoping. ‚Sobald die Fackel brennt, ist alles gut. Dann regieren nur die bunten Bilder‘, sagt einer, der die Abläufe seit Dekaden kennt. Bis dahin muss das Thema Staatsdoping ausgeblendet werden. Es beherrscht die Welt – in Rio steht es nicht mal auf der Agenda der IOC-Session, die ab Dienstag tagt. (…) Immer mehr Probleme erinnern an die untergehende Samaranch-Ära. Distanzierung wird spürbar in Teilen der Bewegung. Es rumort in den Athletenvertretungen des IOC und der Wada, die Frage ist, ob sie vor der Eröffnung noch eine Positionierung wagen. Auch in Hinblick auf die Whistleblowerin Julia Stepanowa, die echten olympischen Heldengeist bewiesen hatte, als sie über das russische Doping auspackte und dafür ihre Heimat verlassen musste. Und die jetzt nicht starten darf, weil ihr nach Einschätzung des Bach-Gremiums die ‚ethische‘ Eignung fehlt“ (Kistner, Thomas, Hinter der Maske, in SZ 2.8.2016).

3.8.2016
– Jens Weinreich zur Bach-Taktik

„Irgendwann an diesem Tag wollte Thomas Bach Einigkeit sehen, und natürlich bekam der IOC-Präsident, was er wollte. Bei der Vollversammlung des Internationalen Olympischen Komitees in Barra da Tijuca in Rio hoben von den 84 anwesenden Mitgliedern die allerallermeisten ihre Hände, als Bach um Zustimmung zu den IOC-Entscheidungen in Bezug auf das russische Dopingsystem ersuchte. Nur einer widersprach: der Brite Adam Pengilly. (…) Die Abstimmung war ein ganz klassisches Vorgehen des Thomas Bach. Erst hatte er erneut die Verantwortung des IOC zurückgewiesen und den schwarzen Peter einmal mehr der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada zugeschoben. Dann bekam das dienstälteste IOC-Mitglied, Richard Pound aus Kanada, wie so oft eine verbale Breitseite ab. Pound hatte vor wenigen Wochen den Ausschluss des gesamten russischen Olympiateams als ’nukleare Option‘ bezeichnet. Bach nannte Pounds Vergleich wiederum ‚unangemessen‘. (…) Im Verlauf der knapp zweistündigen Diskussion zur Dopingthematik hatten einige Mitglieder in selten erlebter Schärfe die Wada attackiert. Allesamt gehören sie dem Lager des IOC-Präsidenten an, darunter waren zum Beispiel Gerardo Werthein (Argentinien) oder Alex Gilady (Israel). Alexander Schukow erneuerte indes seine unbelegte Behauptung, Russland sei Opfer einer internationalen politischen Kampagne. Der 60-jährige Präsident des Nationalen Russischen Komitees ist Chef der Koordinierungskommission für die Winterspiele 2022 in Peking. Er wurde von Bach ernannt. (…) Die IOC-Führung hat die Fachverbände, von denen einige unter russischem Einfluss stehen, mit einem offensichtlichen Zeitspiel in noch größere Nöte manövriert. Dazu zählt letztlich auch der intransparente Umgang mit mehreren Wellen von Nachtests olympischer Dopingproben aus Peking (2008) und London (2012). Einige Verbände kritisierten das vehement. IOC-Sprecher Mark Adams musste sich am Dienstag entsprechenden Fragen stellen – und konnte die Vorwürfe nicht entkräften“ (Weinreich, Jens, Wada was? in spiegelonline 3.8.2016).

– Der frühere Wada-Präsident Richard Pound im Interview mit Thomas Kistner
Pound zum russischen Staatsdoping: „Wir haben ja damals nur in die Leichtathletik geschaut und dort ein organisiertes, staatlich unterstütztes System-Doping gefunden. Wir wussten auch, dass Mitarbeiter des FSB (russischer Geheimdienst; d. Red.) in den Kontroll-Laboren in Moskau und Sotschi zugegen waren. Wir wussten aber natürlich zu der Zeit noch nicht, was die dort genau gemacht haben, was das zu bedeuten hatte. (…) In diesem staatlich gesteuerten Betrug war doch alles drin. Ein Vize-Sportminister, der persönlich durch die Liste der positiv getesteten Sportler geht und entscheidet, der hier und der da muss ‚gesichert‘ werden – und dann verschwinden diese Dopingfälle einfach. Das hat ganz perfekt funktioniert, für viele nationale Athleten, bei Trainings- und bei Wettkampfkontrollen. Es konnte aber so nicht mehr in Sotschi (bei den Winterspielen 2014; d. Red.) gemacht werden, weil dort zusätzliche Spezialisten aus aller Welt zugegen waren. Die hätten es bemerkt, wenn dieses Prinzip des Verschwindenlassens von positiven Tests einfach so fortgesetzt worden wäre. Also mussten sie etwas Neues erfinden. Und das war dann der komplette Austausch von Urin. Dass Probenfläschchen geöffnet wurde.“ – Pound auf die Frage Kistners, warum IOC-Präsident Thomas Bach wie der verlängerte Arm von Wladimir Putin wirkt: „Ich habe keine Ahnung, und ich will nicht spekulieren. Aber das ist ja das Frustrierende. Bach kam erst mit der Nulltoleranz. Nach dem McLaren-Report hat er gesagt, da brauche es ganz extreme Sanktionen. Aber jetzt sieht es so aus, als sei alles schon vor der Exekutivsitzung aufgestellt worden. Die fing Sonntagmorgen gegen 10 Uhr an und endete gegen 13 Uhr. Und wenig später wurden bereits sehr präzise, juristisch saubere 13 Seiten dazu vorgelegt.“ – Pound zum Umgang mit der Whistleblowerin Julia Stepanowa: „Ich finde das beunruhigend. Der Umgang mit Stepanowa verstärkt noch den Riesendruck. Nach dem Wada-Code darf sie starten, und der Leichtathletik-Weltverband IAAF hat sie ja in Amsterdam bereits laufen lassen.“ (Alle Zitate: Kistner, Thomas, „Es sieht so aus, als sei alles vorab aufgestellt gewesen“, in SZ 3.8.2016).

IOC: Wada ist schuld
Wada-Präsident Craig Reedie hat die Forderungen von IOC-Chef Thomas Bach nach einer weitreichenden Neugestaltung des weltweiten Anti-Doping-Kampfes und der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) akzeptiert. Ein wichtiger Schritt dafür soll eine außerordentliche Wada-Konferenz im kommenden Jahr sein, auf der die Reformen diskutiert werden. (…) Der Wada-Vorsitzende hatte sich auf der IOC-Vollversammlung viel Kritik anhören müssen. Vor allem bemängelten die IOC-Mitglieder, dass die Agentur Hinweisen auf Staatsdoping in Russland durch das Whistleblower-Ehepaar Stepanow zu spät nachgegangen sei. Nämlich erst, als es bei der ARD auspackte. „Wir müssen den Prozess mit den Whistleblowern verbessern“, sagte Reedie. Auch dafür habe man den deutschen Chefermittler Günter Younger zum 3. Oktober eingestellt“ (Wada-Chef Reedie kündigt Verbesserungen an, in spiegelonline 3.8.2016).

4.8.2016
– Thomas Kistner über die IOC-Session in Rio:

„Es sind raue Zeiten im Olymp, der konsequent servile Umgang mit staatlich organisiertem Doping im Sportreich Wladimir Putins hat das IOC in den Brennpunkt internationaler Kritik gerückt. Zwei Ermittler-Stäbe im Auftrag der Wada hatten ein ministeriell gelenktes Betrugssystem aufgedeckt. Der jüngste Report des kanadischen Juristen Richard McLaren, vorgelegt Mitte Juli, zeichnet ‚jenseits allen Zweifels‘ nach, wie der Staat als Schaltzentrale des Betrugs fungierte. Der (beurlaubte) Vize-Sportminister Juri Nagornik pickte demnach persönlich die Sportler heraus, die es zu schützen galt; positive Proben wurden vernichtet. Insgesamt, schält sich bei den anhaltenden Ermittlungen heraus, dürften bis zu 9000 Proben zerstört worden sein. (…) Die diabolische Meisterleistung brachte nach Aktenlage Dutzende ausländischer Athleten um ihre Medaillen und zerstörte die Integrität des höchsten olympischen Gutes, des fairen Wettkampfs. Das IOC honorierte sie mit einer Geste für Putin: Russlands Helden werden nicht kollektiv ausgeladen. Nur die Leichtathleten waren nicht mehr zu retten, der Weltverband IAAF hatte sie schon im Juni komplett für Rio gesperrt – der Sportgerichtshof Cas hatte das Verdikt abgesegnet. So formierte sich zum Sessionsauftakt Bachs olympische Wagenburg. Erst wetterte der russische IOC-Mann Alexander Shukow gegen die Wada, am Ende lobte Bach ‚eine sehr gute Debatte‘ – dazwischen besang ein gemischter Chor aus Mitgliedern von Monaco bis Nordkorea die Weisheit des Präsidenten und seiner Exekutive. (…) Als Bach den Beschluss seiner Exekutive für einen Start der russischen Sportler nach einer Einzelfallprüfung absegnen ließ, die gar nicht seriös zu leisten ist, votierte nur der englische Athletenvertreter Adam Pingally dagegen. Die Bühne der IOC-Session gehörte den Russen. NOK-Chef Shukow ratterte vom Papier eine Brandrede runter, die Arme verschränkt auf den Tisch gepresst wie ein Sturkopf, der seine Suppe nicht essen will. Der Vortrag folgte streng der olympischen Null-Toleranz-Rhetorik zum Pharmabetrug: Erst hielt er fest, dass Doping etwas Entsetzliches sei und dringend bekämpft gehöre, Russland wolle voll mitziehen und Sünder ‚hart bestrafen‘. Dann der Umkehrschwung: Systemdoping? Die russische Anti-Doping-Agentur Rusada, die ihr langjähriger Leiter Grigori Rodschenko als Kronzeuge des McLaren-Reports als Schummel-Zentrale auffliegen ließ, kann es ja nicht gewesen sein, insinuierte der Russe listig. Denn: ‚Die Arbeit der Rusada wurde ständig international überwacht. Die Wada lobte sie für Sotschi sogar als beispielhaft!’“ (Kistner, Thomas, Diese Suppe ess‘ ich nicht, in SZ 4.4.2016; Hervorhebung WZ).

Daniel Gehrmann in nzz.ch: „Der Wille zu einem kompromisslosen Kampf gegen das Doping ist sehr gering. (…) Wie halbherzig der Kampf gegen Doping ist, verdeutlicht die Summe, die das IOK der Wada zur Verfügung stellt. 2014 waren es 13,3 Millionen Dollar. Das entspricht gerade einmal 0,17 Prozent der über 8 Milliarden Dollar Einnahmen, die das IOK im vergangenen Vierjahreszyklus mit den Spielen eingenommen hat“  (Gehrmann, Daniel, Thomas Bach in Erklärungsnot, in nzz.ch 4.8.2016).

5.8.2016
– Statt 389 nun 271 Russen

„Russlands Olympiamannschaft kann 271 Sportler bei den Sommerspielen in Rio de Janeiro an den Start schicken. Kurz vor der Eröffnungsfeier gab das Internationale Olympische Komitee (IOC) die Liste der für sauber erklärten Sportler bekannt. In einer Erklärung des IOC heißt es: ‚271 der ursprünglich 389 Athleten auf der Liste des Russischen Nationalen Olympischen Komitees werden die Mannschaft bilden.‘ Das russische IOC-Mitglied Alexander Schukow – auch Präsident des Nationalen Olympischen Komitees – hatte die Zahl schon zuvor publik gemacht. (…) Klar war zumindest, dass der Cas den Ausschluss von früher gedopten russischen Athleten von den Spielen als ’nicht durchsetzbar‘ ablehnt, wie es in einer Mitteilung heißt. Damit gab das Gericht der russischen Schwimm-Weltmeisterin Julia Jefimowa und den beiden Ruderern Anastasia Karabelschikowa und Iwan Podschiwalow teilweise recht. Sie hatten Einspruch gegen diese Doppelbestrafung eingelegt: Die drei Athleten waren in der Vergangenheit wegen Dopings gesperrt worden, haben diese Strafen aber bereits verbüßt. Nun dürfen sie auf eine Olympiateilnahme hoffen. Wer darüber letztlich entscheidet, blieb nach der Cas-Mitteilung aber zunächst offen“ (Russland darf mit 271 Athleten in Rio antreten, in spiegelonline 5.8.2016). Spätere Erhöhung durch den Cas auf 279 russische Teilnehmer.

Russen rein, Stepanowa raus – oder rein
„Die Whistleblowerin Julia Stepanowa kann wieder auf einen Start bei den Olympischen Spielen hoffen. Der Internationale Sportgerichtshof Cas hat den Ausschluss von früher gedopten russischen Athleten von dem Wettbewerb in Rio als ’nicht durchsetzbar‘ abgelehnt. Das teilte der Cas mit. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) hatte im russischen Dopingskandal nicht nur entschieden, dass die internationalen Sportfachverbände jeden nominierten Sportler aus Russland überprüfen sollen. Vielmehr hatte das IOC auch verfügt, dass ehemals gedopten Russen ein Start bei den Sommerspielen verweigert wird. Mit dieser Begründung hatte das IOC auch einen Start der russischen Doping-Kronzeugin und 800-Meter-Läuferin Stepanowa in Rio verweigert. Allerdings müsste die 30 Jahre alte Leichtathletin ebenfalls vor dem Ad-hoc-Gericht des Cas in Rio de Janeiro Klage einreichen. Stepanowa hatte ein systematisches Doping in Russland aufgedeckt. Daraufhin schloss der Weltverband IAAF die Leichtathleten Russlands komplett von den Spielen in Rio aus. Die IAAF hatte aber das IOC gebeten, Stepanowa wegen ihrer Verdienste im Kampf gegen Doping in Rio starten zu lassen. (…) Experten hatten eine entsprechende Entscheidung des Cas erwartet. Der Sportgerichtshof hatte nämlich schon die sogenannte Osaka-Regel des IOC 2011 für nicht rechtmäßig erklärt. Die Regel sah vor, dass Doping-Sünder automatisch von den nächsten Olympischen Spielen ausgeschlossen werden und damit doppelt bestraft werden“ (Whistleblowerin Stepanowa mit Olympia-Startchance, in spiegelonline 5.8.2016).

– Richard McLaren gegen IOC
„Doping-Ermittler Richard McLaren kritisierte das Vorgehen und warf dem IOC eine Verfälschung der Ergebnisse seines Berichts über organisierten Sportbetrug in Russland vor. ‚Die Leute haben missverstanden, was in dem Report war, besonders das IOC und die internationalen Verbände‘, sagte er der britischen Zeitung Guardian. Sein Bericht habe nicht zum Ziel gehabt, die Dopingvergehen einzelner Athleten nachzuweisen“ (DPA, Russland mit 271 Sportlern, in SZ 5.8.2016).

– Der Ringe-Clan klatscht
„Nun treten Russlands Athleten unter den Nationalfarben an, obwohl Drahtzieher aus dem Kreml Beamte und Geheimagenten, Wissenschaftler und Funktionäre für ein ’nie dagewesenes Ausmaß an Betrug‘ eingespannt hatten – so hat IOC-Chef Bach im ersten Schock die Beweislage kommentiert, die ein Report der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada im Juli ans Licht brachte. Aber Wladimir Putin sieht das anders, und Bach jetzt auch. Er hat sein Entsetzen über ein beispielloses Kriminalstück problemlos runtergefahren. (…) Der Kongress springt auf und tanzt, wenn die Funktionäre aus Sportfreund Putins Reich in die Hände klatschen. Wie naiv ist es da zu glauben, dass ein Staat, der mit geheimdienstlicher Akribie 2014 in Sotschi ein Olympiafest fälschte, nicht auch über die wesentlichen politischen Vorgänge in der Sportwelt informiert ist? Hier liegt wohl die Erklärung für die servile Haltung des IOC zum Russland-Doping. (…) Während die Spitzenkräfte des Deutschen Olympischen Sportbunds (DOSB), die einst ja von Bach selbst dorthin befördert wurden, besinnungslos in der Spur des Patrons laufen, gehen Athleten, Politiker, die Öffentlichkeit und sogar Teile des organisierten Sports auf Distanz. Die Deutsche Olympische Gesellschaft (DOG) wirft Bach vor, er habe die Vorbildfunktion des Sports beschädigt, die Auswirkung sei gar nicht abzusehen. In Hans-Wilhelm Gäb gab einer der renommiertesten Funktionäre des Landes den olympischen Orden zurück. Eine deutsche Initiative pro Stepanowa überschritt die Grenze von 250 000 Stimmen am Tag, bevor das Feuer brannte“ (Kistner, Thomas, Gegen den Ringe-Clan, in SZ 5.8.2016).

– Holger Gertz zur Eröffnung von Rio 2018 – mit russischer Mannschaft
„Es gibt eine Debatte um Verantwortlichkeiten und Eckpunkte im Regelwerk, die von Fachleuten mit großer Sorgfalt seziert wird. Beim oberflächlicher zuschauenden Publikum, jedenfalls im freien Teil der Welt, vollendet sich das Bild eines Leistungssports, dessen mächtigste Funktionäre endgültig auf die dunkle Seite gewechselt sind. Die großen Turniere sind getötet worden, es riecht nach Verwesung und schlechten Menschen. (…) Die Opening Ceremonies berichten vom Zustand der Welt. Wenn keiner boykottiert, ist das ein gutes Zeichen. In diesem Fall wäre das Fehlen von Russland ein starkes Zeichen gewesen, ein Symbol dafür, dass das IOC bereit gewesen wäre, es sich mit Putin zu verscherzen und für die eigenen Werte geradezustehen“ (Gertz, Holger, Die Bildermacher, in SZ 5.8.2016).

6.8.2016
– Neue Schweizer Doping-Verpackung

„Bei den Dopingkontrollen während der Olympischen Spiele in Rio kommen neue Proben-Behälter zum Einsatz. Die Flaschen eines Schweizer Herstellers sollen mit zusätzlichen Sicherheitsmerkmalen Manipulationen und Fälschungen verhindern. So soll beispielsweise das illegale Öffnen der Urin-Proben mit ‚hundertprozentiger Sicherheit‘ nachgewiesen werden können, heißt es“ (SID, Neue Dopingproben-Behälter, in SZ 6.8.2016).

– Chef des russischen Olympiakomitees: „Russische Sportler voll akzeptiert“
„Der Schaden für Russlands Sport-Armada bleibt überschaubar. Im ersten Schritt hatte das IOC ja die Zulassungsprüfung an die jeweiligen Sportverbände abgeschoben, und dass bei den vielen Federationen, die unter russischem Einfluss stehen, kurzer Prozess gemacht würde, bestätigte sich dramatisch. ‚Die Mehrheit der Verbände hat unsere Athleten voll akzeptiert‘, verkündete Alexander Schukow, Chef des russischen Olympiakomitees ROC und selbst IOC-Mitglied. Etwa im Boxen, Badminton, Turnen, Volleyball oder Judo – der letztgenannte Weltverband hat einen Ehrenpräsidenten namens Wladimir Putin. Nur Leichtathleten und Gewichtheber wurden komplett verbannt, kräftig ausgesiebt wurde bei Ruderern und Kanuten. ‚Wir halten die IOC-Entscheidung nach wie vor für das falsche Signal an einen sauberen und fairen Sport‘, brachte Lars Mortsiefer, Chef der deutschen Anti-Doping-Agentur Nada, die allgemeine Empörung auf den Punkt. Wie sich der IOC-Kurs auf das Innenleben der Spiele, auch im Olympiadorf, auswirkt, ist in den nächsten zwei Wochen zu besichtigen“ (Kistner, Thomas, Durchs Sieb geschlüpft, in SZ 6.8.2016).

– Julia Jefimowa darf starten
„Die russische Schwimmerin Julia Jefimowa kann offenbar an den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro teilnehmen. ‚Ich starte bei Olympia‘, jubelte die Weltmeisterin und Olympia-Dritte von 2012 bei Instagram. (…) Der Fall Jefimowa hat besondere Brisanz. Die Weltmeisterin war vom Weltverband Fina wegen eines früheren Doping-Falles ausgeschlossen worden. (…) Wie Kasikow weiter erklärte, würden insgesamt acht weitere russische Athleten eine Startgenehmigung für die Spiele erhalten. Insgesamt würde dadurch das russische Team in Rio von 271 auf 279 anwachsen. Eigentlich würde das auch die Tür für die Whistleblowerin Julia Stepanowa öffnen. Ihr wurde ja von IOC-Präsident Thomas Bach die ‚ethische Eignung‘ abgesprochen, in Rio teilzunehmen, weil sie selbst auch jahrelang Teil des russischen Staatsdoping gewesen sei. Doch Stepanowa wird in Rio nicht starten dürfen, das IOC hat unter starkem russischem Einfluss andere Gründe gefunden, warum die Geheimnis-Verräterin ausgeschlossen bleibt. Die 30-Jährige hat ihren Kampf um eine Teilnahme nun aufgegeben. (…) ‚Wir erkennen, dass das IOC das Ermessen hat, zu den Spielen einzuladen, wen es will. Die Entscheidung, Julia einen Platz im Wettbewerb zu verwehren, sendet die Botschaft, dass der Code der Welt-Anti-Doping-Agentur und die olympischen Werte nicht mehr als bloße Worte auf einem Stück Papier sind‘, schrieben die Stepanows. Statt der Heldin des Anti-Doping-Kampfs sollen nun neben Jefimowa auch Natalia Lowtsowa, Daria Ustinowa, Michail Dowganjuk und Anastasia Krapiwina Grünes Licht vom IOC erhalten haben. Auch die Radrennsportler Olga Zabelinskaja, Sergej Schilow und Ilnur Sakarin seien startberechtigt, sagte Juri Kuscherjawi, Generalsekretär des russischen Radsport-Verbandes“ (SID, Jefimowa freut sich auf Olympia-Start, in SZ 6.8.2016).

– Jefimowas Gegnerin Ruta Meilutyte
„Wer am Sonntag tatsächlich in die Vorläufe über 100 Meter Brust starten wird? Das bleibt wohl bis zum Einlauf der Schwimmerinnen ein Rätsel. Ruta Meilutyte ist ganz sicher dabei, sie ist die Olympiasiegerin von London. Damals war die Litauerin gerade 15 Jahre alt und kam aus dem Nichts auf die große Bühne, ohne je an einer EM oder WM teilgenommen zu haben. Über die Jahre hat sie eine besondere Rivalität zu einer Kontrahentin entwickelt: Die Russin Julia Jefimowa und sie werden keine Freunde mehr. 2012 erreichte Jefimowa in London Rang sieben, bei der WM in Kasan 2015 startete sie nach gerade erst abgesessener Dopingsperre, die sie mit dem Bekommen eines Knöllchens im Straßenverkehr verglich. (…) In Rio galt die Russin als gesperrt, bis der internationale Sportgerichtshof Cas das Urteil des IOC kippte“ (Das ist Chinas Bad Boy, in SZ 6.8.2016).

– Chinas Schwimmer-Doper Sun Yang
„Dass Sun Yang Anfang 2014 positiv auf das Stimulans Trimetazidin getestet wurde, vertuschte der Verband lange. Und verhängte dann rückwirkend nur drei Monate Sperre“ (Das ist Chinas Bad Boy, in SZ 6.8.2016). – Der australische Schwimmer Mack Horton gewann über 400 Meter Freistil gegen den Chinesen Sun Yang: Er nannte diesen am Tag des Wettkampfs einen „Doping-Betrüger“. „Im Mai 2014 war Sun Yang bei den chinesischen Meisterschaften mit dem verbotenen Stimulansmittel Trimetazidin erwischt worden. Dafür erhielt er vom chinesischen Schwimmverband eine Sperre von – Achtung, kein Witz! – drei Monaten. Seitdem die vorbei sind, schwimmt Sun Yang wieder mit wie ein Fisch in einem klaren Gebirgsbach. (…) Im Training in dieser Woche hatte Sun Yang, 24, die Nähe des Rivalen gesucht. Zur Begrüßung hatte er Horton freundlich nass gespritzt. Der aber ignorierte das Geplänkel. „Weil ich weder Zeit noch Respekt für Doping-Betrüger habe“ – das war der Satz, der anschließend hohe Wellen schlug. Ob er sich wünsche, dass auch andere Schwimmer in Rio ein solches Zeichen setzen, wurde Mack Horton noch gefragt, bevor er in die Nacht entschwand. Seine Antwort: ‚Ja. Heute ist ja erst der erste Tag. Hoffentlich melden sich noch einige zu Wort’“ (Hofmann, René, „Doping-Betrüger“, in SZ 8.8.2016).

– Keine russischen Sporter bei den Paralympics
Zur Vorgeschichte: „Zwischen 2012 und 2015 sind 643 positive Proben verschwunden, um russische Athleten zu schützen, darunter waren 35 Proben aus dem Paralympischen Sport. Um welche Sportarten es sich handelt, wollte das Internationale Paralympische Komitee nicht mitteilen. Das IPC übermittelte 19 weitere Proben zur Untersuchung an die Ermittler. Sie wurden bei den Paralympics 2014 entnommen, die kurz nach Olympia in Sotschi stattfanden. Und das könnte erst der Anfang sein. (…) Das Nationale Paralympische Komitee Russlands wurde erst 1995 gegründet. Dessen Präsident ist seit bald 20 Jahren Wladimir Lukin, ein Vertrauter Putins und bis 2014 Menschenrechtsbeauftragter im Kreml. Lukin, der im IPC nicht sonderlich gut vernetzt ist, sollte den Behindertensport professionalisieren. (…) Etliche Athleten hatten ihre Behinderung als Soldaten im Tschetschenien-Krieg davongetragen, andere durch Unfälle und Krankheiten. Wurden diese Sportler gegen ihr Wissen gedopt, um die Medaillendominanz der Russen möglich zu machen? Schon während der Spiele 2014 waren Gerüchte im Umlauf. Einige Verbände wunderten sich, warum die russischen Paralympier einen gesonderten Raum für die Abnahme der Dopingproben zur Verfügung hatten. Das Unbehagen verschwand, denn das dominierende Thema war die Annektierung der Krim. Überdies waren weit weniger Journalisten und Beobachter in Sotschi im Einsatz“ (Blaschke, Ronny, 35 verschwundene positive Proben, in SZ 3.8.2016).
„Nach den massiven Doping-Vorwürfen im Report des unabhängigen Wada-Ermittlers Richard McLaren hat das Internationale Paralympics Komitee (IPC) am Sonntag die Konsequenzen gezogen. Wie der britische ‚Guardian‘ schon am Samstag berichtet hatte, werden alle russischen Sportler von den Paralympischen Spielen ausgeschlossen. Die Weltspiele der Behindertensportler finden vom 7. bis 18. September in Rio statt. Die russische Nachrichtenagentur Tass zitierte Sportminister Witalij Mutko: Russland werde gegen die Entscheidung vor dem Internationalen Sportgerichtshof Cas vorgehen. ‚Das russische Anti-Doping-System ist kaputt und korrupt. Es entspricht nicht dem Welt-Anti-Doping-Code und nicht dem Anti-Doping-Code des Internationalen Paralympischen Komitees‘, sagte IPC-Präsident Philip Craven: ‚Es werden keine russischen Athleten bei den Paralympics in Rio starten.‘ (…) Am 22. Juli hatte das IPC das Suspendierungsverfahren gegen das russische NPC eingeleitet. Grundlage dafür ist der McLaren-Bericht. Das IPC hatte von McLaren die Namen von 35 Sportlern erhalten, die in Verbindung mit verschwundenen positiven Dopingproben aus dem Moskauer Kontrolllabor stehen sollen. ‚Der Report hat einen unvorstellbaren Umfang an institutionellem Doping im russischen Sport aufgedeckt, das auf dem höchsten Level gesteuert wurde‘, sagte Craven. ‚McLarens Erkenntnisse sind eine ernsthafte Besorgnis für alle, die sich einem sauberen und ehrlichen Sport verpflichtet fühlen'“ (Alle russischen Athleten von Paralympics ausgeschlossen, in spiegelonline 7.8.2016). – „Friedhelm Julius Beucher, der Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS), reagierte zustimmend: ‚Das ist eine klare, unmissverständliche, aber auch mutige Entscheidung. Sie findet die ausdrückliche Zustimmung des DBS. Null-Toleranz-Politik lässt keine Ausflüchte zu. Flächendeckendes Doping erlaubt keine Unschuldsvermutung.‘ (…) Am 22. Juli hatte das IPC das Suspendierungsverfahren gegen das russische NPC eingeleitet. Es hatte von McLaren die Namen von 35 Sportlern erhalten, die in Verbindung mit verschwundenen positiven Dopingproben aus dem Moskauer Kontrolllabor stehen sollen. Zudem hat der Dachverband 19 Dopingproben von den Winter-Paralympics 2014 in Sotschi zur Nachkontrolle geschickt, die im Verdacht stehen, ausgetauscht worden zu sein. ‚Der Report hat einen unvorstellbaren Umfang an institutionellem Doping im russischen Sport aufgedeckt, das auf dem höchsten Level gesteuert wurde‘, stellte IPC-Chef Craven fest“ (DPA, SID, Russland ist raus, in SZ 8.8.2016).
Der russische Sportminister Witalij Mutko: „Wir werden Klage beim Internationalen Sportgerichtshof Cas einreichen. Wir werden für unsere Athleten kämpfen“ (spiegelonline 7.8.2016).
Russische Logik: Erst werden die russischen Behindertensportler vom Staat zwangsgedopt, und dann kämpft dieser Staat für „seine“ Sportler vor Gericht gegen die Sperre, die wegen dieses Staatsdopings verhängt wurde.

Dazu aus einem Kommentar von Jens Weinreich in spiegelonline: „Einen Auftritt wie den von Sir Philip Craven hat die olympische Welt noch nicht gesehen. Der Brite, Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC), lieferte am Sonntag in Barra da Tijuca ein kleines Meisterstück an Transparenz und Konsequenz, das die olympische Welt erschüttert. Das IPC suspendierte das Russische Paralympische Komitee (RPC), somit können die Russen nach jetzigem Stand nicht an den Paralympischen Spielen im September in Rio de Janeiro teilnehmen. (…) Für das bestens dokumentierte russische Staatsdopingsystem und den organisierten Betrug an paralympischen Sportlern anderer Nationen empfinde er ’nichts als Ekel‘, sagte Sir Philip Craven: ‚Fairplay ist das Fundament des Sports. Wenn wir damit nachlassen, sind wir erledigt‘. Die Entscheidung des IPC-Verwaltungsrats, die am Samstag bereits durchgesickert war, da aber noch dementiert wurde, ist auch ein Schlag ins Gesicht des deutschen IOC-Präsidenten Thomas Bach“ (Weinreich, Jens, Ein Entschluss, der die olympische Welt erschüttert, in spiegelonline 7.8.2016). Weinreich listete die unterschiedliche Beurteilung von IPC und IOC auf:
„- Das IPC suspendiert das RPC als Bestandteil des Staatsdopingsystems sofort, während Bachs IOC das russische NOK für angebliche Aufklärungsarbeit und Kooperationsbereitschaft mehrfach lobte. – Das IPC zieht Konsequenzen daraus, dass Russland schon im November 2015 als non compliant zum Welt-Antidoping-Code der Wada eingestuft wurde, während Bachs IOC daraus keine Schlussfolgerungen zieht.
– Das IPC hält sich an sein Regelwerk, während das IOC die juristisch unangreifbaren Optionen der Olympischen Charta negiert hat.
– Das IPC hat sofort mit dem Wada-Sonderermittler Richard McLaren kooperiert, sich beraten und ergänzende Auskünfte eingeholt, während Bach den MacLaren-Bericht demonstrativ nur noch als „vorläufig“ bezeichnet und davon spricht, nach weiteren Ermittlungen und nach Vorlage eines abschließenden Berichts neu entscheiden zu wollen. Er spielt auf Zeit.
– Das IPC stellt den Betrug der Russen am Rest der Welt bei den Sotschi-Paralympics in den Vordergrund – das IOC konzentrierte sich auf russische Sportler, denen man Schlupflöcher bot. (…) Bei den Paralympics organisierten die russischen Gastgeber, so muss man es bezeichnen, insgesamt 80 Medaillen (30 Gold, 28 Silber, 22 Bronze). Deutschland kam in der Nationenwertung auf Rang zwei (15 Medaillen, davon neun Gold) vor Kanada (16 Plaketten, sieben Gold). Diese Ergebnislisten werden komplett umgeschrieben. (…) Paralympische Sportler haben sich in den vergangenen Wochen mehrheitlich deutlich zu einer Sperre der Russen bekannt. Der Deutsche Behindertensportverband DBS unterstützte die IPC-Entscheidung am Sonntag auch sofort und unmissverständlich auf ganzer Linie. Dagegen hatte die Führung des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), Präsident Alfons Hörmann und der Vorstandsvorsitzende Michael Vesper, alles unternommen, um die Linie des einstigen DOSB-Primus Thomas Bach durchzusetzen. Deutsche Sportler wie Olympiasieger Robert Harting wurden verbal gemaßregelt. In Rio behauptete Vesper nun, es gelte Meinungsfreiheit im deutschen Team“ (Ebenda).
Craven kommentierte die Reaktion auf den McLaren-Bericht so: „Der Report hat einen unvorstellbaren Umfang an institutionellem Doping im russischen Sport aufgedeckt, das auf dem höchsten Level gesteuert wurde… McLarens Erkenntnisse sind eine ernsthafte Besorgnis für alle, die sich einem sauberen und ehrlichen Sport verpflichtet fühlen“ (Ebenda).

Und Boris Herrmann in der SZ: „Diese Spiele sind heute aber so groß und widersprüchlich, dass es für sie keine idealen Orte mehr gibt. Coubertins Idee eines Treffens der Jugend der Welt zum fairen sportlichen Wettkampf existiert allenfalls noch als Werbefassade. Wobei die Altherren-Clique des Internationalen Olympischen Komitees zunehmend Schwierigkeiten hat, sie aufrechtzuerhalten. Wenn der russische Sport des Staatsdopings überführt wird und trotzdem 271 Athleten nach Rio schicken darf, und wenn der Herr der Ringe, IOC-Präsident Thomas Bach, dazu erklärt, er habe ein ‚reines Gewissen‘, dann ist der Olympiageist endgültig auf der Intensivstation angelangt. (…) Ein noch viel größeres Symbol wäre es, wenn die Leichtathletin Julia Stepanowa doch noch eine Starterlaubnis für Rio bekäme. Sie hatte als Kronzeugin den russischen Dopingskandal aufgedeckt. Mit der Begründung, dass sie auch selbst gedopt war, wurde sie vom IOC gesperrt. Ein Urteil des Internationalen Sportgerichtshof Cas bringt dieses weltweit kritisierte Argument auch rechtlich ins Wanken. Es wäre jetzt so einfach, diese Spiele mit einer großen Geste zu beginnen – mit der Entscheidung, dass Olympia nicht nur den Vertuschern gehört, sondern auch den Mutigen“ (Herrmann, Boris, Fünf Ringe und eine Hoffnung, in SZ 6.8.2016).

7.8.2016
– Gastgeber Brasilien nicht mehr getestet

„Kurz bevor im Maracana die Eröffnungsfeier begann, wurde auch der nächste Doping-Aufreger bekannt: Die brasilianische Anti-Doping-Agentur hatte die Medaillenkandidaten des Gastgeberlandes in jüngster Zeit einfach gar nicht mehr getestet. Womöglich auf Druck von staatlichen Stellen. Was vor nicht allzu langer Zeit noch ein veritabler Skandal mit weltweit heftigsten Schlagzeilen gewesen wäre – in der immer noch wallenden Empörung über das Staatsdoping der Russen und dem Umgang des IOC mit diesem ging er erst einmal ein wenig unter“ (Hofmann, René, Es wackelt gewaltig, in SZ 7.8.2016). – „Die Wada spricht von ‚inakzeptablen‘ Zuständen, der deutsche Doping-Experte Fritz Sörgel hält Staatsdoping wie in Russland für möglich. ‚Das ist ein Skandal. Es ist natürlich wieder mal kennzeichnend. Es zeigt, wie getrickst wird‘, sagte Sörgel: ‚Nach den schlechten Erfahrungen mit Russland muss man fragen: Gibt es in Brasilien auch Staatsdoping? Oder es war eine Chance, sich über etwas längere Zeit zu entdopen, um einen Skandal vor Olympia zu vermeiden‘. (…) Die WADA will am 1. Juli von Luis Horta, einem leitenden Angestellten der brasilianischen Anti-Doping-Agentur, davon unterrichtet worden sein, dass das Sportministerium des Landes bei einigen Top-Athleten unangemeldete Kontrollen gestoppt habe. Auch das nationale Olympische Komitee Brasiliens habe dahingehend Druck ausgeübt, berichtete Horta. Das Ministerium gab zu, dass zwischen dem 1. und 24. Juli keine Tests vorgenommen worden seien, leugnete jedoch jegliches Fehlverhalten und Einflussnahme von politischer Seite. (…) Horta sprach von einem Zeitraum von 45 Tagen vor den Spielen ohne Tests. Ziel seien so viele Medaillen wie möglich gewesen – ‚egal, ob sauber oder nicht‘. (…) Professor Horta arbeitete einst als Chef der nationalen portugiesischen Anti-Doping-Agentur. Im Vorfeld der Rio-Spiele sollte er brasilianische Dopingjäger mit finanzieller Hilfe der UNESCO in ihrem Kampf unterstützen. Er sollte dort Trainingskontrollen bei 287 Top-Athleten organisieren, gab sein Amt aufgrund der genannten Vorfälle jedoch kürzlich auf. Insgesamt schickt Brasilien 465 Sportler in seine Heimspiele. Laut Horta kam es bereits im Juni zu ersten Problemen. ‚Das Sportministerium und das Olympische Komitee setzten uns unter Druck und meinten, dass wir zu viele Kontrollen vornehmen und die Athleten so in ihrem Training stören würden‘, sagte er“ (SID, „Egal, ob sauer oder nicht“, in SZ 7.8.2016).

IOC-Mitglied Alexander Popow droht IOC-Mitglied Sebastian Coe
Das russische IOC-Mitglied raunte in Richtung des Briten Sebastian Coe, der in seiner Funktion als Präsident des Internationalen Leichtathletik-Verbandes allen russischen Sportlern aus der Disziplin wegen des gigantischen Betrugs in dem Land geschlossen das Startrecht in Rio verwehrt hat: ‚Wir sehen es überhaupt nicht gerne, wenn Leute ihre Nasen in unsere Angelegenheiten stecken.‘ Popov, ein viermaliger Olympiasieger, weiter: ‚Ich hoffe, er wird seine Entscheidung eines Tages nicht bereuen.‘ Ein IOC-Mitglied, das dem Träger des Olympischen Ordens im Stile eines Mafia-Paten droht“ (Hofmann, René, Es wackelt gewaltig, in SZ 7.2016).

8.8.2016
Thomas Kistner
über die Eröffnungsfeier Rio 2016 in der SZ:
„Es erforderte – nach den jüngsten Vorgängen – eine stabile Selbstgewissheit, einerseits die Russland-Frage auszublenden, andererseits aber das Frömmste aus dem Baukasten der Sportkonzern-Rhetorik hervorzukramen. Immerhin hat das IOC mit seiner Russlandpolitik einen neuen, unverrückbaren Standard gesetzt: Alles geht! Nach dem Staatscoup gegen die Integrität der Spiele in Sotschi 2014 dürfen bei der Folgeveranstaltung in Rio mehr als 270 Russen an den Start. Ausgenommen die Athletin, die die Verschwörung aufzudecken half: Julia Stepanowa. Das IOC sperrte die Russin wegen ethischer Defizite aus, mit der Whistleblowerin wurde das größte Gefahrenmoment für die Bewegung eliminiert: Aufklärung von innen. Auszupacken traut sich jetzt niemand mehr, und niemand kann einem Athleten guten Gewissens dazu raten. (…) In Rio haben drei Männer die Spiele eröffnet. Nuzman, ein klassischer, von Skandalen umwitterter Sportfunktionär. Temer, ein Interims-Staatschef, in dessen Umgebung Ermittlungen laufen und den das Publikum für einen Satz auspfiff. Und Bach, heute der umstrittenste Sportfunktionär der Welt, dessen Popularitätswerte mit denen von Sepp Blatter wohl nicht einmal mehr konkurrieren: Der Patron der Fifa hat seine Geschäftspolitik wenigstens nicht über die Athleten ausgetragen. Wenn drei solche Männer an die Jugend der Welt appellieren, darf man ihnen in dem Punkt recht geben: Sie schicken eine starke Botschaft in die Welt. Man muss gedopt sein, um an die Spiele zu glauben“ (Kistner, Thomas, Pfiffe wie beim siebten Tor, in SZ 8.8.2016).

– Jefimowa wird ausgebuht
„Das Publikum im Aquatics Stadium von Rio de Janeiro brauchte gar nicht zu hören, wer sich da an die Startblöcke stellte. Die Soundanlage funktionierte mal wieder nicht, die Vorstellung der Halbfinalistinnen über 100 Meter Brust ging in aller Stille über die Bühne. Doch als die für Bahn vier vorgesehene Athletin ihren Auftritt hatte, wurde es laut. Schrille Pfiffe und lautstarke Buhrufe empfingen Julija Jefimowa. (…) Der Fall Jefimowa steht für die großen Probleme im Weltschwimmverband (Fina), der wegen seiner nachlässigen Anti-Doping-Politik immer wieder in die Kritik geraten war. Ein ärztliches Attest hier, eine fragwürdige Erklärung dort – zuletzt hatten Schwimmstars, gerade solche mit Titeln und Rekorden, wenig zu befürchten, wenn sie gegen Dopingregeln verstießen. Häufig ging der Weltverband auf Tauchstation, statt um die Glaubwürdigkeit einer Sportart zu kämpfen, die ohnehin unter Dauer-Dopingverdacht steht“ (Knoll, Sabrina, Stolz, routiniert, ausgepfiffen, in spiegelonline 8.8.2016). Im Herbst 2013 wurde bei Jefimowa das Steroid Dehydroepiandrosteron getestet. Sie wurde nur 16 Monate gesperrt und konnte bei der Heim-WM in Kasan Gold über 100 Meter und Bronze über 50 Meter Brust gewinnen. Dann wurde sie mehrfach positiv auf das Herzmittel Meldonium getestet und von der Fina im März 2016 suspendiert. Da die russische Sportpolitik die angebliche Frist zum Abbauen von Meldonium  anzweifelte, wurde die Sperre im Mai 2016 aufgehoben und Jefimowa im vergangenen Monat freigesprochen. „Und so wird es wohl wieder laut werden im Schwimmstadion, wenn das Finale über 100 Meter Brust aufgerufen wird, für das sich Jefimowa mit der zweitschnellsten Halbfinal-Zeit hinter der US-Amerikanerin Lilly King qualifizierte. Titelverteidigerin Ruta Meilutyte schlug als Gesamt-Viertschnellste im selben Lauf auf der Bahn neben jener Schwimmerin an, die ihr in Kasan bereits den WM-Titel verwehrte. Über das erneute Duell gegen eine bereits des Dopings überführte Konkurrentin wollte die Litauerin nicht sprechen“ (Ebenda; SID, Jefimowa ausgepfiffen, in SZ 8.8.2016).

– Jefimowa als „Siegerin“ ausgebuht
„Auf den letzten Metern kippte die Stimmung im Aquatics Centre in Rio. Ruta Meilutyte lag vorne in diesem Halbfinale über 100 Meter Brust, die 14 000 Zuschauer jubelten und schrien fast so energisch, als wäre da gerade eine Brasilianerin im Becken. Auch nach der Wende führte die Litauerin, doch Julia Jefimowa kam auf der Nebenbahn immer näher, ab der Hälfte war sie gleichauf. Aus dem Jubeln und Schreien wurde ein Pfeifen und Buhen, als die Russin tatsächlich noch als Erste anschlug. (…) Am Sonntagabend bei den Halbfinalläufen spürte Jefimowa deutlich, dass sie in der Schwimmwelt gerade nicht willkommen ist. Als ihr Name auf der Leinwand erschien, fingen die Buhrufe schon an, Jefimowa lief rein, winkte wie vorgesehen und versuchte ihr Standard-Lächeln zu zeigen. Doch das geriet unter dem Eindruck der lautstarken Abneigung ziemlich säuerlich. (…) Jefimowa verbesserte sich über die Jahre, aber mit unerlaubter Hilfe: Im Oktober 2013 wurde sie auf das anabole Steroid Dehydroepiandrosteron (DHEA) positiv getestet. Normalerweise hätte das bedeutet: Sie verpasst die WM in Kasan 2015. Statt zwei Jahren verhängte die Fina bei Jefimowa nur eine 16-Monate-Sperre, sie nahm ihr ab, dass sie aus Versehen ein unerlaubtes Nahrungsergänzungsmittel genommen hatte. Im Frühjahr 2015 kam die Athletin gleich mit einer Bestzeit zurück: Dabei hätte sie innerhalb der gesperrten Monate gar nicht professionell trainieren dürfen. Und dann in Kasan im August 2015: Jefimowa schwimmt wieder, im Finale besiegt sie Meilutyte und wird Weltmeisterin. Ruta Meilutyte sagt: ‚Ich habe sie immer respektiert, aber jetzt sehe ich sie nicht mehr als aufrichtige Konkurrentin an.‘ Es gibt etwas, das tatsächlich noch schwerer wiegt als Jefimowas Dopingvergehen. Redet sie darüber, wird es richtig hart für Sympathisanten des sauberen Sports. Bei der WM sagte sie zu ihrer Dopingsperre: ‚Ich vergleiche das immer mit dem Autofahren. Wenn Sie einen Führerschein haben, fahren Sie irgendwann auch mal zu schnell, dann bekommen Sie ein Knöllchen'“ (Aleythe, Saskia, Jefimowas Rückkehr mit Buhrufen und Pfiffen, in SZ 8.8.2016).

Dazu René Hofmann in der SZ:
„Der Sieger über 200 Meter Freistil heißt Sun Yang, ist 24 Jahre alt und kommt aus China. Die erste Frage, die ihm nach dem Erfolg gestellt wurde, lautete: ‚Spornt es Sie noch mehr an, dass Sie ein ‚Doping-Betrüger‘ genannt werden?‘ Die Siegerin über 100 Meter Brust heißt Lilly King. Einer der ersten Sätze der 19 Jahre alten Amerikanerin, nachdem sie sich aus dem Pool gezogen hatte, war: Sie hoffe, dass ihr Sieg ein Signal sende, ‚dass wir sauber antreten und trotzdem gewinnen können‘. Der Satz zielte direkt auf die Zweitplatzierte. Die Zweitplatzierte über 100 Meter Brust heißt Julia Jefimowa. Sie kommt aus Russland. Und sie darf bei diesen Spielen starten, obwohl sie im Oktober 2013 mit dem Steroid Dehydroepiandrosteron erwischt worden war, danach mit dem seit Anfang 2016 verbotenem Mittel Meldonium auffällig wurde und obwohl sie mit dem russischen Staatsdoping-Programm in Verbindung gebracht wird. (…) Bereits nach dem Halbfinale hatte es gekracht. Als Jefimowa im Ziel freudig den Zeigefinger in die Luft gereckt hatte, lief King gerade an einem TV-Monitor vorbei. Als sie die Geste ihrer Rivalin sah, reckte sie ihren Zeigefinger ebenfalls in die Luft und sagte: ‚Du hebst den Finger für die Nummer eins, dabei bist du mit Doping erwischt worden. Ich bin kein Fan von dir.‘ Viele Fans hat Jefimowa in Rio offenbar eh nicht. Bei ihren Auftritten gibt es zuverlässig Pfiffe. Aber äußerlich ficht das Jefimowa kaum an. „Ich bin glücklich, hier zu sein. Ich denke nur von Rennen zu Rennen.“ Mit dieser Einstellung zog sie ins Finale ein. Als sie das als Zweite beendet hatte und ihr Dutzende kritische Fragen gestellt wurden, kamen ihr dann doch die Tränen. Trotzdem sagte sie: ‚Ich bin einfach nur glücklich, hier zu sein. Vor einer Woche wusste ich noch nicht, ob ich antrete. Weil ich Russin bin.‘ Es klang wie eine Klage gegen eine ungerechte Diskriminierung. Eine recht eigenwillige Deutung. Lilly Kings Freude über den Sieg in

Jun 202016
 
Zuletzt geändert am 20.09.2017 @ 17:35

20.6.2016, aktualisiert 20.9.2017
Folgt ab 8.8.2018 unter: Rio 2016 und Doping

Vergleiche auch: Laborchef von Sotschi 2014 packt aus; Die Wada-Untersuchung; Hickey, Pat

Wetten dass … die russischen Sportler in Rio 2016 dabei sein werden? schrieb ich Mitte Juni 2016. Schon sind sie seit 24.7.2016 dabei. Leider hat niemand gegen mich gewettet…
Es ist doch interessant, was den Sport-Spezln Wladimir Putin und Witalij Mutko, Thomas Bach und Sebastian Coe alles eingefallen ist – und noch einfallen wird, um die russischen Sportler KOMPLETT in Rio 2016 antreten zu lassen. IOC-Präsident Thomas Bach hatte seinen privaten „Olympic Summit“ am 21.6.2106 tagen lassen: alles Sport-Kumpels. Und schon waren die russischen Sportler in Rio 2016 (wieder) dabei.

Es bleibt in der olympischen Familie
Wenn der Sport „wieder Vertrauen in seine Bilder schaffen will, muss er die Doping-Kontrollen aus den nationalen Agenturen lösen. Und einer unabhängigen Welt-Anti-Doping-Agentur übertragen, die nicht nur observiert, sondern kontrolliert, mit eigener Ermittlungseinheit. Ohne Personal, das auch in Sportverbänden wirkt. Craig Reedie, der seit 2013 die Wada leitet, ist gleichzeitig Vizepräsident des IOC, also Teil jenes Geschäfts, das er mit seiner Agentur durchleuchten soll. Da hält die olympische Familie im Zweifel lieber zusammen“ (Knuth 17.6.2016).
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Intro (I): Whistleblowerin gesperrt

„Im Dezember 2012 erhielt die Welt-Anti-Doping-Agentur eine  Email einer olympischen Sportlerin aus Russland. Sie ersuchte um Hilfe. Die Sportlerin, eine Diskuswerferin namens Darya Pishchalnikova, hatte vier Monate vorher eine Silbermedaille bei  den Olympischen Sommerspielen in London gewonnen. Sie  teilte mit, dass sie auf Weisung der russischen Sport- und Anti-Doping-Verantwortlichen verbotene Drogen genommen und dass sie Informationen über systematisches Doping in ihrem Land hat. Bitte untersuchen Sie dies, flehte sie die Wada im Email an, das in Englisch abgefasst war. ‚Ich möchte mit der Wada kooperieren‘, stand in der Email. Aber die Wada, die globale Instanz für Doping im olympischen Sport, begann keine Untersuchung… Es sandte die Email von Frau Pishchalnikova an russische Sportfunktionäre… In ihrer  Email aus dem Jahr 2012 nannte Frau Pishchalnikova Dr. Rodschenkow, den Direktor des Anti-Doping-Labors, dessen Einrichtung erst kürzlich von der Wada wegen verdächtiger Testergebnisse ausgemustert wurde. Sie sagte, er würde den von Steroiden versuchten Urin von Athleten durch sauberen Urin ersetzen. (…) Vier Monate, nachdem Frau Pishchalnikova der Wada gemailt   hat, wurde sie vom russischen Leichtathletikverband für zehn Jahre gesperrt. Sie hat sich von Wettbewerben und aus dem Leben in Russland zurückgezogen. Versuche, sie zu erreichen, waren erfolglos“ (Ruiz u. a., 15.6.2016; Übersetzung WZ).

Intro (II): Goldmedaillengewinner bei London 2012 gedopt
„Vier Goldgewinner im Gewichtheben von London 2012 sind bei Doping-Nachtests des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) positiv getestet worden. (…) Die Kasachen Ilja Iljin (94 Kilogramm), Sülfija Tschinschanlo (53 kg), Maja Manesa (63 kg) und Swetlana Podobedowa (75 kg) drohen nun Sperren. (…) Neben den vier kasachischen Olympiasiegern betrifft die mögliche Aberkennung ihrer Medaillen auch den Olympia-Zweiten Apti Auchadow aus Russland sowie die Bronzemedaillen-Gewinnerinnen Julja Kalina (Ukraine) und Marina Schkermankowa (Weißrussland)“ (DPA SZ 17.6.2016).

– Russische Leichtathleten werden gesperrt
„Bereits im November 2015 suspendierte der Leichtathletik-Weltverband IAAF den russischen Leichtathletikverband WFLA. Es war eine Reaktion auf einen mehr als 300 Seiten umfassenden Bericht der Welt-Doping-Agentur Wada, in dem ausführlich die systematischen und zum Teil auch vom Staat getragenen Dopingmethoden beschrieben wurden. Eine Sperre, die im März verlängert wurde und an der sich auch in der nächsten Zeit nichts ändert“ (Dudek 17.6.2016).

– Russische Methoden ändern sich nicht
Der Sport preist gerne seinen Anti-Doping-Kampf, aber dieser angebliche Kampf ist und war meist ein Anti-Doping-Management. (…) In diesem prekären Klima wird der Chor derer lauter, die fordern, Russlands Athleten aus Rio zu verbannen. Zum einen, weil sich in den Skandalen vieles bündelt, was von einem der größten Raubüberfälle auf die Werte des Sports erzählt. Zum anderen, weil vieles darauf hindeutet, dass der Betrug bis zuletzt anhielt – während in den Hinterzimmern an einem Kompromiss gearbeitet wurde, um Russland, das viele Funktionäre und viel Geld bewegt, nicht zu sehr zu brüskieren. Das Council wird die Sperre am Freitag dem Vernehmen nach nicht aufheben, aber es könnte Einzelnen eine Hintertür öffnen. (…) ‚Das sind keine vergleichbaren Bedingungen für Nationen mit funktionierenden Kontrollsystemen‘, sagt Clemens Prokop, der Präsident des deutschen Verbands. Am Mittwoch berichtete die Wada, dass zwischen Februar und Mai 736 externe Kontrollen in Russland scheiterten, weil Tester von Athleten und Geheimdienstarbeitern massiv behindert wurden. Eine Läuferin flüchtete offenbar während ihres Rennens aus dem Stadion, weil sie die Kontrolleure erspäht hatte. Eine andere Leichtathletin habe spontan versucht, den Kontrolleur zu bestechen. (…) Wenn die IAAF nun über Russland richtet, sagt DLV-Chef Prokop, ‚stellt sich auch die Glaubwürdigkeitsfrage für die Zukunft‘. Aber im Grunde kann die Leichtathletik auch mit einer Verbannung kaum Glaubwürdigkeit zurückerlangen, schon gar nicht der gesamte Sport“ (Knuth 17.6.2016).

– 17.6.2016, 16:49: Russische Leichtathleten gesperrt
„Der Leichtathletik-Weltverband IAAF hat die Sperre der russischen Leichtathleten auf unbestimmte Zeit verlängert. Das bestätigte IAAF-Präsident Sebastian Coe. Damit ist eine Teilnahme der Sportler an den Olympischen Sommerspielen in Rio de Janeiro ausgeschlossen“ (spiegelonline 17.6.2016).

– Russland ist unschuldig
Russlands Sportminister Witalij Mutko äußerte dazu: ‚Wir sind verärgert. Unschuldige Menschen wurden wegen schuldiger bestraft‘, sagte er demnach“ (Ebenda).
Das ist bedingt richtig: Schuldig sind die russischen Sportfunktionäre, die diesen systematischen Betrug organisiert und zu verantworten haben, der Kreml, der dies sehr wahrscheinlich direkt angeordnet hat und die Helfer aus Medizin, Presse und Propaganda.
Ähnlich äußerte sich Wladimir Putin: „Es kann keine Kollektivverantwortung aller Athleten geben. Das ganze Team kann nicht verantwortlich gemacht werden für einen Einzelnen, der gegen die Regeln verstoßen hat“ (Ebenda).
Der Einzelne – das soll einzelne (schuldige) Sportler suggerieren und nicht das von ganz oben angeordnete Staatsdoping.
Putin bestritt jedes systematische und vom russischen Staat organisierte Doping: ‚Es gibt keine Unterstützung der Regierung für Regelverletzungen im Sport, besonders nicht in der Frage des Dopings, und es kann auch keine geben“ (Ebenda).
Das ist schlicht unwahr – siehe dazu die Aussagen von Rodschenkow und die Rolle des russischen Geheimdienstes FSB.
„Laut der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada gab es in der russischen Leichtathletik flächendeckendes, systematisches Doping. Positive Kontrollen wurden vertuscht, zudem konnten sich Leichtathleten von Verdachtsfällen freikaufen. Funktionäre und Trainer haben demnach den Betrug gefördert. Neben den Sportlern waren im vergangenen Jahr auch Russlands Anti-Doping-Labor sowie die russische Anti-Doping-Agentur Rusada suspendiert worden, Russlands Leichtathletik-Präsident Walentin Balachnitschew musste zurücktreten“ (Knaack 17.6.2016).

– Doch keine Fortschritte in Russland
„Zuletzt hatte Präsident Coe von ‚Fortschritten‘ gesprochen, die Wada kam jedoch in ihrem jüngsten Bericht zu einem anderen Schluss. Demnach seien von Februar bis Mai dieses Jahres insgesamt 736 geplante Dopingproben aus unterschiedlichen Gründen nicht durchgeführt worden. Zudem berichtete die Wada von eklatanten Versäumnissen vieler Athleten bei der Angabe des Aufenthaltsorts“ (Ebenda). – „Trotz der von Sportminister Wladimir Mutko angekündigten Reformen berichtete die Wada jüngst von mangelhaften Fortschritten. Hunderte von Dopingkontrollen konnten demnach aus den unterschiedlichsten Gründen nicht durchgeführt werden, Kontrolleure sollen zudem von Beamten des russischen Geheimdiensts FSB eingeschüchtert worden sein. Laut ARD-Recherchen sollen zudem bekannte Strippenzieher des russischen Dopingsystems weiter im Einsatz sein – Mutko bestreitet das“ (Knaack 17.6.2016).

– Die Statuten
In Regel 45 des Ethik-Codes des Leichtathletik-Weltverbands steht: „Das IAAF-Council kann Strafen gegen ein Mitglied des Weltverbands verhängen, wenn es gegen die Anti-Doping-Regeln verstößt“ (Knaack 17.6.2016). Folgende Strafen sind für Mitglieder möglich: Suspendierung, Geldstrafen, Streichen von Zuschüssen oder Subventionen, Ausschuss von einem oder mehreren internationalen Wettbewerben, Verweigerung von Akkreditierungen“ (Ebenda).

– Entscheidung nicht unbedingt endgültig
„Jein. Formal hat das Internationale Olympische Komitee Hausrecht bei den Olympischen Spielen, kann also das Urteil des Leichtathletik-Weltverbands überstimmen. Für kommenden Dienstag ist eine Sitzung der IOC-Spitze mit Vertretern der Spitzenverbände angesetzt, auf der über die Kollektivstrafe beraten wird. Doch IOC-Präsident Thomas Bach hatte bereits vor der IAAF-Entscheidung angekündigt, dem Urteil des Leichtathletik-Weltverbands zu folgen. Er sprach von einer ‚Null-Toleranz-Politik‘ gegenüber Dopingsündern. Alles andere wäre laut Experteneinschätzung ein offener Angriff des IOC auf die IAAF“ (Ebenda).

– Stabhochspringerin Issinbajewa uninformiert
„Die Tür für Ausnahmen ist nur einen winzigen Spalt breit geöffnet, hat der Norweger Rune Andersen in Wien gesagt, der Chef der IAAF-Taskforce, die einen überzeugenden Bericht vorgelegt hat. Stars wie Jelena Issinbajewa, die Putin-treue Olympiasiegerin im Stabhochspringen, werden kaum durch diesen Spalt schlüpfen können. Issinbajewa, die vor drei Jahren nicht nur die unerträglichen Anti-Homosexuellen-Gesetze in Russland verteidigte, sondern die faktenbasierten Berichte der Weltantidopingagentur Wada und zahlreiche investigative Medienberichte als „politisch motiviert“ bezeichnete, wird im Papier der Taskforce auch erwähnt – und als Propagandistin enttarnt. Denn in Gesprächen mit der Taskforce stellte sich heraus, dass Issinbajewa die Wada-Berichte nie gelesen hatte“ (Weinreich 17.6.2016).

– Doch russisches Staatsdoping
Aus einem Kommentar von Jens Weinreich in spiegelonline: „Der 15 Seiten umfassende Bericht der Taskforce ergänzt die vielen hundert Seiten der beiden Wada-Berichte und die zahlreichen Enthüllungen – wie zuletzt in der BBC, in der ‚New York Times‘ und in der ARD – perfekt. Nie zuvor in der Geschichte des olympischen Sports konnte ein staatlich organisiertes Dopingsystem zeitnah so gut beschrieben werden. (…) Das russische System, dessen Wurzeln in der Sowjetunion liegen, wird vom Sportministerium bis heute geschützt – auch dafür liefert das Papier der IAAF weitere Belege. Wer die Augen vor all diesen Beweisen, Aussagen und Indizien verschließt – wie Issinbajewa, wie russische Staatsmedien und Putin-Trolle im Internet – der kann in der Diskussion nicht ernst genommen werden. Am 15. Juli wird der nächste umfassende Bericht der Wada vorgelegt. Hat die Beibehaltung der Sanktionen gegen den russischen Verband die Lage an der Dopingfront nachhaltig verbessert? Natürlich nicht. Das kriminelle System in der IAAF muss strafrechtlich aufgearbeitet werden. Die Doppelpässe hoher Funktionäre des IOC und der Wada mit Russland müssen eingestellt und sportjuristisch sanktioniert werden – Ethikregeln geben da einiges her. Das internationale System der Dopingfahndung steht weiterhin vor dem Kollaps. Viele ehrliche Sportler, die jahrelang von den Russen (und anderen) betrogen wurden, werden nie den Lohn ihrer Arbeit bekommen. Sie bleiben bis ans Lebensende betrogen“ (Ebenda; Hervorhebung WZ).
Jelena Issinbajewa stritt Tage später im Spiegel jegliches russische Staatsdoping ab: „Wenn  jemand in unserem Sport zu verbotenen Substanzen greift, ist  das immer seine ganz individuelle Entscheidung. (…) In Russland gibt es kein Dopingsystem. Das sage ich Ihnen“ (Eberle, Schirokow 25.6.2016).

– Russland macht weiter
„‘Der russische Leichtathletikverband WFLA bleibt weiterhin auf unbestimmte Zeit suspendiert‘, erklärte IAAF-Präsident Sebastian Coe am Freitagabend in Wien, wo das Council des IAAF über die Fortschritte der Russen im Anti-Dopingkampf beriet. Damit bleiben die russischen Leichtathleten weiterhin von allen internationalen Wettbewerben ausgeschlossen, was auch die Teilnahme an den im August beginnenden Olympischen Spielen in Rio unmöglich macht. ‚An der Kultur des Dopings und daran, dass es toleriert wird, hat sich bis heute nichts geändert‘, sagte Rune Andersen, Vorsitzender der IAAF-Taskorce, auf der Pressekonferenz zur Begründung. Dabei haben russische Sportfunktionäre in den vergangenen Tagen noch das Gegenteil behauptet. ‚Wir haben alle 44 Reformforderungen des IAAF erfüllt‘, sagte noch am Montag Gennadi Aljeschin, Präsidiumsmitglied des russischen NOK. Dass Mutkos Beteuerungen zum Teil nur hohle Phrasen sind, zeigt der jüngste Bericht der Wada. (…) Von Dopingkontrolleuren, die bei ihrer Arbeit sowohl von Sportlern als auch von Mitarbeitern des Inlandsgeheimdienstes FSB behindert wurden, ist in dem am vergangenen Mittwoch publik gewordenen Bericht die Rede. Ebenso von Sportlern, die ihren Aufenthaltsort verheimlichen oder von Versuchen, Dopingproben zu manipulieren. Bei diesen Erkenntnissen blieb dem IAAF quasi keine andere Wahl, als die Suspendierung des WFLA aufrechtzuerhalten. (…) Tatjana Lebendewa, ehemalige Vize-Präsidentin des russischen Leichtathletikverbandes und Weitsprung-Olympiasiegerin von 2004, sagte: ‚Die Politik siegte über den Sport‘“ (Dudek 17.6.2016; Hervorhebung WZ).
Stimmt. Das russische staatliche Systemdoping hat über den ehrlichen Sport gesiegt.

– Aus einem Kommentar von Sara Peschke in nzz.ch: „Russland gelobte Besserung und versicherte, sich an die Auflagen der Wada zu halten. Nun, ein gutes halbes Jahr später, ist klar: Viel ist nicht passiert, im Gegenteil. Weitere Recherchen der ARD zeigten, dass noch immer jene Trainer aktiv waren, die offiziell eigentlich nicht mehr arbeiten durften, sie trafen und trainierten die Athleten einfach im Geheimen. Anfang Mai berichtete der frühere Leiter des Moskauer Anti-Doping-Labors, Gregori Rodschenkow, in der ‚New York Times‘ von systematischem Doping während der Olympischen Winterspiele in Sotschi, unter anderem mithilfe des Geheimdienstes FSB. Und vor wenigen Tagen erst, also kurz vor der Entscheidung des IAAF-Councils über den Bann der russischen Athleten, gab die Wada bekannt, dass 736 in Russland geplante Dopingkontrollen zwischen dem 15. Februar und dem 29. Mai nicht durchgeführt worden seien. Kontrolleure seien von Athleten und Geheimdienstmitarbeitern massiv behindert worden. Kurz: Der russische Sport hat das grosse Frachtschiff Weltsport mit voller Wucht gegen seinen versteckten Eisberg prallen lassen – und gehofft, dass es irgendwie keiner merkt. (…) Denn die Enthüllungen der vergangenen Monate haben nicht nur gezeigt, dass das Anti-Doping-System in Russland krankt beziehungsweise weitgehend inexistent ist. Sie haben auch dargelegt, dass internationalen Kontrollinstanzen wert- und nutzlos sind. Was bringt ein von der Wada überwachtes russisches Anti-Doping-Labor in Sotschi, wenn es sämtliche Überwachung umgehen kann? Richtig: nichts. Genau dort müsste das IOK ansetzen, um effektiven Anti-Doping-Kampf zu leisten“ (Peschke 17.6.2016).

18.6.2016

IAAF-Bericht zu russischem Staatsdoping
„Zwar hätte der Verband ’signifikante Fortschritte‘ gemacht, sagte Rune Andersen, der jene Kommission geleitet hatte, die die Reformen in Russland inspizierte. Allerdings sei er noch immer auf eine tiefwurzelnde Toleranz für Doping und Betrug gestoßen, bis hin zu Cheftrainer Juri Borsakowski. Den hatten Russlands Funktionäre im vergangenen Jahr als Gesicht der neuen, angeblich porentief reinen russischen Leichtathletik vorgestellt. Laut Andersens Bericht bestritt Borsakowski, dass Russlands Leichtathletik überhaupt ein Dopingproblem habe. Nach den bulgarischen Gewichthebern sind die russischen Leichtathleten nun jedenfalls der zweite Fachverband, der wegen massiven Dopingproblemen von den Olympischen Spielen ausgeschlossen wird. Der Bann sei ’nicht verhandelbar‘, sagte Coe, ehe Andersen erklärte, dass es doch Spielraum für Verhandlungen gebe: Athleten, die sich zuletzt einem ‚effektiven Anti-Doping-Programm‘ außerhalb des russischen Systems bzw. im Ausland unterzogen hätten und dies bis Rio weiter tun, dürfen bei der IAAF eine Zulassung beantragen, unter neutraler Flagge. (…) Die finale Entscheidung über mögliche Schlupflöcher trifft am kommenden Dienstag das Internationale Olympische Komitee (IOC). Letztlich gab Andersen zu, einen zentralen Konflikt nicht lösen zu können: ab wann ein Anti-Doping-System als effektiv und glaubwürdig gilt. ‚Fünf, zehn oder hundert negative Tests bedeuten nicht, dass ein Athlet sauber ist, das hat uns die Geschichte gelehrt‘, sagte er. Frei übersetzt: Der aktuelle Anti-Doping-Kampf des Sports ist mittlerweile derart in seiner Glaubwürdigkeit zertrümmert, dass man so oder so keinem mehr trauen kann. (…) Russlands Sportministerium gab sich derweil wenig einsichtig. Man sei ‚extrem enttäuscht‘, man habe doch alles getan, um das Vertrauen der internationalen Sportgemeinde zu gewinnen, hieß es von dort. Das war eine mutige Interpretation. Sie ignorierte den Hinweis der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada), wonach zuletzt 736 Tests in Russland scheiterten, weil externe Kontrolleure massiv behindert wurden. Das konnte Sportminister Witali Mutko natürlich nicht unkommentiert lassen: ‚Die Kontrolleure müssen uns nur informieren – aber wartet damit nicht bis zur letzten Minute!‘ Das Prinzip der unangekündigten Tests scheint noch nicht ganz bis ins höchste Sportgremium Russlands vorgedrungen zu sein (Knuth 18.6.2016; Hervorhebung WZ).

– Dazu aus einem Kommentar von Thomas Kistner in der SZ: „Und Pounds Münchner Kehrtwende? Wird durch seine Vita erklärt. Der Kanadier ist Wada-Gründungspräsident und IOC-Alterspräsident. Der jetzige Wada-Chef Craig Reedie sitzt im IOC-Vorstand, ist Brite und wie Coe in der Dopingaffäre mit entlarvender Nähe zu Moskaus Potentaten aufgefallen. Natürlich ist auch Coe eng mit Thomas Bach, als dessen Nachfolger an der IOC-Spitze er sogar galt: Shakespeare und Goethe, werden sie geneckt. Familie halt. So nennt sich das Netzwerk selber, das den Sport beherrscht. Nun fliegt auf, dass Coe vor der Russen-Affäre Hinweise auf Doping und Korruption erhalten habe, aber die brisante Mail nicht gelesen haben will. Auch soll ihm der von Interpol gesuchte Diack für die Thronwahl Voten aus Afrika besorgt haben. Prompt spielt Coe wieder routiniert den ahnungslosen Lord. Man sollte seine Ausflüchte schlicht ignorieren – so wie er, wenn er Betrugshinweise erhält. Die Causa Coe zeigt: In IAAF, Wada und dem Dachgremium IOC läuft alles genauso krumm ab wie im Bruderverband Fifa. Der Spitzensport hat kein Problem mit Doping oder Korruption, mit sinistren Sportlern oder Agenten, auch nicht mit gierigen Sponsoren oder den Figuren, die auf russischer Staatsseite offenbar die Manipulation steuern. Der Sport hat nur eine echte Wundstelle, an der sich alle Probleme entzünden: Sein Führungspersonal. Funktionäre, die all das ermöglichen, die Korruption zur Geschäftsbasis und den Dopingkampf zur Propaganda gemacht haben. Dieses Geschäftsmodell ist nur geschützt, wenn der Betrug abgesichert wird. Daher sind es stets nur Medien oder staatliche Fahnder, die etwas im Sumpf aufdecken; nie der Sport selber. Vergesst die neue Sanktion gegen Russland – sie wird vor Rio garantiert noch aufgeweicht; es werden Russen dabei sein. Vergesst dopende Sportler. Schaut nur auf die Funktionäre: Auf die Familie“ (Kistner 18.6.2016).

– Russland lenkt ab
„Einen Tag nach der Olympia-Sperre für Russlands Leichtathleten hat die russische Justiz Ermittlungen gegen Whistleblower Grigorij Rodtschenkow eingeleitet. Ihm werde Machtmissbrauch vorgeworfen, sagte Wladimir Markin, Sprecher der russischen Ermittlungsbehörde. Das staatliche Untersuchungskomitee bestätigte die Eröffnung eines Verfahrens gegen den in die USA geflüchteten Ex-Leiter des Moskauer Anti-Doping-Labors. Rodtschenkow hatte im Mai schwere Vorwürfe gegen die verantwortlichen Stellen seines Heimatlandes wegen der Manipulation von Dopingkontrollen bei den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi erhoben. Demnach sollen die Gastgeber die Dopingkontrollen mehrerer Dutzend russischer Athleten, darunter 15 Medaillengewinner, gegen negative Urinproben vertauscht haben. Die Ermittlungsbehörden sehen jedoch ein Fehlverhalten bei dem ehemaligen Chef des Moskauer Doping-Kontrolllabors und späteren Whistleblower. (…) ‚Rodtschenkow versucht, durch seine Behauptungen eigene Versäumnisse und persönliches Fehlverhalten zu vertuschen. Sein Verhalten hat den gesetzlich geschützten Interessen des russischen Staates großen Schaden zugefügt und die russische Anti-Doping-Politik diskreditiert‘, heißt es in einer offiziellen Mitteilung“ (spiegelonline 18.6.2016).

– Alle russischen Sportler draußen?
„Es wäre die nächste historische Entscheidung: Nach dem Ausschluss der russischen Leichtathleten von den Olympischen Sommerspielen in Rio könnte es noch weitere russische Sportverbände oder gar das gesamte russischen NOK treffen. Bei einer Telefonkonferenz hat das Exekutivkomitee des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) am Sonnabend den Beschluss des Councils des Weltverbandes der Leichtathleten (IAAF) vollumfänglich begrüßt, die Sperre des dopingverseuchten russischen Verbandes aufrecht zu erhalten“ (Weinreich 18.6.2016).

– Putin redet mit
Für den 21. Juni hat IOC-Präsident Thomas Bach zum so genannten Olympic Summit nach Lausanne geladen. Teilnehmer dieses Meetings erklärten SPIEGEL ONLINE, im Mittelpunkt des Olympiagipfels werde, so ihre Erwartung, die Frage stehen, ob das russische NOK komplett oder zumindest weitere Sportarten auszuschließen seien. Die Agenda legt allerdings der IOC-Präsident fest, der sich, davon gehen die hohen Sportfunktionäre aus, zuvor mit Russlands Präsident Wladimir Putin beraten wird. Bach und Putin sind sich geradezu freundschaftlich verbunden. Putin hat 2013 die Inthronisierung Bachs im IOC unterstützt und am Freitag den IAAF-Bann Russlands scharf kritisiert“ (Ebenda).

– Kanadischer Ermittler Richard McLaren
„McLaren ermittelt im Auftrag der Wada, die selbst schwer unter Druck geraten ist, und will seinen Bericht am 15. Juli vorlegen. (…) Russland hat seit 2010, seit dem Amtsantritt des NOK-Präsidenten Schukow nicht nur die Winterspiele, die Paralympics und die Weltstudentenspiele (Universiade) ausgetragen, sondern 18 Weltmeisterschaften in vierzehn olympischen Sportarten, darunter Schwimmen und Leichtathletik. Alles steht unter akutem Manipulationsverdacht. Wada-Sonderermittler McLaren wird auf diese Sportarten und die Rolle der nationalen und internationalen Verbände eingehen müssen. IOC-Präsident Bach weiß um die Gefahren des McLaren-Berichts. Der Kanadier legt sein Papier zunächst dem schwer in Erklärungsnot geratenen Wada-Präsidenten und IOC-Vize Craig Reedie vor. Ob der Brite, der gemäß eines enthüllten Email-Austausches mit dem russischen Sportministerium kollaborierte, es wagt, in dieser einzigartigen Situation den McLaren-Report zu schönen? Ob McLaren eine Manipulation hinnehmen würde?“ (Ebenda).

20.6.2016

– Wer ist in Russland am empörtesten?
„Es hat übers Wochenende offenkundig eine Art innerrussischer Überbietungswettkampf eingesetzt, welcher Politiker, Funktionär oder Athlet nach dem Ausschluss der nationalen Leichtathleten für die Sommerspiele in Rio de Janeiro die harscheste Wortwahl findet. Staatspräsident Wladimir Putin bezeichnete die Sanktion als ‚unfair‘, die Stabhochsprung-Olympiasiegerin Jelena Issinbajewa empörte sich über eine ‚Menschenrechtsverletzung‘, und Sportminister Witalij Mutko drohte, dass die Disqualifikation noch Konsequenzen haben werde.  Aber womöglich müssen sich Putin & Co. noch ein bisschen Steigerungspotenzial für ihre verbalen Beschwerden lassen. Denn nachdem am Freitagabend der Internationale Leichtathletik-Verband (IAAF) die weitere Suspendierung des russischen Verbandes und damit das faktische Aus für die Sommerspiele beschloss, intensiviert sich nun auch noch eine andere Debatte: Warum trifft es eigentlich nur die Leichtathleten und nicht mehr Verbände des offenkundig dopingverseuchten Riesenreiches? ‚Das IOC ist gut beraten, über einen Gesamtausschluss Russlands nachzudenken‘, sagte etwa der deutsche Leichtathletik-Chef Clemens Prokop. (…) ‚An der Kultur des Dopings und daran, dass es toleriert wird, hat sich bis heute nichts geändert‘, sagte Rune Andersen, Leiter der IAAF-Untersuchungsgruppe. Das offenkundigste Argument ist die Tatsache, dass in den vergangenen Monaten gleich 736 unabhängige Dopingproben nicht wie geplant durchgeführt werden konnten.  (…) Russland will sich gegen die Sanktionierung der Leichtathleten nun wehren. Dem Argument, die Kollektivstrafe sei gegenüber einzelnen unschuldigen Sportlern unfair, widersprach schon IAAF-Mann Andersen energisch. Das sei nichts im Vergleich zur Ungerechtigkeit gegenüber den nichtrussischen Athleten, die aufgrund des Dopingmissbrauchs russischer Mitbewerber in den vergangenen Jahren um Medaillen und Preisgelder gebracht worden seien. (…) Der IOC-Vorstand stellte sich am Samstag zwar hinter die Entscheidung des Leichtathletik-Weltverbandes und am Dienstag gibt es in der Ringe-Zentrale ein weiteres Beratungsgespräch über Nationen, die gegen den Wada-Code verstoßen. Aber das Verhältnis zwischen IOC-Chef Bach und Russlands Staatspräsident Putin ist traditionell gut“ (Aumüller, Johannes, Radikale Lösung auf dem Tisch, in SZ 20.6.2016).

Dazu aus  einem Kommentar von Claudio Catuogno in der  SZ: „Im Report der internationalen Kontrolleure, die Russlands Athleten seit November überwachten, steht jede Menge Entlarvendes. Sportler wurden sogar in militärische Sperrgebiete verfrachtet, Inspektoren bekamen keinen Zutritt. Geheimdienstler schüchterten Besucher ein, 736 Dopingtests scheiterten. Sportminister Witali Mutko meinte dazu: ‚Die Kontrolleure müssen uns nur informieren. Aber nicht in letzter Minute.‘ Auch solche Einlassungen offenbaren, wie die Verhältnisse sind. Russland will vorab von den Kontrollen informiert werden. Die Untersuchungskommission will sogar beweisen können, dass Vertuschungsaufträge aus dem Sportministerium ergangen seien. Bei der WM 2013 in Moskau soll das Labor unter staatlicher Regie Dopingfälle ebenso vertuscht haben wie 2014 bei den Winterspielen in Sotschi. Auch der in die USA geflohene Laborchef bestätigt das. (…) Wladimir Putin hat Freund Thomas Bach signalisiert, er erwarte ‚eine Reaktion des IOC'“ (Catuogno 20.6.2016).

21.6.2016

– Wie viele russische Sportler werden ausgeschlossen?
„Über allem aber steht der Betrug bei den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi, als gemäß Aussagen des langjährigen russischen Dopinglaborchefs Grigori Rodschenkow Hunderte Dopingproben ausgetauscht wurden, darunter von mindestens fünfzehn russischen Medaillengewinnern. Die Ergebnislisten der Sotschi-Spiele werden mit großer Sicherheit umgeschrieben. Das Dopingkontrollsystem bei mehr als einem Dutzend olympischer Weltmeisterschaften in den vergangenen Jahren in Russland wird überprüft. An der Spitze des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) scheint sich die Überzeugung durchzusetzen, dass die Nichtzulassung des Nationalen Olympischen Komitees Russlands (ROC) für die Olympischen Sommerspiele im August in Rio de Janeiro die angemessene Antwort auf den staatlich organisierten Sotschi-Skandal wäre. Verantwortlich für den gigantischen Olympiabetrug sind gemäß bisherigen Erkenntnissen das russische Sportministerium, das ROC, die sogenannte Anti-Doping-Agentur Rusada und der Geheimdienst FSB. Sogar der schwer in die Kritik geratene IOC-Vizepräsident Craig Reedie, zugleich Präsident der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada, hat am Montag in London auf einem Symposium für Medienvertreter ‚beispielgebende Entscheidungen‘ angekündigt“ (Weinreich 21.6.2016).

– Athletensprecher fordern energische Sanktionen
„Die Athletensprecher des IOC haben sich schon vor einigen Wochen schriftlich an die Präsidenten von IOC und Wada gewandt und im Namen von tausenden Sportlern eine lückenlose Aufklärung und energische Sanktionen gefordert. Dieser Brief hat im olympischen Binnenklima Wirkung hinterlassen. Die Sportler hätten das Vertrauen in die Führung von IOC und Wada verloren, schrieben Scott und Bokel. Vor dem Olympic Summit in Lausanne wurden die gewählten Athletenvertreter von IOC-Boss Bach nicht in dessen Überlegungen eingeweiht“ (Ebenda).

– Russische Athleten wollen vor dem Cas klagen
„Russlands Leichtathleten wollen gegen ihren Ausschluss von den Olympischen Spielen juristisch vorgehen und Einspruch beim Internationalen Sportgerichtshof einlegen. Das gab der Chef des russischen Olympia-Komitees, Alexander Schukow, am Dienstag bekannt. Der Einspruch werde im Namen aller Athleten eingereicht, die noch nie gegen die Anti-Doping-Regeln verstoßen hätten, sagte Schukow. Der russische Leichtathletikverband werde die Interessen und Rechte aller Athleten schützen, die unschuldig seien und keine verbotenen Substanzen eingenommen hätten. Schukow hoffe, dass das Sportgericht eine objektive, faire und gerechte Entscheidung treffe“ (spiegelonline 21.6.2016).

– Bachs Trick mit dem „Olympic Summit“
„Für den 21. Juni hat IOC-Präsident Thomas Bach zum so genannten Olympic Summit nach Lausanne geladen. (…) Die Agenda legt allerdings der IOC-Präsident fest, der sich, davon gehen die hohen Sportfunktionäre aus, zuvor mit Russlands Präsident Wladimir Putin beraten wird. Bach und Putin sind sich geradezu freundschaftlich verbunden. Putin hat 2013 die Inthronisierung Bachs im IOC unterstützt und am Freitag den IAAF-Bann Russlands scharf kritisiert.  Der Olympic Summit in Lausanne hat keinerlei Beschlussrecht und wird im IOC-Grundgesetz, der Olympischen Charta, nicht einmal erwähnt. Bach hat diese Treffen im Herbst 2013 nach seiner Amtsübernahme eingeführt und legt die bislang wechselnde Teilnehmerschaft selbst fest. Neben einigen Top-Vertretern des IOC, etwa die vier Vizepräsidenten sowie die Athletensprecherin Claudia Bokel (Deutschland), sind stets auch die Präsidenten der Vereinigungen aller Nationalen Olympischen Komitees (NOK) und der Dachorganisationen der olympischen Sportverbände dabei, also beispielsweise Bachs Wahlhelfer Scheich Ahmad Al-Fahad Al-Sabah aus Kuwait. Stammgäste sind zudem die NOK-Präsidenten aus den USA (Larry Probst) und aus Russland (Alexander Schukow). (…) Schukow ist Präsidiumsmitglied in Putins Partei Vereinigtes Russland und stellvertretender Vorsitzender der Duma. Er wurde 2010 nach dem desaströsen Abschneiden Russlands bei den Winterspielen in Vancouver installiert – vier Jahre später belegte Russland Rang eins der Nationenwertung bei den Heimspielen in Sotschi“ (Weinreich 18.6.2016; Hervorhebung WZ).
Dazu Jens Weinreich in spiegelonline: „Die Zusammensetzung dieses Olympic Summits, der in der Olympischen Charta nicht auftaucht und folglich keinerlei Beschlussrecht hat, wurde vom IOC zuvor nicht bekanntgegeben. Aus guten Gründen: Denn mit Ausnahme der IOC-Athletensprecherin Claudia Bokel, die zuletzt mehrfach fundamentale Kritik am Dopingkontrollprogramm sowie der Führung von IOC und Wada geübt hatte, hatte Bach ausnahmslos seine Gefolgsleute geladen. Dazu zählten beispielsweise der Ire Patrick Hickey, der kurz zuvor die europäische Athletenkommission auf Linie gebracht hatte, oder die Präsidenten der Weltverbände der Leichtathletik (IAAF) und des Schwimmens (Fina), Sebastian Coe (Großbritannien) und Julio Maglione (Uruguay). IAAF und Fina haben nachweislich mit den Russen gedealt und nicht nur rund um die Weltmeisterschaften 2013 in Moskau (Leichtathletik) und 2015 in Kazan (Schwimmen) das Dopingkontrollsystem untergraben. (…) Diese handverlesene Runde von 18 Personen (Maglione war telefonisch zugeschaltet) beriet nun also die Frage der Zulassung für die Olympischen Spiele 2016 – und entschied angeblich einstimmig, obwohl der Summit keinerlei Beschlussrecht hat. Bach verkündete anschließend eine sogenannte Deklaration von fünf Punkten. Russland wird demnach in Rio ein Team stellen“ (Weinreich 21.6.2016b). Dazu kam noch der Ire Patrick Hickey, der die European Games 2015 in der Aserbaidschan-Diktatur durchführen ließ, dazu der angeschlagene Leichtathletik-Präsident Sebastian Coe und der zugeschaltete, übel beleumdete Präsident des Welt-Schwimmverbandes, Julio Maglione sowie zwei Vertreter des Staats-Dopinglandes China (Weinreich 21.6.2016b). „Die Zusammensetzung dieses Olympic Summits, der in der Olympischen Charta nicht auftaucht und folglich keinerlei Beschlussrecht hat, wurde vom IOC zuvor nicht bekanntgegeben. Aus guten Gründen: Denn mit Ausnahme der IOC-Athletensprecherin Claudia Bokel, die zuletzt mehrfach fundamentale Kritik am Dopingkontrollprogramm sowie der Führung von IOC und Wada geübt hatte, hatte Bach ausnahmslos seine Gefolgsleute geladen“ (Ebenda).

– Der „Olympic Summit“ beschließt, was er gar nicht darf
Das russische Staats-Dopingsystem mit Hilfe vom Geheimdienst FSB und dem Kreml ist längst Allgemeinwissen. Aber auf seinem selbst gestrickten „Olympic Summit“ lobt IOC-Präsident Thomas Bach die Rolle des russischen Nationalen Olympischen Komitees bei der vermeintlichen Aufklärung.
Dazu aus einer Analyse von Jens Weinreich in spiegelonline: „ROC-Präsident Alexander Schukow, unter dessen Regie Russland in der Medaillenwertung der Winterspiele 2014 in Sotschi einen märchenhaften Sprung auf Rang eins gemacht hatte, saß am Dienstag beim sogenannten Olympic Summit in Lausanne mit Bach im Konferenzraum des Palace Hotels. Und Schukow, offenbar mitverantwortlich für die Manipulation olympischer Dopingproben im Kontrolllabor in Sotschi, klärte nicht etwa auf, sondern attackierte seine Kritiker. (…) Diese handverlesene Runde von 18 Personen (Maglione war telefonisch zugeschaltet) beriet nun also die Frage der Zulassung für die Olympischen Spiele 2016 – und entschied angeblich einstimmig, obwohl der Summit keinerlei Beschlussrecht hat. Bach verkündete anschließend eine sogenannte Deklaration von fünf Punkten. Russland wird demnach in Rio ein Team stellen. Die Sperre des russischen Leichtathletikverbands, ausgesprochen vom Weltverband IAAF, bleibt bestehen. Alle überführten Doper, ihre Trainer, Betreuer und Ärzte, sollen umgehend gesperrt werden. IOC-Präsident Thomas Bach verlor aber kein Wort über die mitverantwortlichen Sportpolitiker wie Sportminister Witali Mutko oder seinen IOC-Kollegen Alexander Schukow. Bach behauptete, er habe in den vergangenen Tagen keinen Kontakt zu Wladimir Putin gehabt. Den Bericht des kanadischen Sonderermittlers Richard McLaren, der sich auf den Betrug des olympischen Kontrollsystems in Sotschi konzentriert, wartet Bach nicht ab. Damit werde man sich später befassen. Irgendwann nach Rio. Am 8. Oktober werde auf dem nächsten Olympic Summit über eine Neustrukturierung des weltweiten Dopingkontrollsystems beraten, 2017 soll die nächste Weltantidopingkonferenz stattfinden.(…) Noch einmal: Dieser Olympic Summit hat gemäß olympischer Charta keinerlei Beschlussrecht. Mit der Deklaration von Lausanne wies die Bach-Gefolgschaft nun aber den Ausweg für Rio. Während die IAAF am Freitag noch erklärte, russische Leichtathleten könnten, wenn sie überzeugend ihre Sauberkeit nachweisen und einer weiteren Überprüfung standhalten, nur unter neutraler Fahne in Rio teilnehmen, sagte Bach am Dienstag: Für Olympia zugelassene Russen starten selbstverständlich unter der Flagge ihres Landes und ihres NOK. Im Grunde wird damit die Olympiateilnahme der Whistleblowerin Julia Stepanowa verhindert“ (Weinreich 21.6.2016b; Hervorhebung WZ).

22.6.2016

– Über Schlupflöcher und juristische Hintertüren
Johannes Aumüller in einem Beitrag in der SZ: „Aus dem Auditorium kam die Frage, ob er in den vergangenen Tagen in einem persönlichen oder telefonischen Kontakt mit Russlands Präsident Wladimir Putin gestanden habe. Bach sagte also: ‚Nein, und diese Spekulation erzeugt eh ein Lachen in meinem Gesicht.‘ (…) Nun bekundete Bach zwar, er respektiere die Entscheidung der IAAF, aber es sei das gute Recht eines jeden, vor den Internationalen Sportgerichtshof (Cas) zu ziehen. Prompt kündigte Alexander Schukow, Chef des russischen olympischen Komitees (NOK), diesen Schritt an, noch während Bach seine Pressekonferenz abhielt. ‚Russische Athleten, die niemals gegen Anti-Doping-Regeln verstoßen haben, werden sich wie der Leichtathletikverband an den Cas wenden, um die eigenen Interessen zu schützen und die Interessen von anderen sauberen Athleten‘, sagte Schukow. Das russische NOK werde diese Klagen unterstützen, ‚um russische Athleten vor einer Diskriminierung zu schützen’“ (Aumüller 22.6.2016).
Wer redet eigentlich von der Diskriminierung sauberer Sportler durch die doping-verseuchten russischen Athleten und Athletinnen?
„Zwar gab es erst kürzlich einen ähnlichen Fall, als der Cas einen kollektiven Olympia-Ausschluss aller bulgarischen Gewichtheber durch deren Weltverband bestätigte. Aber nun bleibt abzuwarten, wie der umstrittene Gerichtshof in Russlands Fall urteilt. Russischen Leichtathleten, die sich außerhalb des eigenen Landes auf Doping testen ließen, will das IOC ohnehin den Olympiastart erlauben. Und wie viele russische Sportler es am Ende dieser sportpolitischen Ränkespiele auch sein mögen – sie dürfen in jedem Fall unter russischer Flagge starten. (…) Bemerkenswert war zudem, dass Bach mehrfach das russische NOK für dessen Hilfe und bedeutende Rolle bei den Untersuchungen der IAAF lobte. Dessen Präsident Schukow ist ein Vertrauter von Staatschef Putin, diente ihm früher als Vize-Premier, und in seiner Funktion als NOK-Boss war er Teilnehmer des ‚Olympic Summit‘. Bachs Interpretation der NOK-Rolle dürfte die Autoren des Leichtathletik-Reports, vorsichtig formuliert, erstaunt haben“ (Ebenda).
Der „Olympic Summit“ – ein Kunstprodukt des Juristen Thomas Bach, das  es laut Olympischer Charta gar nicht gibt und von daher nichts zu entscheiden hat. Immerhin – auf diese aberwitzige Konstruktion muss man erst einmal kommen: Eine juristische Vorbildung ist hier natürlich hilfreich.

Und aus einem Kommentar von Thomas Kistner in der SZ: „Unterm Strich durfte nichts anderes erwartet werden vom Internationalen Olympischen Komitee, dem Dachgremium des modernen Pharmasports. Verblüfft hat nur das Tempo und die Ungeniertheit, in der IOC-Chef Thomas Bach Wochen vor Veröffentlichung eines brisanten Untersuchungsreports des Kanadiers Richard McLaren zu staatlich orchestriertem Doping in Russland die Causa auf Hausmacherart regelte: Schluss! Unter den Teppich damit! (…) Am Dienstag hat der Boss des Olymps den Instrumentenkoffer geöffnet, ein sehr erhellender Sportmoment: Bach legte in seltener Deutlichkeit dar, wie glatt seine Hinterzimmerpolitik funktioniert. (…) ‚Nachweislich saubere‘ Leichtathleten dürfen doch in Rio starten. Nachweislich sauber? Das ist ein Witz, nur zwei Gründe dafür seien kurz genannt: Intensiv gedopt wird ja Monate vor den Spielen, in der heißen Wettkampfvorbereitung. Wer es jetzt noch nicht getan hat, braucht nicht mehr damit anzufangen. (…) Zweitens weiß jeder Betroffene, dass ihm Tests in den Wochen bis Rio blühen. (…). Russische Topathleten werden dabei sein, und das ist nur das eine. Denn was taugte Putins Sportlern selbst eine olympische Generalamnestie plus Dopingfreigabe, wenn ihnen doch das Schlimmste drohte: dass sie unter neutraler, olympischer Flagge starten müssten? Was brächte da das tollste Staatsdoping?  Ruhig Blut. Bachs sportpolitischer Besteckkoffer hat auch hier das Passende: Da ist ja noch Russlands Nationales Olympisches Komitee. Das hat niemals was mitgekriegt und sich all die Zeit so vehement an der Aufklärung beteiligt, dass es nicht gesperrt wurde! (…) Aber klar: Auf den Dreh mit dem russischen NOK war niemand gefasst. Nun lässt sich die Regellage so darstellen, dass ein intaktes NOK seine Sportler unter der Landesflagge starten lassen darf. Bachs armes IOC ist da übrigens machtlos(Kistner 22.6.2016).

23.6.2016

– Russen starten für Russland, basta
„Am Dienstagmittag hatte IOC-Boss Bach nach einem Treffen mit ausgewählten Funktionären der olympischen Welt mal wieder beschworen, wie ernst es mit dem Anti-Doping-Kampf sei. Doch das, was er vortrug, waren eher Belege fürs Gegenteil. Er kam den Interessen des chronisch verseuchten russischen Systems entgegen. Er ignorierte weitgehend, dass Mitte Juli eine von der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) beauftragte Expertengruppe um den Kanadier Richard McLaren einen weiteren Bericht vorlegt, der das Bild des Dopingsumpfes noch deutlich schärfer zeichnen dürfte. Und er schaffte es, den Starthoffnungen der Kronzeugin Stepanowa einen weiteren Schlag zu versetzen. Gemäß Entscheid des Internationalen Leichtathletik-Verbandes (IAAF) sollen Stepanowa sowie andere russische Athleten, die sich zuletzt außerhalb von Russlands marodem Testsystem bewegten, trotz der Suspendierung des nationalen Verbandes in Rio starten dürfen – unter olympischer, also neutraler Flagge. Das Ansinnen korrigierte Bachs Gremium. Russlands Olympisches Komitee (ROK) sei nicht suspendiert, also gebe es für alle Startberechtigten einen Start unter russischem Banner. (…) Gemäß Entscheid des Internationalen Leichtathletik-Verbandes (IAAF) sollen Stepanowa sowie andere russische Athleten, die sich zuletzt außerhalb von Russlands marodem Testsystem bewegten, trotz der Suspendierung des nationalen Verbandes in Rio starten dürfen – unter olympischer, also neutraler Flagge. Das Ansinnen korrigierte Bachs Gremium. Russlands Olympisches Komitee (ROK) sei nicht suspendiert, also gebe es für alle Startberechtigten einen Start unter russischem Banner. Das ist aus Stepanowas Sicht doppelt bedauerlich. Zum einen müsste sie so just im Namen des Landes und des Sportsystems laufen, dessen Dopingpraktik sie aufdeckte – und das sie immer noch als Verräterin sieht. Zudem bräuchte sie eine Nominierung durchs ROK. Und dessen Chef Alexander Schukow, ein alter Vertrauter von Staatschef Wladimir Putin und ausstaffiert mit einem wichtigen Posten in Bachs IOC, stellte klar, dass es die nicht gebe. “ (Aumüller, Kistner 23.5.2016).

– Hajo Seppelt zum Verhältnis IOC und Wada
Der ARD-Dopingexperte Hajo Seppelt hat mit seinen TV-Dokumentationen das russische Staatsdoping aufdecken helfen. Zum Interessenskonflikt in der Sportwelt sagte er: „… was in der Politik mittlerweile als No-Go gilt, ist im Sport immer noch üblich, die totale Vermengung der Interessen: Der Vizepräsident des IOC ist gleichzeitig Präsident der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada. Das ist so, als würde der Chef eines Zigarettenkonzerns gleichzeitig dem Nichtraucherbund vorstehen“ (Dörries, Bernd, Erntezeit, in SZ 23.6.2016).

24.6.2016

– Gewichtheber aus Russland, Weißrussland und Kasachstan gesperrt
„Zumindest einige internationale Fachverbände geben sich in diesen Tagen als Vorreiter im Anti-Doping-Kampf, die es mit dem breitflächigen russischen Manipulationssystem aufnehmen. Zunächst schloss der Leichtathletik-Weltverband Russland von den Sommerspielen in Rio de Janeiro aus. Und nun will dem auch der Vorstand der Internationalen Gewichtheber-Föderation (IWF) folgen. Sie kündigte eine einjährige Sperre für Russland sowie Kasachstan und Weißrussland an – ein Olympia-Start von Athleten aus diesen drei Ländern wäre nicht mehr möglich. (…) Die Gewichtheber versuchen seit einiger Zeit, in ihrer traditionell chronisch verseuchten Sportart aufzuräumen. Schon im vergangenen Jahr schlossen sie den bulgarischen Verband wegen zu vieler Dopingfälle für Rio aus und erhielten das Plazet für diese Sperre durch ein Urteil des Internationalen Sportgerichtshofes (Cas). Aufgrund von Dopingfällen in der olympischen Qualifikationsphase entzog die IWF zudem verschiedenen Verbänden Quoten-Startplätze für die Sommerspiele“ (Aumüller 24.6.2016). Der Ausschluss der Gewichtheber aus Russland, Weißrussland und Kasachstan erfolgte aufgrund von Nachproben Peking 2008 und London 2012.  „… 54 davon fielen positiv aus. Besonders häufig waren Gewichtheber betroffen. Daher entschied sich nun die IWF, alle Nationen mit drei oder mehr Befunden in diesen Nachtests zu sanktionieren – und darunter fielen Kasachstan, Russland und Weißrussland. Die Verantwortlichen in Moskau reagierten erbost über das Urteil gegen ihre ‚Stangisty‘, wie die Heber auf Russisch so schön heißen. Sportminister Witalij Mutko sagte, es gebe hier eine ‚Psychose‘ und eine Anordnung, die sich außerhalb der Rechts-Prinzipien und -Normen bewege. (…) Eine andere Möglichkeit ist, dass sich in den Disziplinarverfahren beim IOC (oder eventuell danach beim Cas) auch noch die Zahl der Sünder von damals reduziert. Sollten aus Russland, Kasachstan oder Weißrussland dann weniger als drei Athleten übrig bleiben, würde der jeweilige Verband der Kollektiv-Strafe entgehen“ (Ebenda).

25.6.2016

In der SZ listen Johannes Aumüller und Thomas Kistner (Der Sumpf und seine Untiefen, SZ 25.6.2016) die wichtigsten Fragen auf, in Auszügen u. a.:
Wie viele Russen gehen bei den Spielen in Rio (5. – 21. August) an den Start? – Das ist unklar. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) unter Regie von Thomas Bach verzichtete trotz des Dopingsumpfs darauf, die komplette Mannschaft auszuschließen. Russlands Zuständige nominieren ihren endgültigen Kader erst am 21./22. Juli.“
Wer könnte fehlen? – Aufgrund nachgewiesener Dopingvergehen sind aus den olympischen Sportarten derzeit knapp 100 Russinnen und Russen gesperrt. Der Leichtathletik-Weltverband beschloss den quasi kollektiven Ausschluss der Russen. (…) Eingedenk der russischen Einflüsse in vielen Föderationen und der sportpolitischen Realität ist kaum anzunehmen, dass viele Ausschlüsse erfolgen.“
Wie steht es um den Kollektiv-Ausschluss der russischen Leichtathleten? – Die Sanktion ist aktuelle Beschlusslage des Leichtathletik-Weltverbands IAAF. Es gibt aber zwei dicke Fragezeichen. Zum einen wendet sich Russland an den obersten Sportgerichtshof (Cas). (…) Zweitens lässt die IAAF eine Ausnahme zu: Russische Athleten, die sich zuletzt außerhalb des nationalen Testsystems bewegten und weitere Kriterien erfüllen, dürfen starten. Am Donnerstag veröffentlichte die IAAF ihre Vorgaben: Einige sind schwammig formuliert.“
Unter welcher Fahne starten die zugelassenen russischen Leichtathleten in Rio? – Definitiv unter russischer. Die IAAF verfügte zunächst einen Start unter neutraler Flagge. Das IOC korrigierte das – über den Dreh, dass zwar Russlands Leichtathletik-Verband, aber nicht Russlands nationales Olympisches Komitee (ROK) gesperrt sei. Für Russlands Führung um Staatschef Wladimir Putin dürfte das ein zentraler Punkt sein: Russische Athleten, die unter neutraler Flagge Medaillen abräumen, wirken nach innen kontraproduktiv.“
Wäre ein Kollektiv-Ausschluss der Athleten gerechtfertigt? – Ja. Das sagte sogar der Cas jüngst in einem ähnlich gelagerten Fall. Der Weltverband der Gewichtheber disqualifizierte Bulgariens Verband, der Sportgerichtshof bestätigte das. Auch verweisen viele Leichtathleten aus anderen Ländern darauf, wie ungerecht es über all die Jahre war bzw. die Vorstellung fortan sei, gegen Athleten eines offenkundig chronisch dopingverseuchten Landes antreten zu müssen. Überdies ist nicht gerecht, dass nur Athleten die Opfer sind – und die beteiligten Funktionäre davonkommen.“ Aumüller und Kistner benennen die Rolle des russischen Sportminister Witalij Mutko, dessen Ministerium aktiv an der Dopingvertuschung beteiligt war. IAAF-Boss Sebastian Coe hat eine Mail mit Hinweisen auf das russische Staats-Doping direkt an Russland weitergeleitet. Und Craig Reedie, der Chef der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada, ist gleichzeitig Vize-Präsident des IOC – und ein Garant, dass die Wada ständig versagt.
Zur Rolle des IOC schreiben Aumüller und Kistner: „Realistisch aber gibt es bei den Spielen keine wichtige sportpolitische Entscheidung gegen den Willen des IOC. Schließlich ist es Besitzer der Spiele. (…) Durch die aktuellen Entscheidungen zieht sich ein roter Faden: Das IOC kommt Moskaus Interessen entgegen. Bei der Ablehnung eines Komplett-Ausschlusses des russischen Teams. In der Frage, unter welcher Flagge Russlands Leichtathleten starten. Oder im Fall Julia Stepanowa, für die das IOC noch keine klare Startzusage gibt. Nicht unwahrscheinlich ist folgendes Szenario: Russland bringt das Ausschlussverdikt des Sports über den Cas zu Fall; schon jetzt deuten sich Schwachstellen an. Und Stepanowas Start wird an Regeln scheitern, die sich finden lassen. Ihr Start würde die Spiele für die Öffentlichkeit ohnehin zu ‚Stepanowa-Spielen‘ machen – solche Themen schätzt das IOC gar nicht.“

27.6.2016

– Russische Tricksereien
In der SZ stellte Thomas Kistner „sportpolitische Krisenarbeit hinter den Kulissen“ fest: „In offenkundig guter informeller Abstimmung orchestrieren russische und olympische Sportfunktionären die ersten Schritte Richtung Rio. Am Sonntag bereits wollten 67 Leichtathleten ‚individuell‘ ihre Teilnahmegesuche für Olympia bei der IAAF einreichen, das hat Witalij Mutko im russischen Fernsehen angekündigt“ (Kistner, Thomas, Diskrete Deals am Nadelöhr, in SZ 27.6.2016). Das IAAF-Kriterium für zuzulassende Sportler – außerhalb Russlands dopingverseuchtem Sportsystem und innerhalb einer Dopingkontrolle – trifft für Kistner nur für zwei Sportler zu: für die Weitspringerin Darja Klischina und die Whistleblowerin Julia Stepanowa. Letztere wird, da sie das russische Staatsdoping aufgedeckt hat, aufgrund des Drucks aus Russland sicher nicht zum Start zugelassen (Ebenda).
Russlands Sportminister Witalij Mutko hat seinen Rückzug angeboten für den Fall, dass es zu einem kompletten Ausschluss seiner Mannschaft in Rio käme. „Allerdings reichen die vorliegenden Sachverhalte längst aus, um Mutko und seinen behördlichen Mitstreitern ein zumindest massives Mitwissen zu bescheinigen. Und am 15. Juli wird überdies ein unabhängiger Ermittlungsreport veröffentlicht, den die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada bei dem kanadischen Sportrechtler Richard McLaren in Auftrag gab – und der explizit über ein staatliches Mittun in der russischen Doping-Malaise Auskunft geben soll. (…) Das IOC hatte am Dienstag in größter Hast – rechtzeitig vor der Publikation des brisanten McLaren-Reports – Einzelfallprüfungen für andere belastete Sportarten verfügt. Auch dort wollen Russen starten, und bekannt sind schon systemische Probleme quer durch die Disziplinen, vom Schwimmen bis zum Gewichtheben. Das dürfte erneut sehr unangenehm werden. Aber mit der frommen Einzelfallprüfung ist ein Komplettausschluss vom Tisch; Mutko muss das Büro nicht räumen. Alles wirkt strategisch raffiniert eingespielt; offen bleibt wohl nur die Frage, ob auch Mutkos Leichtathleten die Kurve nach Rio noch kriegen. Sobald die IAAF die russische Antragsflut abgewiesen hat, wird diese zum obersten Sportgerichtshof Cas umgeleitet. Auf den konnte sich die olympische Funktionärswelt bisher eigentlich stets verlassen“ (Ebenda).

28.6.2016

– Praktisch: Russen im Cas-Icas
„Russlands kollektiv gesperrte Leichtathleten suchen einen Umweg zu den Olympischen Spielen – und wollen ihn am Internationalen Sportgerichtshof (Cas) finden. Und wer die aktuellen Winkelzüge der Sportpolitik beobachtet, kann zum Schluss kommen, dass die Chancen ordentlich stehen. Es darf nicht überraschen, dass Russlands Verantwortliche offenbar schon die passende Strategie haben, wie sie ihre Leute noch nach Rio lotsen können“ (Aumüller 28.6.2016). Nach der IAAF-Definition der „ausreichenden Zeit“ außerhalb des russischen Staats-Dopingsystems blieben wohl nur Weitspringerin Darja Klischina und Kronzeugin Julia Stepanowa übrig. „Die Russen wiederum konnten zuletzt das Gefühl gewinnen, dass sie in ihrem Kampf wichtige Mitstreiter haben, vorneweg die Spitze des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) um Thomas Bach“ (Ebenda). Im Fall des Weltverbandes der Gewichtheber hat der Cas die Athleten Bulgariens kollektiv sanktioniert. „Der Cas, der ohnehin mit dem Ruch der sportpolitischen Abhängigkeit ringt, könnte da kaum eine andere Entscheidung treffen als zu Jahresbeginn. Es empfiehlt sich eine andere Prozess-Strategie. Und so wenden sich die Russen nicht gegen den Kollektiv-Bann, wie Alexandra Brilliantowa, Leiterin der juristischen Abteilung des Russischen Olympischen Komitees (ROK), dem Sport-Express mitteilte. Vielmehr wollen sie die Kriterien der IAAF für die individuelle Prüfung angreifen, die nun gleich 67 russische Athleten beantragen möchten. ‚In ihrer jetzigen Form fordern sie von unseren Athleten faktisch, das Land zu verlassen. Das verstößt gegen alle juristischen Prinzipien und Menschenrechte‘, sagt Brilliantowa. (…) Die Stichhaltigkeit von Brilliantowas Argumentation sei dahingestellt. Den Russen gelingt es damit jedenfalls, die Parallele zum bulgarischen Fall zu vermeiden. Das ist das Entscheidende: Der Zugang ist ein anderer und der Cas freier in der Urteilsfindung. Wie objektiv der oberste Sportgerichtshof urteilt, ist ohnehin eine viel diskutierte Frage. Zwei deutsche Gerichte – das Münchner Land- und Oberlandesgericht – erklärten in der Doping-Causa Claudia Pechstein, dass dies nicht der Fall sei, bevor der Bundesgerichtshof den Cas mit teils erstaunlichen Argumenten für hinreichend neutral und unabhängig erklärte. Der konkrete Fall könnte ein Härtetest für diese Auffassung werden. Hier offenbaren sich die Schwachstellen besonders. Brilliantowa hat nämlich in der olympischen Welt einen schönen Nebenjob: Die ROK-Juristin gehört selbst dem Icas an, dem wichtigsten Gremium der globalen Sportjustiz. In diese 20er-Runde entsenden vor allem das IOC und die Verbände Vertreter. Der Icas wählt den Cas-Präsidenten und die Kammer-Vorsitzenden (Ordinary und Appeal). …) Russlands Strategen haben noch ein zweites Eisen im Feuer. Falls das Lausanner Sportgericht die allgemeine Klage des ROK gegen die IAAF-Kriterien ablehnt, bleibt den Athleten immer noch der individuelle Zugang zum Sportrecht. Und zehn Tage vor Rio öffnen die sogenannte Ad-hoc-Schiedsgerichte. Da werden Urteile gern auch über Nacht gefällt – die meisten Athleten haben ja nur einmal im Leben die Chance, an den Spielen teilzunehmen“ (Ebenda).

1.7.2016

– Stepanowa darf – zunächst – teilnehmen
„Whistleblowerin Julia Stepanowa darf bei den Leichtathletik-Europameisterschaften in Amsterdam (6. bis 10. Juli) als neutrale Athletin an den Start gehen. Die Kronzeugin des russischen Dopingskandals erhielt vom Weltverband IAAF die Starterlaubnis und kann nun auch auf eine Teilnahme an den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro hoffen. (…) Insgesamt hätten mehr als 80 russische Athleten den Antrag gestellt, unter der Regel 22.1A(c), die auch für Stepanowa greift, an den Start gehen zu dürfen. Weitere Entscheidungen stehen aber noch aus“ (spiegelonline 1.7.2016).

2.7.2016

– Stepanowa schon bei EM in Amsterdam dabei
Am 1.7.2016 teilte die IAAF mit, dass die russische 800-Meter-Läuferin und Whistleblowerin Julia Stepanowa als  „neutrale Athletin“ bei der Europameisterschaft 2016 im Juli in Amsterdam starten darf – unter europäischer Flagge. „Stepanowa trainierte im Exil, gliederte sich wieder ins Anti-Doping-Testprogramm ein, nach monatelangem Gezerre verkündete die IAAF vor zwei Wochen schließlich: Russlands Verband bleibt gesperrt, auch für Rio, zu tief wurzele der Betrug. Ausnahmen werde man nur russischen Athleten gestatten, die zuletzt im Ausland gelebt haben. Und Kronzeugen wie Stepanowa. Ein Anti-Doping-Komitee der IAAF prüft seitdem, wer diese Hintertüren nutzen darf, Stepanowa war am Freitag die Erste, die hindurchgewunken wurde. Hinter ihr warten derzeit noch ‚mehr als 80 russische Athleten‘, um von den Ausnahmeregelungen zu profitieren, teilte die IAAF am Freitag mit. Die meisten dürften die strengen Auflagen nicht erfüllen“ (Knuth, Johannes, Neustart in Amsterdam, in SZ 2.7.2016). – Stepanowa „war ja von jenem russischen Kollektivbann belegt, den sie in ihren Berichten erwirkt hatte“ (Ebenda). IOC-Präsident Thomas Bach, eng liiert mit  dem russischen Staatssport, „verfügte zunächst, dass russische Athleten in Rio unter der Obhut des russischen olympischen Komitees (ROC) starten sollen, nicht unter neutralem Banner, wie von der IAAF erwirkt. Es war ein verstecktes Manöver gegen Stepanowa, das ROC würde sie ja niemals nominieren. Am Donnerstag verwies Bach dann noch einmal auf das komplizierte Regelwerk. Dabei hätte er sich als olympischer Hausherr längst für einen Start Stepanowas positionieren können, wie jetzt die Europäer. Die finale Entscheidung fällt Mitte Juli“ (Ebenda).

5.7.2016

Cas entscheidet spätestens am 21.7.2016
„Der Internationale Sportgerichtshof Cas hat am Montag offiziell sein Schiedsgerichtsverfahren zum Ausschluss aller russischen Leichtathleten von den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro eröffnet. (…) Insgesamt 68 russische Leichtathleten sowie das Nationale Olympische Komitee des Landes hatten den Internationalen Sportgerichtshof in Lausanne als letzte Instanz angerufen, um gegen die drakonische Strafe des Leichtathletik-Weltverbandes IAAF vorzugehen und ihren Ausschluss von den Sommerspielen in Rio doch noch zu verhindern“ (DPA 5.7.2016a).

– Russland: Rodschenkow ist allein schuld
Der frühere Leiter des Moskauer Doping-Kontrolllabors, Grigori Rodschenkow, habe „am systematischen Doping russischer Athleten nicht nur mitgewirkt, sondern dieses auch maßgeblich vorangetrieben, sagte Wladimir Markin, Sprecher der russischen Ermittlungsbehörde, am Montag in Moskau. ‚Es besteht Grund zu der Annahme, dass Rodschenkow nicht nur Vollstrecker, sondern auch Autor und Organisator von einer ganzen Reihe solcher Abläufe war‘, teilte Markin mit“ (DPA 5.7.2016b).
Was gegen die Einzeltäter-Hypothese des Kreml spricht: Warum half dann der FSB auf Weisung des Kreml, die Urinproben auszutauschen?

8.7.2016

– Stepanowa startete bei Leichtathletik-EM in Amsterdam
Der europäische Leichtathletikverband EAA hatte Julia Stepanowa nach Amsterdam eingeladen: Sie kam ohne Ehemann und Kind, da sie vor dem Auftritt bedroht worden war. „Derzeit frisst sich das Klima eines kalten Sportkriegs in die Szene, hier manche Verbände, dort Russland, das sich als Opfer einer westlichen Verschwörung wähnt und keine Verantwortung übernimmt für sein (durch mehrere Untersuchungsberichte belegtes) Systemdoping. Und letztlich ist Russlands kontaminierte Leichtathletik nur ein Patient von vielen. Es gibt gute Ansätze im Sport, neue Ermittlungseinheiten, Plattformen für Kronzeugen, aber noch steht die Anti-Doping-Politik der Verbände wie ein halb fertiges Gebäude in der Landschaft, von dem man nicht weiß, ob es je fertig wird. Wie ernst der Sport die Betrugsbekämpfung nimmt, wird man schon sehr bald bezeugen können: Nach SZ-Informationen rollen noch während der EM neue Enthüllungen auf die Leichtathletik zu, nicht nur aus Russland“ (Knuth 8.7.2016).

14.7.2016

– US-Anti-Doping-Agentur Usada besteht auf Ausschluss Russlands
„Für den Chef der US-Anti-Doping-Agentur Usada, Travis Tygart, wäre der Ausschluss Russlands von den Olympischen Spielen in Rio die einzige logische Folge, sollte die Beweislage im neuen Wada-Report ebenso erdrückend sein wie vor der Komplett-Suspendierung der russischen Leichtathleten. ‚Sollte sich das alles bewahrheiten und es hat eine absichtliche Subversion des Systems durch die russische Regierung gegeben, kann die einzige Konsequenz nur sein, dass sie nicht unter ihrer Landesflagge an diesen Olympischen Spielen teilnehmen können‘ . (…) Grigori Rodschenkow, der Ex-Chef des russischen Doping-Kontrolllabors hatte behauptet, dass er 2014 in Sotschi positive Dopingproben russischer Athleten mit der Anti-Doping-Agentur Rusada sowie dem Geheimdienst auf Anordnung vom Staat vertuscht habe. 15 der russischen Medaillengewinner in Sotschi seien gedopt gewesen. Russland hatte die Vorwürfe zurückgewiesen. Würden die Ermittlungsergebnisse durch den Gesamtbericht von McLaren bestätigt, würde dies nach Überzeugung von Tygart ‚ein beispielloses Niveau der Kriminalität‘ bedeuten“ (DPA, Tygarts Forderungen, in SZ 14.7.2016).
Dazu aus  einem Kommentar von Thomas Kistner in der SZ: „Das IOC unter dem treuen Putin-Freu

Jun 162016
 
Zuletzt geändert am 07.10.2017 @ 16:10

16.6.2016, aktualisiert 7.10.2017

Zur Definition
– „Mit dem Begriff ‚Hooligans‘ werden meist junge Männer bezeichnet, die sich in Gruppen im Umfeld von Fußballspielen oder anderen Großereignissen Schlägereien mit rivalisierenden Gruppen oder auch mit Sicherheitskräften wie der Polizei liefern. (…) Die Hooligan-Bewegung stammt ursprünglich aus England und hat sich schnell ausgebreitet. In den 1950er und 1960er Jahren war dieses Rowdytum in Großbritannien auch bei Tanzveranstaltungen in Großstädten weit verbreitet. (…) Wie der Name zur Bezeichnung für Rowdys wurde, gilt als ungesichert. Häufig genannt wird eine fiktive irische Familie namens O’Hoolihan, die aufgrund ihrer Gewalttätigkeit Ende des 19. Jahrhunderts in einem Lied der britischen Music Halls sowie als ein Charakter von Cartoons bedacht wurde. (…) Das Phänomen des Hooliganismus wurde zunächst sozialstrukturell untersucht, wonach sich Jugendliche aus unteren sozialen Schichten früher und stärker an gleichaltrigen Gruppen orientieren. Demnach neigten sie, bedingt durch den erhöhten Druck, zur aggressiven Selbstbehauptung sowie kollektiver Abgrenzung zu anderen Gruppierungen“ (Wikipedia)
– „Hooligans entstammen allen sozialen Schichten. Sie sind vernetzt, mobil, beruflich integriert und außerhalb ihrer Gewaltexzesse Meister der Unauffälligkeit. Ihr Kampf ist roh und direkt. Gesucht wird die Auseinandersetzung Mann gegen Mann, aber stets in der Gruppe. (…) Das Ausmaß der Gewalt wird nicht durch die Verletzungen des Gegners bestimmt, sondern durch Energie und Wut des Angreifers. Die Schlachten, die Hooligans schlagen, sind nie endgültig entschieden. Es kämpfen Gruppen gegeneinander, aber Sieg und Niederlage sind nicht von Dauer. Man trifft sich, wo man Gegner findet; in der Nachbarstadt, im Nachbarland. (…) Von normalen Fußballfans und Ultras unterscheiden sich Hooligans durch ihr geringes Interesse für Vereinssport. Fußball war nie Voraussetzung für Hooliganismus, sondern immer nur Gelegenheit: Spiele an Wochenenden, unübersichtliche Menschenansammlungen, Polizei. (…) Während die Spieler auf dem Rasen um den Sieg kämpfen, bekriegen sich Hooligans auf der Tribüne und vor dem Stadion. Besonderen Nachrichtenwert haben die Exzesse der Hooligans, wenn nicht andere Hooligans, sondern Polizisten, Ordner, Fußballfans oder Touristen angegriffen oder verletzt werden. Hooligans werden dann als Gefahr wahrgenommen, die jeden treffen kann“ (Hedde, Jan, Spaßgesellschaft und Stahlgewitter, in spiegelonline 3.7.2016).

Das Folgende ist eine kleine chronologische Presseschau aus der Süddeutschen Zeitung und von Spiegelonline über die vor allem von russischen Hooligans provozierten Ereignisse um die Fußball-EM 2016 in Frankreich.

– Intro: Die Fußball-EM 2012 in Polen und der Ukraine
„Bei Russland handelt es sich um einen Wiederholungstäter: Schon bei der EM 2012 in Polen und der Ukraine waren Fans negativ aufgefallen. Damals  gab es  eine Geldstrafe über 120.000 Euro und die Drohung, in der Qualifikation für die WM 2016 sechs Punkte abzuziehen – dazu kam es aber nicht“ (Aumüller, Johannes, Attacke auf den Nachbarblock, in SZ 13.6.2016).

13.6.2016
Militante russische Hooligans stürmen am 11.6.2016 nach dem Spiel England-Russland (Spielstand 1:1) den englischen Block und verprügeln brutal englische Fans. Der Chef der russischen Fan-Vereinigung, Alexander Schprygin, kommentierte in sozialen Netzwerken: „Der 11. Juni, ein hervorragender Tag“ (Aumüller, Johannes, Attacke auf den Nachbarblock, in SZ 13.6.2016). Der russische Sportminister Witalij Mutko (auch Präsident des nationalen Fußballverbandes und Mitglied im Exekutivkomitee der Fifa) kritisierte die französischen Organisatoren und  fragte öffentlich: „Was hat die WM 2018 (in Russland; WZ) damit zu tun?“ (Ebenda).  – „Aber gegen die Klarheit der vielen Bilder konnte selbst Mutko nicht mehr viel ausrichten…“ (Ebenda). – „Es ist ein Kampf um Leben und Tod, immer wieder. Denn immer wieder zeigt das französische Fernsehen am Sonntag dasselbe Video, dieselbe Szene: Ein Polizist der CRS, der ‚Sicherheitskompanien der Republik‘, beugt sich über den Leib eines ohnmächtigen Fans. Schemenhaft ist das rote, geschwollene Gesicht des kahlen Mannes auf dem Pflaster am Alten Hafen von Marseille zu erkennen. (Ebenda)
„Auch die zahllosen Videos, die nun im Internet kursieren, erzählen eine andere Geschichte. Da ist zu sehen, wie am sonnigen Samstagnachmittag, so gegen 16.30 Uhr, auf dem Quai de Rive-Neuve zwei Menschenhorden Flaschen und Steine aufeinander schleudern. Die einen wirken paramilitärisch gut organisiert, tragen pechschwarze T-Shirts und stammen aus Russland, die anderen haben das weiße Trikot der englischen Nationalmannschaft angezogen oder sind halb nackt und grölen: ‚Fuck you, Europe!‘ Per Video ist ebenso dokumentiert, wie später auf einer Straßentreppe ein Hooligan einem anderen einen Klappstuhl auf den Kopf schlägt (und das Möbel dabei zertrümmert). (…) Und verewigt sind auch die Jagdszenen, die sich 300 Meter weiter nach 18 Uhr an der Place Général de Gaulle abspielten. Hier kämpfte jeder gegen jeden: Briten, Russen und obendrein französische Schlägertrupps, darunter offenbar jene berüchtigten ‚Ultras‘, die bei den Heimspielen von ‚Olympique de Marseille‘ die Fans der Gastmannschaft einschüchtern. Auf einem Video ist ein Mann zu erkennen, der zwischen Schlägern zu schlichten versucht. Plötzlich taucht aus Schwaden von Tränengas ein bulliger Kerl in Shorts und blauer Jacke auf, der den Passanten mit einem linken Haken niederschlägt. Einfach so. Es fliegen Steine, Polizeisirenen tönen, der Mann bleibt regungslos im Staub zurück. (…) Antoine Brandet ist Chef der staatlichen Sonderdivision zur Bekämpfung von Hooligans (DNLH). Er „verweist darauf, dass die britische Regierung 3254 Hooligans vorsorglich die Reisepässe entzogen hatte. Dass dennoch Hunderte Hooligans aus Großbritannien und Russland in Marseille Bürgerkrieg spielen konnten, liege in der Verantwortung von London und Moskau: ‚Das waren wohl Leute, die die Geheimdienste der Herkunftsländer nicht kannten‘. (…) Aber Paris wusste, dass allen voran die Fans aus England und Russland, aus Polen und der Türkei Probleme machen wollten. Deshalb hatte man ja die samstägliche Partie im ‚Stade Vélodrome‘ als eines von fünf ‚Risikospielen‘ eingestuft. Dennoch gelang nach dem Schlusspfiff einem Mob russischer Fans, in für Engländer reservierte Stadionblöcke vorzudringen. Die Uefa kündigte am Sonntag an, sie wolle zumindest aus dieser Panne von Marseille Lehren ziehen und das Sicherheitspersonal aufstocken“ (Wernicke, Christian, Blutiger Asphalt, in SZ 13.6.2016).
Vor der DFB-Partie griffen fünfzig deutsche Hooligans mehrere ukrainische Fans an: Es gab zwei Verletzte (DPA, Zwei Verletzte, in SZ 13.6.2016).

– Das Uefa-Weltbild zeigte: nichts
ARD und ZDF haben sich über die Auswahl der TV-Bilder durch die Europäische Fußball-Union (Uefa) bei der EM beschwert. „Natürlich haben wir die Erwartung, dass – auch angesichts der brisanten gesellschaftspolitischen Lage – alle relevanten Szenen im Weltsignal der Uefa enthalten sind“, sagte ZDF-Sportchef Dieter Gruschwitz dem Sport-Informations-Dienst: ‚Diese Erwartungshaltung haben wir auch klar formuliert.‘ Auch die ARD wurde aktiv. ‚Wir haben die Uefa aufgefordert, uns solche Bilder kurzfristig zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus werden wir alles daransetzen, derartige Vorfälle mit eigenen Teams und Kameras zu dokumentieren – wie es uns am Samstag ja auch gelungen ist‘, sagte ARD-Teamchef Jörg Schönenborn. (…) Als es am Samstag nach dem Spiel zwischen England und Russland auf den Tribünen des Stade Velodrome in Marseille zu Ausschreitungen kam, war im deutschen Fernsehen fast nichts zu davon zu sehen, weil die Uefa in ihrem TV-Live-Signal grundsätzlich keine ‚brenzligen‘ Szenen zeigt. Dazu gehören auch Flitzer und das Abbrennen von Pyrotechnik“ (SID, DPA, ARD und ZDF beschweren sich, in SZ 14.6.2016).

– Exkurs: Die Uefa-Bilder von der Fußball-EM 2016 in Frankreich
Bei Sport-Großereignissen von Fifa, Uefa und IOC ist es durchaus Standard, dass die Sportkonzerne  auch die TV-Bilder liefern, die dazu zeitversetzt gesendet werden, um Proteste, Demonstrationen etc. ausblenden zu können. (Vergleiche im Kritischen Olympischen Lexikon: Host Broadcasting Service; Weltbild von Fifa/Uefa).
Bei der EM 2016 gab es z. B. beim Spiel England gegen Russland zahlreiche Krawalle: Etwa 150 bestens trainierte russische Hooligans verfolgten die britischen Fans. Diese brutalen Szenen wurden nicht von der Uefa-Bildführung gezeigt. „Was davon gesendet, was weggelassen wird, müssen die Medien beantworten. Das führt zu sehr unterschiedlichen Präsentationen, kurz hintereinander, auf dem selben Kanal. Denn wenn Fußball gespielt wird, sind die übertragenden Sender auf die Bilder der Weltregie im Auftrag des Europäischen Fußball-Verbandes (Uefa) angewiesen. Die Weltregie musste sich schon bei früheren Turnieren den Vorwurf der Zensur gefallen lassen. Am Samstagabend unterließ sie es, die russischen Fans in Marseille dabei zu verfolgen, wie sie in den englischen Block stürmten. Stattdessen legten die Öffentlich-Rechtlichen einen Zahn zu. Eingerahmt wurden jene Uefa-Szenen aus einer vermeintlich bunten Stadionwelt von den diversen Nachrichtensendungen. Und bei ARD und ZDF hatte man sich offenbar dazu entschlossen, dieses Mal ganz nah ran und voll drauf zu halten. Wann wurde je zuvor Reality-TV so authentisch umgesetzt und ein Mordversuch derart scharf ins Bild gerückt? Immer wieder wurden zu kinderfreundlichen Nachrichtenzeiten jene Szenen wiederholt, in denen die Stühle ins Kreuz flogen und ein Irrer mit Hut einem am Boden Liegenden mehrmals auf den Kopf trat“ (Hoeltzenbein, Klaus, Freigegeben frühestens ab 18, in SZ 13.6.2016). – „Die Europäische Fußball-Union Uefa hat im Streit mit ARD und ZDF die Zensur-Vorwürfe zurückgewiesen. In Gesprächen mit den deutschen TV-Anstalten habe die Uefa erneut auf die Möglichkeit verwiesen, dass jeder nationale Rechteinhaber mehrere eigene Kameras in den Stadien aufstellen dürfe. Diese könnten zeigen, was immer gewünscht wird. Die Diskussion war am vergangenen Samstag nach Krawallen nach dem EM-Spiel der Russen gegen England im Stade Velodrome von Marseille aufgekommen, die im Weltsignal der Uefa nicht enthalten waren“ (SID, DPA, Uefa widerspricht, in SZ 16.6.2016).

14.6.2016
– Deutsche Hooligans in Berlin
Auf der Berliner Fanmeile wurde beim Spiel Deutschland gegen die Ukraine wiederholt der Hitlergruß gezeigt. „Die Gruppe habe ‚Lügenpresse, Lügenpresse‘ gerufen und die erste Strophe des Deutschlandliedes gesungen. (…) Udo Wolf, Fraktionsvorsitzender der Partei Die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus, kritisierte, dass die Polizei  erst nach Presseberichten und Anzeigen Ermittlungen aufgenommen habe“ (DPA, Ermittlungen in Berlin, in SZ 14.6.20156).

– Deutsche Hooligans gestoppt
„Doch Schlimmeres hat wohl auch die deutsche Bundespolizei verhindert. Bei verstärkten Kontrollen hat sie in Rheinland-Pfalz insgesamt 21 Hooligans gestoppt. Zunächst eine 18-köpfige Gruppe einschlägig bekannter Gewalttäter aus Dresden: Die Männer seien in drei Kleinbussen unterwegs gewesen, hieß es, unter anderem mit Sturmhauben im Gepäck. Dann wurden noch drei Hooligans aus Kaiserslautern an der Ausreise gehindert“ (Catuogno, Claudio, Bleibende Schäden, in SZ 14.6.2016).

– Französische Behörden greifen durch
„Die französische Staatsanwaltschaft beantragte Haftstrafen und ein Einreiseverbot für sechs Briten, drei Franzosen und einen Österreicher. Nicht auf der Anklagebank: Etwa 150  russische Hooligans, die ‚extrem trainiert‘ angereist waren, wie Staatsanwalt Brice Robin ausführte: ‚Sie sind gekommen, um sich zu schlagen‘. Die Polizei konnte keinen von ihnen festnehmen. Noch aber laufen die Ermittlungen. Es werden Videoaufnahmen ausgewertet, um die Gewalttäter doch noch zu identifizieren. (…) Insgesamt waren 20 mutmaßliche Randalierer festgenommen worden. 35 Menschen wurden verletzt, vier davon schwer. Ein Engländer schwebte am Montagnachmittag weiter in Lebensgefahr. Er sei von einer Eisenstange ‚wahrscheinlich am Kopf‘ getroffen worden, berichtete die Nachrichtenagentur AFP. (…) Diese (gewalttätigen russischen Fans; WZ) werden vom russischen Parlaments-Vizepräsidenten Igor Lebedew sogar verteidigt: ‚Ich kann nichts Schlimmes an kämpfenden Fans finden. Im Gegenteil, gut gemacht Jungs. Weiter so!‘, schrieb der Politiker der nationalistischen Liberaldemokraten im Kurznachrichtendienst Twitter. Lebedew ist zudem Vorstandsmitglied des russischen Fußball-Verbandes. Er verstehe Politiker und Funktionäre nicht, die die Fans kritisieren: ‚Wir sollten sie verteidigen, und dann können wir es klären, wenn sie nach Hause kommen.‘ (…) Wieso die Fan-Gewalt sich in Frankreich nun so breit Bahn bricht? Eine Theorie besagt, dass die gewaltbereiten Fußball-Fans die letzte Gelegenheit nutzen wollen. Bei den WM-Turnieren 2018 in Russland und 2022 in Katar wird mit einem rigiden Eingreifen der jeweiligen Staatsmacht gerechnet, die EM 2018 findet auf 13 Ländern verteilt statt. Fan-Forscher Lange aber widerspricht. Er prophezeit, Fußball-Hooligans werde es noch lange geben: ‚Die werden auch bei der gesplitteten EM in solchen Phänomen auftauchen. Man spricht sich dann ab und reist in kleiner Gruppe gemeinsam an und übt dann größere und kleinere Gewaltexzesse aus'“ („Sie sind gekommen, um sich zu schlagen“, in SZ 14.6.2016).

Uefa diszipliniert Russland
Die Disziplinarkommission der Uefa hat EM-Teilnehmer Russland für die Fanausschreitungen im Stadion von Marseille hart bestraft. Im Wiederholungsfall wird die Mannschaft sofort aus dem Turnier ausgeschlossen, zudem wurde eine Geldstrafe von 150.000 Euro verhängt, wie die Uefa in Paris mitteilte. (…) Russland wird gegen die Strafe keinen Einspruch einlegen. ‚Wir warten auf die offizielle Mitteilung und werden die Entscheidung akzeptieren‘, sagte Sportminister Witalij Mutko der russischen Nachrichtenagentur Tass zufolge. ‚Es wird Zeit, dass Ruhe einkehrt. Es läuft eine EM, das ist ein Feiertag für den Fußball, aber alle reden nur über Schlägereien und Strafen‘, sagte der Minister“ (Russland fliegt nach neuen Krawallen aus dem Turnier, in spiegelonline 14.6.2016).
Wenn die russischen Hooligans gezielt zuschlagen: kein Wunder.
Putins Sprecher Dmitrij Peskow mit der offiziellen Sichtweise des Kremls: „Wir können unseren Fans nur dazu raten, nicht auf irgendwelche Provokationen zu reagieren'“ (Ebenda).
Die Engländer sind also selber schuld, wenn sie schwer verletzt werden.
„Frankreichs Generalstaatsanwalt Brice Robin präsentierte am Montag Ermittlungsergebnisse. Demnach sei eine große Gruppe russischer Hooligans für viele der Ausschreitungen verantwortlich gewesen, Robin spricht von 150 Personen, die für ‚ultraschnelle, ultraharte Gewalt‘ sehr gut vorbereitet gewesen sein sollen“ (Ebenda).

– Rechtsradikale russische Hooligans
Und schnell kommt man in die rechtsradikale russische Bewegung. „Die EM 2012 war auch die erste große internationale Bühne, auf der sich Alexander Schprygin präsentieren konnte. Durch Verharmlosung der Vorfälle fiel der Vorsitzende des Dachverbands russischer Fußballfans (VOB) während des Turniers immer wieder negativ auf. Eine Strategie, die Schprygin auch in Frankreich verfolgt. ‚Der ganze englische Block ist einfach aufgestanden und weggelaufen. Da gab es keine Schlägereien‘, erklärte Schprygin gegenüber russischen Medien. Eine Aussage, die auch in Russland für Kopfschütteln gesorgt hat. Denn Schprygin ist kein Unbekannter. Seit 2007 ist dieser Vorsitzender des von ihm gegründeten VOB sowie ehemaliges Mitglied des Exekutivkomitees des Fußballverbandes RFS. Heute sitzt er im Verbandskomitee, welches sich mit Sicherheitsfragen sowie Fanbelangen beschäftigt. Doch Schprygin ist nicht allein wegen dieses Amtes bekannt, sondern wegen seiner Vergangenheit. In den Neunzigerjahren war er ein führendes Mitglied der russischen Neonazi-Szene sowie einer der Anführer der Dynamo-Moskau-Hooligans. Einschlägige Fotos aus dieser Zeit zeigen ihn mit dem zum Hitlergruß erhobenen Arm neben dem Sänger der faschistischen Metal-Band Korrosija Metalla, deren Texte es zum Teil in Russland auf den Index geschafft haben. Auf einem weiteren Foto, das im Internet kursiert, posiert er neben einer Person, die sich als Adolf Hitler verkleidet hat. (…) Für Igor Lebedew, Sohn des rechtsextremen Politikers Wladimir Schirinowski und stellvertretender Vorsitzender der Duma, arbeitet Schprygin als parlamentarischer Mitarbeiter. Zudem sitzt Lebedew auch im Präsidium des russischen Fußballverbandes, was Schprygin auch seine Position innerhalb des RFS sichert“ (Ebenda). Schprygins VOB ist „für den Verkauf von Auswärtstickets der russischen Nationalmannschaft sowie der Organisation der Auswärtsfahrten zuständig ist. Ein Dachverband russischer Fans, den Schprygin zu einem Sammelbecken für führende russische Hooligans gemacht hat. Als im März dieses Jahres eine offizielle Delegation des RFS sowie des VOB die Spielstätten der russischen Nationalmannschaft in Frankreich besuchte, war nicht nur Schprygin dabei, sondern auch Aleksandr Rumjantzew. Dieser war bis vor Kurzem der führende Kopf von Landskrona, der größten Ultragruppierung von Zenit St. Petersburg. Rumjantzew ist verantwortlich für das berühmt-berüchtigte Manifest von 2012, in dem man sich gegen dunkelhäutige und homosexuelle Spieler in den Reihen von Zenit ausspricht“ (Ebenda). Pavel Klymenko ist bei der Fanvereinigung Fare im Auftrag der Uefa für Osteuropa zuständig und äußert: „Die Schläger in Frankreich kamen vor allem von Zenit St. Petersburg, Lokomotive Moskau, Spartak, Torpedo Moskau, Orel und Jekaterinenburg. Den berüchtigsten Hooligan-Gruppierungen im russischen Fußball“, erklärt Pavel Klymenko, der bei der internationalen Fanvereinigung Fare, einem offiziellen Partner der Uefa, für Osteuropa tätig ist, auf Anfrage von spiegelonline“ (Dudek, Thomas, Holligans mit besten Verbindungen, in spiegelonline 14.6.2016).

– Die russische Politik leugnet ab und verharmlost
„Dmitri Swischtschew, der Vorsitzende des Sportausschusses der russischen Staatsduma, machte nach dem Urteil der Uefa gegen den russischen Fußballverband keinen Hehl daraus, dass er das nicht angemessen findet: ‚Das ist eine überflüssig harte Entscheidung gegen unsere ganze Mannschaft. Ausschluss auf Bewährung plus Geldbuße, das ist übermäßig.‘ Er wolle darin keinen politischen Schritt sehen, ‚aber man denkt schon nach, warum nur Russland bestraft wird‘, meinte Swischtschew. „Wir sollen die Uefa-Forderungen erfüllen – und wir werden sie erfüllen‘, sagte er. (…) Die Gewalt im Stade de France aber ging einwandfrei von russischen Fans aus – und nur in dieser Sache ermittelte und urteilte die Uefa. ‚Russia Today‘, das mehrsprachige Propagandaorgan Russlands, hat mittlerweile damit begonnen, das Thema zu relativieren. Neben Meldungen über die anstehende Deportation von 29 russischen Hooligans berichtete ‚RT‘ am Dienstag auch über angeblich anlasslose Kontrollen von Fanbussen mit vermeintlich friedlichen Fans. Bei Nizza sei ein Bus mit 50 Fans gestoppt und die Fans darin kurz darauf ‚unheimlich schnell‘ zu einem naheliegenden Flugplatz gebracht worden, um ausgeflogen zu werden. Der implizite Vorwurf: Da würden Russen unter Generalverdacht gestellt und abgeschoben. Nachrichtenagenturen haben inzwischen bestätigt, dass ein Bus mit russischen Fans auf dem Weg nach Lens gestoppt worden sei und eine Ausweisung von 35 Hooligans, die sich der Überprüfung ihrer Identitäten verweigert hätten, geprüft werde. Es werde vermutet, dass die Fans zum gewaltbereiten Kreis der russischen Anhänger gehörten. (…) Fangewalt ist ein Thema, dass die Russen gern vom Tisch hätten: Russland ist 2018 auch Ausrichter der Weltmeisterschaft – und Fangewalt könnte das möglicherweise noch verhindern. Kaum zufällig gab die Fifa am Dienstag bekannt, dass Russland für 2018 ein ‚umfangreiches Sicherheitskonzept‘ vorgelegt habe, um eine Wiederholung des Hooliganismus zu verhindern, der ‚die das Bild der Europameisterschaft beschädigt‘ habe“ (Russlands Angst vor seinen Fans, in spiegelonline 14.6.2016).

15.6.2016
Uefa verurteilt Russland
Die Uefa verurteilte nach den Krawallen von Marseille den russischen Fußballverband RFS zur Zahlung von 150.000 Euro und drohte, bei erneuten Ausschreitungen die russische Mannschaft heimzuschicken.
„Vor und nach der Partie in Marseille hatten sich hässliche Szenen abgespielt. Mehr als 40 Menschen wurden verletzt. Nicht alle Gewalt war von Russen ausgegangen. Aber die Disziplinarkommission der Uefa konnte nur sanktionieren, was sich im Stadion selbst vollzogen hatte. Und dort waren Teile der russischen Anhänger mit eindeutig unfreundlichen Absichten in den Block der Engländer gestürmt. Dagegen ein Zeichen zu setzen, ist richtig. (…) Für die Uefa liegt in ihr aber auch ein Wagnis. Denn der Verband hat nun ein Hochseil geknüpft, von dem sich auch leicht fallen lässt. Wenn die Uefa konsequent bleiben will, muss sie nun auch diejenigen in den Blick nehmen, die die Vorkommnisse in Marseille offen guthießen. Ein Kreml-Sprecher verurteilte die Ausschreitungen in Südfrankreich am Dienstag zwar als ‚absolut unakzeptabel‘. Aber es gab auch ganz andere Äußerungen, etwa die von Igor Lebedew, der immerhin im RFS-Vorstand sitzt. ‚Ich kann nichts Schlimmes an kämpfenden Fans finden‘, hatte der verlautet: ‚Im Gegenteil, gut gemacht, Jungs. Weiter so!‘ Lebedew leistet sich einen Assistenten, Alexander Schprygin, der als Rechtsaktivist bekannt und berüchtigt ist. Die Riege der geistigen Brandstifter – falls Europas Fußball-Verband es ernst meint, muss er diese als Nächstes in den Blick nehmen. Ohne Rücksicht auf Ämter und Heimatländer“ (Hofmann, René, Auf dem Hochseil, in SZ 15.6.2016).
– „Im Uefa-Vorstand sitzen auch einige Personen, die es sich mit dem mächtigen Russland nicht verscherzen wollen – immerhin steht bald eine Präsidentschaftswahl an, bei der es einen Nachfolger für Michel Platini geben soll. Da dirigiert Russland ein großes Stimmpaket. Das Verhalten von russischen Verbandsverantwortlichen ging in das Verfahren des Disziplinarkomitees nicht ein. Im Netz kursiert ein Video, auf dem der Sportminister und RFS-Chef Witalij Mutko nach dem Spiel in Marseille just in der Kurve aufmunternde Gesten macht, in der es zu den Vorfällen kam. Danach twitterte Igor Lebedew, RFS-Vorständler und Duma-Mitglied: ‚Ich kann nichts Schlimmes an kämpfenden Fans finden. Eher im Gegenteil. Bravo, Jungs. Macht weiter so!'“ (Aumüller, Johannes, Keine Automatismen, in SZ 15.6.2016). Die französische Polizei meldete, dass sie nahe Marseille 43 russische Hooligans aufgegriffen hat – auf dem Weg nach Lille zum Spiel Russland gegen die Slowakei am 15.6.2016 (Ebenda).

– DFB will mehr deutsche Polizisten
DFB-Präsident Reinhard Grindel will vor dem Spiel Deutschland gegen Polen am 16.6.2016 eine aufgestockte deutsche Polizeidelegation. „In Lille hatten vor dem deutschen EM-Auftaktspiel gegen die Ukraine rund 50 deutsche Hooligans randaliert“ (SID, BKA bittet um Mithilfe, in SZ 15.6.2016).

– Risikospiel England gegen Wales
„Nach den Krawallen vom Wochenende setzen die französischen Behörden für das EM-Spiel England gegen Wales auf verschärfte Sicherheitsvorkehrungen. 1200 Polizisten und Gendarmen sollen für Sicherheit sorgen, dazu kommt noch einmal die gleiche Zahl an privaten Sicherheitsleuten“ (DPA, 1200 Polizisten, in SZ 15.6.2016).

– Frankreich verstärkt Aktivitäten
„Und wer so gefordert ist, der macht auch Fehler. Tatsächlich unterliefen der französischen Polizei in den vergangenen Tagen einige davon, mache sogar aus der Kategorie ‚Folgenschwer‘: Da blieben Bahnhöfe ungesichert, an denen gerade Gewalttäter ankamen. Da wurde auf unschuldige Fans eingeprügelt, während man echte Hooligans laufen ließ. Und da dauerte es im Stade Velodrome fünf Minuten, bis endlich die Polizei auf den Rängen war und die russischen Schläger in die Schranken wies. Als Reaktion auf die Kritik hat Frankreichs Innenminister Bernard Cazeneuve nun Konsequenzen angekündigt. Am Tag sowie dem Vortag eines Matches wird von nun an der Alkoholverkauf in den Fanmeilen und an neuralgischen Punkten in der Stadt verboten. Mehr als 1200 Ordnungskräfte sollen allein das Spiel der Engländer gegen Wales am Donnerstag in Lens flankieren. Allerdings sind bereits jetzt 90.000 Polizisten, Gendarmen und Mitarbeiter privater Security-Unternehmen während der EM im Einsatz – dass das zu wenig sei, hat zumindest vor dem Turnier niemand behauptet. Auch niemand der vielen Frankreich-Kritiker der vergangenen Tage“ (Buschmann, Rafael, Ruf, Christian, Am Anschlag, in spiegelonline 15.6.2016). Viele Uefa-Mitgliedsländer haben aber ihre Hooligans nicht gemeldet. „Die Zeitung ‚Le Parisien‘ zitiert einen anonymen Mitarbeiter des Pariser Innenministeriums, demzufolge allein die Schweiz mehrere Hundert möglicher Gewalttäter benannt habe, Moskau aber nur 33. (…) Genau hier liegt offenbar auch die Parallele zwischen dem islamistisch motivierten Terrorismus und der Hooliganproblematik: Die Polizei kennt sehr viele potenzielle Gewalttäter, kann aber längst nicht alle unter Kontrolle halten. Es seien schlicht zu viele. ‚Es gab in Deutschland mehrere hundert Gefährder-Ansprachen, also das Signal an Fußball-Gewalttäter, dass sie gut daran tun, nicht das Land zu verlassen‘, berichtet Schulz (André Schulz, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter; WZ). ‚Wir wissen aber auch, dass das oft nichts fruchtet und diese Leute zum Teil trotzdem nach Frankreich gefahren sind'“ (Ebenda).

– Moskau: Hooligans unschuldig
„In Moskau ist die Empörung groß. Das Staatsfernsehen spricht von einer Provokation. Es wird nicht ganz klar, wen es damit meint: die Uefa, die Engländer oder die westliche Welt. Ein Mitglied des außenpolitischen Komitees im Föderationsrat, dem Oberhaus des Parlaments, fordert das russische Außenministerium auf, ‚hart zu reagieren – und solch ein Verhalten uns gegenüber gleich in der Anfangsetappe zu unterbinden. Man muss unsere Bürger in Frankreich verteidigen‘. Gemeint sind die Schlachtenbummler, die in Marseille Feuerwerkskörper warfen und mit Stühlen auf Engländer eindroschen. Der Sprecher von Präsident Putin sagt: ‚Wir können unsere Fans nur aufrufen, auf Provokationen, egal welcher Art, nicht zu reagieren.‘ Das ist fein formuliert – das Wort „Provokationen“ meint, man habe ja nur auf andere reagiert. Auch die Moskauer Zeitung ‚Kommersant‘ bereitet sich in diesem Sinne auf den nächsten Zwischenfall vor: Die russischen Schlachtenbummler werden möglicherweise ‚zu einem neuen Konflikt provoziert – und natürlich sind sie dann die Schuldigen‘, lautet die Schlagzeile auf der heutigen Titelseite“ (Neef, Christian, Schuld haben immer die anderen, in spiegelonline 15.6.2016). Ehrlichere Kommentare in russischen Medien lauten aber ganz anders. „‚Tolle Kerle, habt richtig Courage gezeigt!‘ – ‚Schlagt die hässlichen Briten!‘ – ‚Was wir auf dem Fußballfeld nicht können – außerhalb des Feldes sind wir die Besten!‘ – ‚Rächen wir uns für unsere Großväter!‘ (…) Auch der ‚Sport Express‘, die große Moskauer Sportzeitung, geht heute kaum mit den eigenen Fans ins Gericht. Auf Seite 1 steht: ‚Die französische Fälschung. Warum die Euro 2016 das seit Jahren am schlechtesten organisierte Turnier ist.‘ (…) Die Probleme mit den Fußballschlachtenbummlern in Russland sind seit Jahren bekannt, die ‚Fanaty‘ sind kreuzgefährlich. Unternommen wurde gegen sie bisher: nichts. In Großbritannien ist man da weiter. Man mag das als inneres Problem Russlands betrachten. Fahren diese Hooligans jedoch ins Ausland, ist das eine andere Sache. Denn die russischen Medien haben Patriotismus und Nationalismus seit der Krim-Annexion derart angeheizt, dass sich die Schlichteren unter den Russen im Ausland zu Muskelspielen geradezu ermuntert fühlen. Sie sehen sich als Speerspitze eines Landes, das sich wieder groß und überlegen fühlt. Es sind Leute mit einer besonderen Psyche, die für die Ihren eintreten, Fremde aber schlagen“ (Ebenda).

– Lawrow kritisiert Festsetzung russischer Hooligans
„Russlands Außenminister Sergej Lawrow kritisierte am Mittwoch in Moskau die Festnahme Dutzender Russen in Frankreich. Er sehe darin einen Verstoß gegen internationale Regeln. Die französische Polizei hatte am Dienstag einen Bus mit 43 Russen festgesetzt, elf davon sind inzwischen wieder frei. (…) Russlands Sportminister Witali Mutko schloss am Mittwoch neue Randale durch mitgereiste Fans nicht aus: ‚Unsere Fans werden ständig provoziert‘, sagte er am Mittwoch: ‚Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, dass sich Ausschreitungen russischer Fans nicht wiederholen werden.‘ Oft würden die Russen aber zu Unrecht bezichtigt. Auch in Russland werde Gewalt in den Stadien abgelehnt. Russlands größte Sportzeitung ‚Sport-Express‘ forderte am Mittwoch, das Land müsse die Fangewalt dringend in den Griff bekommen. ‚Die Anhänger fliegender Fäuste werden sich bis zur WM 2018 nicht in Luft auflösen‘, warnte das Blatt. Die WM 2018 findet in Russland statt“ (Russland sieht diplomatische Beziehungen gefährdet, in spiegelonline 15.6.2016)

Französischer Botschafter einbestellt
Die Regierung in Moskau ist wegen der Festnahme Dutzender russischer Fußballfans am Rande der EM aufgebracht. Nun hat das russische Außenministerium den französischen Botschafter einbestellt. Frankreich sei aufgefordert worden, den Fall so schnell wie möglich auf zivilisierte Weise zu klären, teilte das Ministerium mit. Die französische Polizei hatte am Dienstag in der Nähe von Cannes einen Bus mit 43 russischen Fußballfans festgesetzt. (…) Laut Polizei hatten sich die russischen Fans geweigert, ihre Personalien anzugeben. Außenminister Sergej Lawrow kritisierte die Festnahme als ‚absolut inakzeptabel‘. Das russische Außenamt warnte: Sollte rund um den EM-Auftritt des Nationalteams Sbornaja antirussische Stimmung geschürt werden, würde dies den bilateralen Beziehungen schaden“ (Moskau bestellt russischen Botschafter ein, in spiegelonline 15.6.2016).

16.6.2016
– Russische Politik für russische Hooligans

„Russlands Außenminister Sergej Lawrow kritisierte am Mittwoch in Moskau die Festnahme Dutzender Russen in Frankreich. Er sehe darin einen Verstoß gegen internationale Regeln, sagte Lawrow der Agentur Interfax. Zudem wurde der französische Botschafter in Moskau einbestellt. Diesem, so hieß es, sei deutlich gemacht worden, dass ein ‚weiteres Schüren von anti-russischer Stimmung‘ die ‚Atmosphäre der russisch-französischen Beziehungen deutlich belasten‘ könne. (…) Nach den Vorfällen beim Spiel gegen die Engländer hatte die Europäische Fußball-Union Uefa im Wiederholungsfall der russischen Mannschaft mit dem EM-Ausschluss gedroht. Die Partie der Russen am Mittwoch in Lille war deshalb mit Spannung erwartet worden. Rund 12 000 russische Anhänger hielten sich in der Stadt auf. Den ganzen Tag über kreisten Hubschrauber über dem Stadion, die Zahl der Sicherheitskräfte war deutlich erhöht. Aus Sicherheitsgründen wurden auch 350 Bars bis Freitagmorgen geschlossen. Generell waren die Möglichkeit zum Erwerb von Alkohol stark beschränkt“ (Botschafter einbestellt, in SZ 16.6.2016).

– Russische Staatsmedien stehen hinter Hooligans
Russlands Staatsmedien thematisieren die Krawalle russischer Hooligens bei der EM 2016 – allerdings etwas anders. Der Staatssender Rossija inszenierte russische Problemfans sogar als Opfer der französischen Behörden.“ (Bidder, Benjamin, „Europa soll in der Hölle  schmoren“, in spiegelonline 16.6.2016). Französische Polizisten stoppten am 15.6.2016 vor dem Spiel Russland – Slowakei einen Bus mit russischen Anhängern. Rossija: „Russische Fans mussten wegen des Vorgehens der Polizei mehrere Stunden in einem Autobus ausharren, bei unerträglicher Hitze(…) Dazu blendete der Kanal das Foto eines älteren Herrn in den Sechzigern ein, es hatte auf Twitter die Runde gemacht. ‚So sehen ‚Hooligans‘ aus‘, stand sarkastisch daneben. Mit keiner Silbe erwähnt wurde dagegen, welcher Insasse des Busses das Foto geschossen hatte: Alexander Schprygin, Chef des Dachverbands russischer Fußballfans. (…) Die Gendarmerie habe die Fans in den heißen Bus gepfercht und lasse sie nicht aussteigen, hieß es bei Rossija. In Wahrheit hatte die Polizei die Russen aufgefordert, das Fahrzeug zu verlassen. (…) Die Berichterstattung über die Europameisterschaft in Frankreich reiht sich in ein bekanntes Muster ein: Ob Dopingskandal oder Berichte über Korruption im Umfeld von Kremlchef Putin, die staatlich gelenkten Medien präsentieren den Russen in der Regel ähnliche Erklärungen: Der Westen hat sich verschworen, Russland steht zu Unrecht am Pranger. (…) Die Ausschreitungen während der Europameisterschaft werden verharmlost oder anderen in die Schuhe geschoben: englischen Fans, weil sie die Russen gereizt hätten, oder der französischen Polizei, weil die unfähig sei. Sogar Außenminister Sergej Lawrow schaltete sich ein und nahm die Schläger in Schutz. Er habe ‚empörende Aufnahmen gesehen, auf denen die russische Fahne mit Füßen getreten wurde und Beleidigungen an die Adresse von Russlands Führung geschrien wurden‘ – als hätten die russischen Hooligans aus patriotischer Notwehr gar nicht anders gekonnt, als ihre englischen Rivalen auf die Intensivstation zu prügeln“ (…) Nach den Krawallen von Marseille veröffentlichte Ria Nowosti einen Kommentar, der die Täter nicht nur in Schutz nahm, sondern die Gewalt noch adelte. ‚Wenn russische Fans andere Fans zusammenschlagen, und die europäische Polizei Angst hat, sich ihnen in den Weg zu stellen, dann empfinde ich wenn schon nicht Stolz auf die Russen, so doch Befriedigung‘, heißt es in dem Text. Der Autor des Textes, der Publizist Maxim Kononenko, lobt sogar, ihm gefalle ‚ein russischer Schläger, der einem anderen, nicht russischen Typen den Kiefer zertrümmert'“ (Ebenda).

– Russische Hooligans greifen in Köln an
In Köln griffen sechs russische Hooligans spanische Touristen an. „Laut Polizei schlugen und traten die Männer zwei Spanier und deren Begleiterin, die Aufkleber einer linksgerichteten Bewegung auf der Kölner Domplatte verteilten. Einer der angegriffenen Spanier erlitt einen Nasenbeinbruch, der andere wurde leicht verletzt. Fünf Tatverdächtige im Alter zwischen 26 und 30 Jahren wurden bereits kurz nach dem Angriff festgenommen. Laut Polizei waren die Männer alkoholisiert. (…) Die Staatsanwaltschaft Köln prüft derzeit, ob sie Haftbefehle beantragt. Zudem soll untersucht werden, ob die Männer auch an den Ausschreitungen russischer Hooligans in Marseille beteiligt waren: Nach ersten Erkenntnissen der Polizei waren die festgenommenen Männer am 10. Juni von Moskau nach Marseille geflogen, sie sollen einer extremen russischen Gruppe angehören. Bei den Festgenommenen wurden Karten für die EM-Spiele England-Russland und Russland-Slowakei gefunden. Sie hatten laut Polizei Mundschutz und Vermummung dabei“ (Ermittler prüfen Verbindungen zu Krawallen von Marseille, in spiegelonline 17.6.2016).

– England gegen Wales: 36 Festnahmen, 16 Fans ins Krankenhaus
„In der französischen Stadt Lille sind die Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Fußballfans bis tief in die Nacht zum Donnerstag weitergegangen. Mit Tränengas und Schlagstöcken gingen die Beamten gegen etwa 200 Fans vor, von denen ein Teil aus England kam. (…) Die Fangruppen gingen während der Fahrt aufeinander los, nach der Ankunft im Bahnhof wurden fünf Personen festgenommen. Auch Fans des Gastgebers Frankreichs gingen nach dem zweiten Vorrundensieg der Équipe Tricolore gegen Albanien (2:0) in Lille auf die Polizei los. Beim Verlassen der Fanzone wurden Flaschen und Steine geworfen. Die Franzosen spielten am Mittwochabend in Marseille. Am späten Mittwochabend veröffentlichte die Polizei in Lille ihre Bilanz des Tages: Demnach wurden im Stadtgebiet 36 Menschen festgenommen, darunter auch sechs Russen, die an den heftigen Straßenschlachten am Samstag in Marseille beteiligt gewesen sein sollen. Weitere 50 Personen seien vom Rettungsdienst behandelt und 16 in Krankenhäuser gebracht worden. Rund 4000 Sicherheitskräfte sind nach Behördenangaben in der Stadt im Einsatz“ (36 Festnahmen, zahlreiche Verletzte, in spiegelonline 16.6.2016).

– Deutsche Hooligans  aktiver denn je
„Nachdem deutsche Hooligans den Polizisten Daniel Nivel bei der WM 1998 fast zu Tode prügelten, war diesen Gruppen öffentliche Aufmerksamkeit nahezu egal – das scheint sich gerade zu ändern. (…) Einige dieser Männer sind am vergangenen Wochenende nach Lille gereist, wo das deutsche Team bei der EM auf die Ukraine traf. Sie zelebrierten ihr Überlegenheitsdenken, posierten mit einer Reichskriegsflagge, zeigten den Hitlergruß. Etwa vierzig von ihnen prügelten auf Franzosen und Ukrainer ein. (…) Viele Jahre hatten sie sich zurückgehalten. Der Auslöser: Die WM 1998 in Frankreich, als deutsche Schläger den französischen Gendarm Daniel Nivel fast zu Tode prügelten. (…) Einige Hooligans wollten ihrem Alltag weiter durch Faustkämpfe entfliehen, sie taten das in der Abgeschiedenheit, auf Äckern und Wiesen, fernab von Polizei und Kameras. Über Jahre wuchs ein Netzwerk von brutalen Schlägern. Sie trainierten in Kampfsportstudios und organisierten ihre Prügeleien in sozialen Medien. Sie drehten Videos und schmiedeten Allianzen mit rivalisierenden Gruppen, national und international. (…) Die ‚Borussenfront‘ in Dortmund, die ‚Standarte‘ in Bremen, die ‚Rotfront‘ in Kaiserslautern. Sie gehen weniger in den Stadien in die Offensive, sondern mehr im Umfeld der Arenen: auf Bahnhofsplätzen, in Sonderzügen und Kneipen. Auch bei deutschen Länderspielen in Polen oder Georgien. Nur wurden die Kämpfe selten von Medien dokumentiert. (…) Parteipolitisch wollen sich diese Fans nicht vereinnahmen lassen, doch als gut trainierte Einschüchterungstruppen lassen sie sich auf Kundgebungen von rechten Parteien gern umgarnen, bei den Schwedendemokraten, bei „Recht und Gerechtigkeit“ in Polen, bei „Jobbik“ in Ungarn, bei Pegida in Deutschland. Vor allem in Osteuropa sind Fankurven oft die sichtbarste Ausdrucksform des gesellschaftlichen Rechtsrucks. Auf dieser Basis können Parteistrategen leichter ihre Arbeit verrichten“ (Blaschke, Ronny, Zurück von der Wiese, in SZ 16.6.2016).

– Deutschen Hooligans Ausreise verweigert
„Um 21 Uhr soll das EM-Spiel zwischen Deutschland und Polen in Paris angepfiffen werden – im Vorfeld hat die Bundespolizei in Nordrhein-Westfalen bis zum späten Vormittag drei Gewalttätern die Ausreise untersagt. Die Hooligans müssen sich während der gesamten Fußballeuropameisterschaft immer wieder bei deutschen Behörden melden. Ein Schwerpunkt der Kontrollen in NRW war an der A44 bei Aachen vor der belgischen Grenze. Verdächtige Fahrzeuge wurden aus dem fließenden Verkehr auf einen Parkplatz geleitet und kontrolliert. Bis zum Vormittag wurden in Nordrhein-Westfalen insgesamt zehn bekannte Hooligans festgestellt, die nach Paris fahren wollten. Davon durften sieben nach einer ‚Gefährderansprache‘, bei der den Betroffenen klargemacht wird, dass sie unter Beobachtung stehen, weiterfahren. 420 Bundespolizisten waren bei den Kontrollen im Einsatz“ (Frankreich verweist 20 russische Fans des Landes, in spiegelonline 16.6.2016).

– Wieder Hitlergruß auf Berliner Fanmeile
„Auf der Berliner EM-Fanmeile hat schon wieder ein Mann den Hitlergruß gezeigt. Die Polizei nahm am Donnerstagabend bei der Übertragung des Spiels Deutschland-Polen einen 42-Jährigen fest, weil er während der Nationalhymne den rechten Arm in die Höhe reckte und dazu sang. Die Polizisten notierten die Personalien des Betrunkenen. Ermittelt wird jetzt wegen des Zeigens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“ (EM-Blog, spiegelonline 16.6.2016).

– Hooligans aus Ungarn und Rumänien
Über den russischen Fußball-Verband hat die Uefa schon geurteilt, nun müssen auch Ungarn und Rumänien wegen des Fehlverhaltens der eigenen Fans eine Strafe seitens der Disziplinarkommission der Uefa fürchten. Die ungarischen Anhänger zündeten im Gruppenspiel gegen Österreich (2:0) Pyrotechnik, die Fans der Rumänen in der Partie gegen die Schweiz (1:1). Gegen beide Verbände wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet“ (EM-Blog, spiegelonline 16.6.2016).

– Spanische Hooligans
„Die Polizei hat in Nizza drei spanische Ultra-Fans verhaftet, weil sie Neonazi-Abzeichen getragen haben. Drei weitere Spanier wurden festgenommen, als sie versuchten, Leuchtfeuer ins Stadion zu schmuggeln, teilte die Polizei mit. Die Uefa hat Leuchtfeuer strikt verboten. Beim Spiel Tschechien gegen Kroatien flogen aus dem kroatischen Block aber gleich mehrere der bengalischen Feuer auf den Platz. Auch den türkischen Fans war es gelungen, Leuchtfeuer mit ins Stadion zu bringen“ (EM-Blog, spiegelonline 16.6.2016).

17.6.2016
– 323 Verhaftungen

„Die Bilanz nach nur sieben Tagen ist erschreckend: Seit dem Beginn des Turniers sind im Zusammenhang mit der Fußball-EM 323  Menschen verhaftet worden. Davon wurden laut französischem Innenministerium 196 Personen in Gewahrsam genommen. Elf wurden inzwischen zu Haftstrafen verurteilt, und drei erhielten Bewährungsstrafen. Am Donnerstag wurden in Marseille drei Männer im Alter zwischen 28 und 33 Jahren, alle russische Staatsbürger, im Schnellverfahren verurteilt. Das Gericht verhängte Gefängnisstrafen von 12, 18 und 24 Monaten. Insgesamt hatten die Behörden zu Wochenbeginn nahe Marseille 43 Russen vorläufig festgesetzt, was zu einer politischen Krise zwischen den Ländern führte“ (Haft und Schnellverfahren, in SZ 17.6.2016).

– Russische Hooligans gegen englische Hooligans
„Über Jahrzehnte beanspruchten Engländer die Deutungshoheit in dieser Disziplin. (…) Das blutigste Jahrzehnt im englischen Fußball waren die Achtzigerjahre. Stadionbrände, Massenpaniken und Straßenschlachten kosteten vielen Menschen das Leben. Auf der Insel wurden Sicherheitskonzepte überarbeitet, und so kultivierten die Hooligans ihre Sehnsucht nach Adrenalinstößen mehr im Ausland: Bei der WM 1998 in Frankreich oder bei der EM zwei Jahre später in Belgien und den Niederlanden. Nach der Logik des Hooligans ist die Erfolgsgeschichte des britischen Rowdytums seit dem vergangenen Wochenende vorüber, zumindest aus der Sicht des russischen Hooligans. Rund 150 Schläger, vor allem aus Moskau und St. Petersburg, gingen in Marseille auf Engländer los, in der Stadt und im Stadion. Durchtrainierte Männer, gestählt in Kampfsportstudios, schnell und brutal, die meisten von ihnen offenbar ohne Alkoholeinfluss“ (Blaschke, Ronny, Vom Thron geschlagen, in SZ 17.6.2016).

– Der Kreml unterstützt die Hooligans
„Als russischer Fußballrowdy kann man sich dieser Tage nicht über fehlende Rückendeckung aus der Politik beklagen. An einer Prügelei zwischen Fans könne er nichts Schlechtes sehen, twitterte der Abgeordnete Igor Lebedew nach den Ausschreitungen vom Wochenende, bei denen russische Hooligans englische Hooligans durch die Straßen von Marseille gejagt hatten. Dutzende mussten behandelt werden, einer lag im Koma. ‚Im Gegenteil, unsere Jungs sind klasse. Weiter so!‘ Als die Fans nach dem Spiel gegen England im Stadion die Schlacht fortsetzten, stand Russlands Sportminister Witali Mutko vor der Tribüne und machte anfeuernde Gesten. (…) Als die französische Polizei aber durchgriff und vor dem Spiel gegen die Slowakei am Mittwoch einen Bus mit russischen Fans stoppte und durchsuchte, schaltete sich Außenminister Sergej Lawrow ein. Er bestellte Frankreichs Botschafter ins Außenministerium und warnte: Ein weiteres Schüren ‚antirussischer Ressentiments‘ könne die Beziehungen zwischen Russland und Frankreich beschädigen. Die russischen Fans seien provoziert worden. (…) Es gibt viele Beispiele für Verbindungen zwischen staatlichen Stellen und extremistischen Subkulturen. Und es sind eben nicht allein Hooligans, sondern eine Vielzahl rechtsextremer Gruppierungen, es sind schlicht kriminelle Schläger, selbsternannte Kosaken oder durchtrainierte Kampfsportler aus dem Kaukasus. Sie werden aktiviert, wenn Journalisten einen Denkzettel bekommen, Oppositionelle eingeschüchtert oder Menschenrechtsvertreter aus dem Weg geräumt werden sollen. (Hans, Julian, Horden das Hasses, in SZ 17.6.2016) „Im April störten Aktivisten der Nationalen Befreiungsbewegung (NOD) den Geschichtswettbewerb der renommierten Organisation Memorial. Patron von NOD ist Jewgenij Fjodorow, Abgeordneter der Partei Einiges Russland. Und vor einigen Jahren bereits deckte der russische Journalist Oleg Kaschin enge Verbindungen der Spartak-Hooligans ‚Gladiatoren‘ zur Pro-Putin-Jugend ‚Naschi‘ auf. Die ‚Gladiatoren‘ bewachten ein Naschi-Sommerlager. Als sie Gegner mit Baseballschlägern verprügelt hatten, kam ein Kreml-Mitarbeiter, um sie aus dem Polizeigewahrsam zu holen. Schon ist in westlichen Boulevardmedien von ‚Putins Schlägerhorden‘ die Rede“ (Ebenda).

18.6.2016
– Keine Steuerung durch Moskau?
Der russische Fotograf Pawel Wolkow, der diverse russische Hooligan-Gruppen begleitete, vermutet ein anderes Motiv:: „Die Engländer wurden immer als Übervater angesehen. Marseille war eine geplante Aktion, um einen Gott vom Sockel zu holen“ („Gott vom Sockel holen“, in Der Spiegel 25/18.6.2016).

– Putin macht sich lustig
„Die Russen waren betrunken und pöbelten, und sie begannen just in dem Moment, in dem die Polizei Verstärkung anforderte, auf drei spanische Touristen einzuprügeln. Die zwei Männer und eine Frau hatten vor dem Dom antifaschistische Aufkleber an einem Bauzaun angebracht, was den Russen missfiel, die laut Polizei einer rechtsradikalen Gruppe zugeordnet werden können. Es folgten Schläge und Tritte, einem Spanier wurde das Nasenbein gebrochen. (…) Nach Angaben der Polizei hatten die Hooligans mit Quarzsand gefüllte Handschuhe, Zahnschutz und Masken zur Vermummung bei sich. Zudem besaßen sie Tickets für die bisher ausgetragenen EM-Spiele der russischen Mannschaft. (…) Russlands Staatspräsident Wladimir Putin hat die Zusammenstöße zwischen russischen und englischen Hooligans am Freitag als ‚Schande‘ bezeichnet – zugleich aber die vermeintliche Täterrolle der russischen Hooligans relativiert. ‚Ich weiß wirklich nicht, wie 200 unserer Fans mehrere Tausend Engländer verprügeln konnten‘, sagte Putin ironisch bei einem Kongress in St. Petersburg“ (Dörries, Bernd, Angriff auf der Domplatte, in SZ 18.6.2016).

– Streitmacht Hooligans
„Moderne Hooligans sind eine austrainierte Streitmacht, eher klassische Hooligans sind obenrum Schläger, untenrum Touristen in diesen beigen Bermuda-Shorts, wie sie auch die Brüder am Ballermann tragen; Hosen übrigens, die die unangenehme Eigenschaft haben, Teile des Hinterns freizulegen, wenn ihr Träger sich nach vorne beugt, was der Hool ja nun mal öfter tut, um ein Stuhlbein in den Griff zu kriegen, oder um zu kotzen. Ein ‚Defilee der Arschgesichter‘, hat die Zeitschrift Konkret mal in anderem Zusammenhang geschrieben. Es passt auch hier und charakterisiert genauso jene Nazis aus Sachsen, die in Lille die Reichkriegsflagge aufgespannt haben. Selbst wer irgendeinen dieser Typen nur auf Fotos sieht, riecht zugleich dessen Aroma, eine Kreation aus Kampfschweiß, Bierdunst und jenem ätzenden Qualm, den nur lodernder Hass aufsteigen lässt. Der Hooliganismus ist kein neues Phänomen, auch wenn die Bilder im Netz gerade etwas anderes erzählen. 1990 und 1998 gab es Facebook und Twitter nicht, Fotos wurden nicht geklickt, geteilt, gelikt. Dabei ist sogar das aufsehenerregende Detail, dass die russischen Hooligans jetzt in Marseille erst ihren Mundschutz anlegten, bevor sie loszogen, nicht neu. Französische Reporter hatten das Gleiche damals bei den deutschen Hools gesehen. Und die besorgt tantenhafte Frage, ob die Russen nach einer Niederlage wie gegen die Slowakei besonders grimmig gestimmt sind, ist auch tausendmal so gestellt worden. Aber wer schlagen will, der schlägt auch nach einem Fünfnull“ (Gertz, Holger, Nimm dies, in SZ 18.6.2016).

– Kroatische Hooligans kosten Kroatien den Sieg
„Aber in der 85. Minute flogen aus dem Block der Kroaten plötzlich mehrere bengalische Feuer auf den Platz, mindestens ein Böller explodierte laut in der Nähe eines Ordners. Danach kam es im Block zu Schlägereien unter Anhängern der Kroaten. Die Spieler auf dem Platz versuchten die randalierenden und sich schlagenden Männer auf der Tribüne zu beruhigen. Erst sechs Minuten später hatte sich die chaotische Szenerie einigermaßen beruhigt, Schiedsrichter Mark Clattenburg aus England pfiff die Partie wieder an. Die Kroaten waren nicht mehr auf der Höhe: Nach einem unnötigen Handspiel von Verteidiger Domagoj Vida verwandelte in der Nachspielzeit der ebenfalls eingewechselte Tscheche Tomas Necid den anschließenden Strafstoß zum 2:2. (…) Trainer Ante Cacic bezeichnete die Provokateure auf den Rängen als ‚Sport-Terroristen und Hooligans, die alles ruinieren, was wir tun‘. (…) Beim Qualifikationsrückspiel gegen Italien vor einem Jahr in Split, das vor leeren Rängen hatte stattfinden müssen, war in der Nacht vor der Begegnung ein Hakenkreuz in den Rasen gebrannt worden. Das führte erneut zu einer Sperre, die nächsten beiden Heimspiele in der WM-Qualifikation muss Kroatien ohne Zuschauer spielen“ (Schächter, Tobias, Beschämend, in SZ 18.6.2016). – „Im kroatischen Block kam es zu Schlägereien. Anders als bei den bisherigen Ausschreitungen bei dieser EM gingen nicht Fans rivalisierender Mannschaft aufeinander los, sondern Anhänger aus demselben Lager. (…) Offensichtlich handelt es sich um eine gezielte Sabotage-Aktion der Bad Blue Boys, einer Ultra-Gruppe von Dinamo Zagreb. Die Gruppe liegt im Clinch mit Dinamos windigem Präsidenten Zdravko Mamic, der auch im Verband ein gewichtiges Wörtchen mitzureden hat, und mit Verbandspräsident Davor Suker. Auf ihrer Facebook-Seite bekannten sich die Bad Blue Boys zur Aktion in Saint-Étienne“ (Glinmeier, Mike, Lopez, Edgar, Buchheister, Hendrik, Saboteure im eigenen Block, in spiegelonline 18.6.2016). – „Handelte es sich doch beim Kroaten-Krawall um einen Regionalkonflikt, der sich mit der Arroganz derer, die ihn ständig ausprügeln, an den Fernseh-Objektiven vorgedrängelt hat. Split gegen Zagreb – diese seit Jahren wütende Städteschlacht wurde von der Adria zur EM exportiert. (…) Es gibt jene Ligen wie in Kroatien oder Russland, da traut sich kaum jemand mehr hin, da haben Schläger die Tribünenmacht – und die Familie bleibt zu Hause. (…) Zu Zeiten, in denen in England jene Glatzen regierten, die am ersten EM-Wochenende die Nachrichtensendungen dominiert hatten. Als sie sich in Marseille von einem eingeflogenen russischen Kampfgeschwader verprügeln ließen. 150 stocknüchterne Adrenalin-Junkies aus Moskau und Umgebung verdroschen eine alkoholisierte Überzahl der Alt-Hooligans von der Insel“ (Hoeltzenbein, Klaus, Exportierte Konflikte, in SZ 20.6.2016).

– Ungarische Holligans
„Im Vorfeld des Spiels Island gegen Ungarn ist es im Stade Velodrome in Marseille offenbar zu Schlägereien auf der Tribüne gekommen. Rund hundert Ungarische Ultras, die schon weit über eine Stunde vor Spielbeginn ihre Plätze eingenommen hatten, überkletterten plötzlich in ihrem Fan-Block Absperrungen, um zu einer anderen Gruppe ungarischer Anhänger zu gelangen. Dabei ignorierten sie die Anweisungen der Ordner, zahlreiche Randalierer hatten es bereits über die Absperrung geschafft, ehe die Polizei eingreifen konnte. Die Sicherheitskräfte ging mit Schlagstöcken und Reizgas dazwischen, platzierte anschließend rund hundert Sicherheitskräfte vor dem Block. Minuten vor dem Anpfiff der Partie hatte sich die Lage wieder beruhigt“ (EM-Blog, spiegelonline 18.6.2016).

– Türkische Hooligans
„Nach Russland und Kroatien muss auch der türkische Verband eine Disziplinarstrafe durch die Uefa befürchten: Nach der 0:3-Niederlage der Türkei im EM-Gruppenspiel gegen Spanien in Nizza hat der Verband ein Verfahren wegen des ‚Zündens von Feuerwerkskörpern, des Werfens von Objekten sowie eines Platzsturms‘ eröffnet. Verhandelt wird am Montag“ (EM-Blog, spiegelonline 18.6.2016).

20.6.2016
– Russischer Rechtsradikaler bei Russland-Wales

„Nur zwei Tage nach seiner Ausweisung aus Frankreich ist der Chef der Vereinigung russischer Fußballfans, der Nationalist Alexander Schprygin, zur Fußballeuropameisterschaft nach Frankreich zurückgekehrt – und prompt wieder festgenommen worden. Am Montagabend saß er während des Spiels der Russen gegen Wales in Toulouse schon wieder auf der Tribüne. (…) Schprygin ist Gründer einer zweifelhaften Fan-Organisation und war in der Vergangenheit unter anderem mit dem Hitlergruß aufgefallen. Dass er am Montag ins Stadion gelangen konnte, lässt große Zweifel an der Qualität der Kontrollen bei der Einreise und beim Betreten des Stadions aufkommen“ (Russischer Rechtsaktivist trotz Ausweisung wieder im Stadion, in spiegelonline 20.6.2016).

21.6.2016
Uefa ermittelt gegen Albanien und Rumänien

„Die Fußballverbände von Albanien und Rumänien müssen wegen des Fehlverhaltens ihrer Fans beim Spiel in Lyon (1:0) mit einer Strafe durch die Uefa rechnen. Die Disziplinarkommission der Europäischen Fußball-Union habe am Montag ihre Ermittlungen aufgenommen, teilte ein Uefa-Sprecher mit. In den Blöcken beider Fanlager waren am Sonntagabend Bengalos gezündet und Gegenstände geworfen worden. Gegen die Albaner ermittelt die Kommission außerdem wegen eines Platzsturms“ (DPA, SID, Uefa ermittelt wieder, in SZ 21.6.2016).

– Französische Regierung: Positive Bilanz
„Trotz der Hooligan-Gewalt hat die französische Regierung eine positive Zwischenbilanz der Sicherheitslage bei der EM gezogen. (…) Seit Beginn des Turniers wurden in Frankreich 557 Menschen vorläufig festgenommen, 344 davon mussten für längere Zeit in Polizeigewahrsam. 21 Festgenommene wurden bereits zu Gefängnisstrafen verurteilt, sechs weitere zu Haftstrafen auf Bewährung. Die Behörden wiesen zudem 25 ausländische Fans aus“ (DPA, 557 Festnahmen, 21 Haftstrafen, in SZ 21.6.2016).

– Kroatien kommt billig weg
„Die Disziplinarkommission der Europäische Fußball-Union (Uefa) verhängte am Montagabend für den Skandal von St. Étienne eine überraschend milde Geldstrafe in Höhe von 100 000 Euro. (…) Statt eines befürchteten EM-Auschlusses auf Bewährung wie für Russland gibt es für Kroatiens Verband also nur ein angedrohtes ‚Hausverbot für Hooligans‘ – das überrascht deshalb, weil die Kroaten Wiederholungstäter sind, was Zuschauerausschreitungen angeht. Knapp eine Million Euro musste der Verband HNS in den vergangenen zehn Jahren schon an die Uefa überweisen. Zu den üblichen Vergehen wie dem Abbrennen von Pyrotechnik kommen immer wieder hässliche Zwischenfälle hinzu wie im Juni 2015: Damals behandelten Fans den Rasen im Poljud-Stadion in Split vor dem EM-Qualifikationsspiel gegen Italien so mit Chemikalien, dass sich ein viele Meter großes Hakenkreuz abzeichnete“ (SID, DPA, Milde Strafe für Kroatien, in SZ 21.6.2016).

22.6.2016
– Russische Hooligans schlagen zu – und fahren heim

„Gut, schon mancher ist im Sport nach einem Debakel auf wunderliche Weise auferstanden, aber die Bilder aus Frankreich sind mit keiner Löschtaste mehr zu tilgen. Jene letzten EM-Bilder nicht – jene aus Toulouse, in denen die Russen beim 0:3 gegen Wales einen Steinzeit-Fußball präsentierten, der ihren Vorfahren aus Sowjet-Zeiten (Europameister 1960; Finalist 1964, 1972, 1988) bestenfalls peinlich gewesen wäre. Und jene ersten EM-Bilder nicht – jene aus Marseille, in denen Anhänger der russischen Auswahl im Gassenkampf mit englischen Hooligans Hafen und Altstadt verwüsteten. Zumal es einen Unterschied zu sonstigen an den Fußball angelehnte Straßenschlachten gab. Gelang doch den WM-Gastgebern von 2018 keine klare Distanzierung von dieser Explosion der Gewalt. Weder der Kreml noch der Kreml-nahe Fußball-Fachverband RFS setzten sich überzeugend ab von den paramilitärisch organisierten Schlägertruppen. Selbst in der Stellungnahme von Wladimir Putin klang eine in Ironie gewickelte Akzeptanz für Russlands Nahkämpfer durch. ‚Ich verstehe wirklich nicht‘, so der Staatspräsident unter Applaus bei einem Kongress in St. Petersburg, ‚wie 200 unserer Fans Tausende Engländer aufgemischt haben sollen’“ (Hoeltzenbein, Klaus, Die PR-Panne, in SZ 22.6.2016).

26.6.2016
– Russische Hooligans  feiern Beute

„Ein Turnier, das nicht nur aus sportlicher Sicht für Russland ein Desaster war. Denn die größten Schlagzeilen machten während dieser EM russische Hooligans, die mit einem kostenlosen Charterflug nach Marseille zu dem Spiel gegen England kamen. Gerade mal fünf Insassen dieses Flugs haben die französischen Behörden die Einreise verweigert. Die restlichen Passagiere waren den Franzosen unbekannt und konnten so problemlos die Flughafenkontrollen passieren und in der Hafenmetropole für Angst und Schrecken sorgen. (…) Auf einschlägigen Ultra/Hooligan-Portalen feiern dort die russischen Hooligans ihre „Tour de France“. Nicht nur mit selbst gemachten Logos oder Fotos und Videos von den Schlägereien und ihren Opfern, sondern auch mit Fotos ihrer ‚Trophäen‘. Wie auch bei den Ultra- und Hooliganszenen in Westeuropa üblich, präsentieren sie die erbeuteten Fanutensilien anderer Gruppen. Neben unzähligen Fahnen englischer Fans sind dabei auch Flaggen polnischer und albanischer Fans zu sehen. Die russischen Hooligans zeigen ihre Trophäen so offen, dass dies der ‚Novaja Gazeta‘ ausreichte, die in Marseille beteiligten Hooligangruppen zu identifizieren. 18 unterschiedliche ‚Firms‘, wie Hooligangruppen sich nennen, konnte die kremlkritische Zeitung bisher für die Ausschreitungen verantwortlich machen. Neben so berüchtigten Gruppen wie den ‚Orel Butchers‘, Hooligans des FK Orel oder den Lokomotiv Moskau-Hooligans ‚Funny Friends‘ und ‚Vikinki‘ reiste auch die Hooligangruppe ‚FCV Lads‘ nach Marseille. Eine Gruppierung aus dem Umfeld des lettischen Vereins FK Ventspils, die vorwiegend aus Mitgliedern der russischen Minderheit des baltischen Staats besteht“ (Dudek, Thomas, Trophäenschau im Internet, in spiegelonline 26.6.2016).

3.7.2016
– Deutschland gegen Italien: Hitlergruß auf Fanmeile in Berlin

„Vor dem Spiel Deutschland gegen Italien haben zwei junge Männer auf der Fanmeile in Berlin den Hitlergruß gezeigt. Mehrere Polizeibeamte und andere Zeugen hatten beobachtet, wie ein 19-Jähriger und ein 22-Jähriger den rechten Arm zum Gruß hoben, während die deutsche Nationalhymne gespielt wurde. In einer ersten Befragung räumten beide die Tat ein. Der Staatsschutz ermittelt nun wegen des ‚Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen‘. Die Tat wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder mit einer Geldstrafe bestraft“  (NewsBlog, spiegelonline 3.7.2016).

7.7.2016
– Hooligans 2018

Die internationale Fan-Sprecherin Daniela Wurbs wurde von der Uefa für die EM 2016 beauftragt und übte Kritik an den französischen Sicherheitskräften. „Sorge hat Wurbs vor einer Fortsetzung der Fan-Gewalt bei der WM 2018 in Russland. Bei der EM in Frankreich waren Hooligans aus dem Land des nächsten WM-Gastgebers für die schlimmsten Krawalle verantwortlich. ‚Die russischen Behörden haben noch viel Arbeit zu leisten'“ (DPA, „Noch viel Arbeit“, in SZ 7.7.2016).

8.7.2016
Uefa: Nationalistische Gesinnung unterschätzt

Der interimistische Uefa-Generealsekretär, Theodore Theodoridis, zur EM 2016: „Beim Hooligan-Problem seien der Uefa teilweise die Hände gebunden. Man habe nicht die Hooligans per se unterschätzt, sondern vielmehr ihre Gewaltbereitschaft und ihre extreme nationalistische Gesinnung. Man sei aber in ständigem Austausch mit den Behörden gewesen. In Zukunft sei es eine Option, Hochrisiko-Spiele nicht erst am Abend auszutragen“ (Burgener, Samuel, Die Geldmaschine der Uefa läuft, in nzz.ch 8.7.2016).

29.7.2016
– Vier russische Hoologans auf Bewährung

„Der Staatsanwalt hatte für alle Beklagten Bewährungsstrafen von mehr als einem Jahr gefordert. Nach seiner Ansicht wurde der Fall nicht umsonst in der Abteilung für politische Delikte angesiedelt: ‚Es handelte sich ganz klar um eine Auseinandersetzung zwischen Rechtsradikallen und linksmotivierten Opfern“ (DPA, Attacke auf Touristen, in SZ 30.7.2016). Der Richter folgte dem nicht. „Vier russische Hooligans sind wegen einer Attacke auf spanische Touristen am Kölner Dom zu Bewährungsstrafen verurteilt worden. Das Kölner Amtsgericht verurteilte drei der Angeklagten zu zehn Monaten und einen zu einem Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung. Die Angeklagten hatten gestanden, Mitte Juni zwei Männer und eine Frau aus Spanien angepöbelt zu haben, als diese Aufkleber mit antifaschistischen Aufdrucken auf Türen klebten. Dann gingen die Hooligans auf die beiden Männer los, schlugen und traten auf sie ein. Eines der Opfer erhielt noch einen Tritt ins Gesicht, als es schon am Boden lag – es erlitt einen Nasenbeinbruch“ (DPA, Touristen verprügelt – russische Hooligans verurteilt, in spiegelonline 29.7.2016).

Aus einem Kommentar von Christian Parth in spiegelonline: „Die mutmaßlichen Täter: Zwei Köche, ein Manager einer Uhrenfirma, ein Wirtschaftsprüfer und ein Mathelehrer, im Alter zwischen 26 und 30 Jahren, angeklagt der gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung. Die Opfer: Zwei spanische Touristen, die an jenem Tag Antifa-Aufkleber an eine Metalltür klebten. ‚Antifa?‘, hätten die Russen gefragt. ‚Antifa!‘, hätten die Spanier geantwortet. Danach flogen die Fäuste. Die 21 und 24 Jahre alten Spanier gingen zu Boden, Tritte ins Gesicht folgten. Das Ergebnis: ein offener Nasenbeinbruch, Prellungen, Schürfwunden. ‚Die Motivation war menschenverachtend, minderwertig, verächtlich, ideologisch‘, sagt Willuhn mit einiger Schärfe und blickt dabei in die entsetzten Gesichter der sechs Verteidiger. (Parth, Christian, Verkannte Dimension, in spiegelonline 29.7.2016). Staatsanwalt Willuhn hatte für die Täter Strafen von einem Jahr und drei Monaten bis zu einem Jahr und neun Monaten gefordert. „Das Schöffengericht verurteilte den Haupttäter zu einem Jahr, die anderen drei zu zehn Monaten Haft auf Bewährung. Das Verfahren gegen den fünften Angeklagten wurde abgetrennt, da er eine Tatbeteiligung weiterhin bestreitet. Gegen einen sechsten Verdächtigen wird weiterhin ermittelt“ (Ebenda). Das Schöffengericht sah keinen Zusammenhang zu rechtsradikalem Gedankengut. „Doch so ganz harmlos scheinen die fünf Russen nicht zu sein. Mindestens zwei von ihnen wurden auf Kameraaufnahmen wiedererkannt, die sie im Stadion von Marseille zeigen, beim EM-Vorrundenspiel Russland gegen England. Vor und während der Partie war es zu schweren Ausschreitungen mit zahlreichen Verletzten gekommen. Auch bei den anderen Angeklagten seien später Tickets für das Spiel gefunden worden.

Jun 042016
 
Zuletzt geändert am 29.12.2017 @ 16:40

4.6.2016, aktualisiert 29.12.2017

Gianni Infantino wurde am 26.2.2016 als Fifa-Präsident und Blatters Nachfolger gewählt. In kürzester Zeit entpuppte sich der frühere Uefa-Generalsekretär von Michel Platini (inzwischen auf Jahre von der Fifa gesperrt) als „würdiger“ Nachfolger von Sepp Blatter. Oder wie Thomas Kistner in der SZ anlässlich des Fifa-Kongresses im Mai 2017 in Bahrain schrieb: „Sepp Blatter light. So ist der Schweizer Gianni Infantino oft genannt worden, seit er vor gut einem Jahr das Präsidentenamt im Fußball-Weltverband Fifa übernommen hat. Inzwischen stellt sich die Frage, ob dem 47-Jährigen diese Bezeichnung noch gerecht wird. (…) Schon geklärt ist hingegen, welcher Part Sepp Blatter in der endlosen Skandalchronik des Weltfußballs gebührt: Er war Infantino light“ (Kistner, Thomas, Der Kapitän spielt foul, in SZ 11.5.2017).

Im Folgenden eine kleine Chronologie der Ereignisse.

– Auch Infantino schmeißt mit Geld um sich
„Die Fifa hat nicht nur Blatters letzten Lohn offengelegt, sondern auch die Bezüge der Mitglieder des Exekutivkomitees (festes Jahresgehalt von 300 000 Dollar); außerdem auch den Jahreslohn von Domenico Scala (200 000 Dollar) oder des Generalsekretärs Jérôme Valcke (2,1 Millionen Franken). Dieser ist seit September suspendiert. (…) Wichtiger als die transparenten Löhne ist für die Fifa, dass sie weiter 550 Millionen Dollar hinter den Zielen für die Geschäftsperiode 2015-2018 liegt. Präsident Infantino sagt dennoch: ‚Mit den jüngst verabschiedeten Reformen glaube ich, dass die Fifa gestärkt aus diesen Ereignissen hervorgehen wird.‘ Er hat angekündigt, das Budget für Fussballförderung von 900 Millionen Dollar um 517 Millionen zu erhöhen. Es ist ein bewährtes Rezept: Sinnkrisen mit Geld zu vertreiben“ (Clalüna, Flurin, Es regnet kein Geld mehr, in nzz.ch 17.3.2016).

– Der Infantino fällt nicht weit vom Blatter
Der chinesische Konzern Wanda des chinesischen Milliardärs Wang Jianglin wird Top-Sponsor der Fifa bis zur WM 2030. Wandas Topmanager ist „Philippe Blatter: der Neffe, enge Vertraute und auch langjährige Geschäftspartner des Skandalfunktionärs Sepp Blatter, in dessen Ägide sich der Weltverband in eine Sumpflandschaft verwandelt hat. Wanda hat jüngst für eine Milliarde Euro die Schweizer Sportagentur Infront erworben, der Blatters Neffe bis dahin vorstand. Für Insider zeichnete sich der Geschäftsdreh der Fifa Richtung Fernost schon ab, als Sepp Blatter bei seiner Wiederwahl im Mai 2015 Wanda-Boss Wang in Reihe eins des Kongresssaals platzierte, zur Rechten von Neffe Philippe“ (Kistner, Thomas, Blatter hilft Fifa, in SZ 19.3.2016). Also kein neuer Kurs – auch nicht unter dem neuen Fifa-Präsidenten Gianni Infantino: „Infantino sieht die intensive Verquickung mit Blatters Netzwerk aber so unproblematisch wie ein anderes Fußballengagement von Wanda… Und schließlich will China auch die WM 2026 ausrichten. Dafür werden offenbar schon erste Weichen gestellt“ (Ebenda).

– Von Sepp Blatter zu Philippe Blatter: und die Fußball-WM 2026 in China (?)
Zum neuen FifaTop-Sponsor Wanda, den Gianni Infantino nicht zufällig aus dem Hut gezaubert hat, schreibt Thomas Kistner in einem Beitrag in der SZ: „Die Fifa gibt sich ja nun gern den Anschein, als sei sie voll auf Reformkurs; fromme Compliance-Regeln hat sie sich verordnet. Was die wert sind, zeigt gleich der erste Sponsorendeal in der Ägide des Präsidenten Gianni Infantino: Wo nirgendwo mehr Blatter draufstehen darf, steckt so viel Blatter drin wie stets. Der chinesische Konzern Wanda wird Fifa-Topsponsor, das heißt: Die Muttergesellschaft eines wichtigen Fifa-Vermarkters wird zugleich Fifa-Geldgeber. Infantino findet, so ein Vertrag-Strickwerk genüge ‚höchsten Standards‘. Compliance nach Fifa-Art. Wenn sich die westliche Welt abkehrt, wendet sich die Fifa eben der östlichen zu. In Partnern wie Wanda oder Putins Energiekonzern Gazprom sieht sie die Zukunft. Solche Partner nerven auch nicht mit Anstandsappellen wie mancher verbliebene westliche Topsponsor: Coca-Cola, Visa, McDonald’s, Adidas. Unübersehbar sind die Zeichen der Zeit; Russland und Katar haben die WM bereits, China will die nächste. Das Turnier 2026 soll her, Staatschef Xi Jinping persönlich äußerte diesen Wunsch – auch an die Adresse des Herrn Wang. Der Milliardär arbeitet nun daran. Dass Wanda über Infront auch Anteile am Ticket- und Hospitality-Partner der Fifa hält, der Match Hospitality AG, rundet das Paket ab“ (Kistner, Thomas, Zurück in die Zukunft, in SZ 21.3.2016).

– Chefaufseher Domenico Scala tritt zurück
Auf dem Fifa-Kongress in Mexiko-Stadt ernannte Fifa-Präsident Gianni Infantino (im Alleingang) überraschend die senegalesische Diplomatin Fatma Samoura zur Fifa-Generalsekretärin (Senegalesin wird Fifa-General, in SZ 14.5.2016). Infantino ließ am 14.5.2016 den Fifa-Kongress auch beschließen, „dass das Council bis zum kommenden Jahr die Mitglieder der Audit- und Compliance-Kommission, der Ethikkommission, der Disziplinarkommission und der neuen Governance-Kommission selbst berufen und entlassen kann. Dieses Recht ist nach den Statuten eigentlich dem Kongress vorbehalten. Pikant ist die Entscheidung deshalb, weil die Kommissionen die Council-Mitglieder kontrollieren sollen, von denen sie nun berufen und entlassen werden können“ (Fifa-Macher wählen ihre Kontrolleure künftig selbst, in spiegelonline 14.5.2016). Chefaufseher Domenico Scala verließ aus Protest den Saal des Fifa-Kongresses – und trat zurück.
„Die Fifa und ihr neuer Präsident Gianni Infantino müssen einen empfindlichen Rückschlag in ihren Reformbemühungen hinnehmen. Chefaufseher Domenico Scala hat nach einer umstrittenen Entscheidung des Fußball-Weltverbands beim Kongress in Mexiko-Stadt seinen Rücktritt erklärt. Der Schweizer reagierte damit auf den Beschluss, dass der Fifa-Council für ein Jahr ermächtigt wurde, Mitglieder der eigenen Kontrollinstanzen zu benennen oder zu entlassen. Diese Aufgaben obliegen eigentlich dem Kongress, der Versammlung der 211 Fifa-Mitgliedsverbände. ‚Die Gremien werden damit faktisch ihrer Unabhängigkeit beraubt und drohen zu Erfüllungsgehilfen derjenigen zu werden, die sie eigentlich überwachen sollten‘, schrieb der Vorsitzende der Audit- und Compliance-Kommission in seiner Rücktrittserklärung. (…) ‚Ich bin über diesen Beschluss konsterniert, da damit eine zentrale Säule der Good Governance der Fifa untergraben und eine wesentliche Errungenschaft der Reformen zunichte gemacht wird’“ (Fifa-Chefaufseher Scala tritt zurück, in spiegelonline 14.5.2016).

Michael Ashelm veröffentlichte in faz.net Details zum Agieren von Infantino gegen Scala:
„In Ermangelung plausibler Gründe konstruierten die Funktionäre des Councils bei ihrem Treffen in Mexiko einen Fall, um den Chefkontrolleur Scala absetzen zu können – über den Kongress. Als einziger im abgeschirmten Sitzungssaal wendete sich Fifa-Vizepräsident David Gill aus England aktiv der Stimmung entgegen“ (Ashelm, Michael, Aussagen und Protokolle belasten Fifa-Präsident Infantino, in faz.net 27.5.2016). – „Grundlage der Berichterstattung über das Verhalten der Funktionäre sind Tonaufnahmen von den betreffenden Council-Sitzungen in Mexiko-Stadt hinter verschlossenen Türen. Sie bestätigen die im Bericht der F.A.Z. aufgeführten Gedächtnisprotokolle Daraus  geht hervor, dass  der Fifa-Chefkontrolleur Domenico Scala vor dem Fifa-Kongress auch auf Betreiben des neuen Präsidenten Infantino gezielt aus dem Amt getrieben werden sollte“ (Ashelm, Michael, Die nächste Fifa-Krise, in faz.net 29.5.2016). – „Infantino gerät drei Monate nach seiner Wahl weiter unter Druck. Es verdichten sich die Hinweise, dass gegen ihn schon eine offizielle Voruntersuchung der Ethikkammer eröffnet wurde. Vorausgegangen war eine Meldung aus der Audit- und Compliance-Kommission an die Fifa-Ermittler, bei der Fragen um Spesenabrechnungen Infantinos und um einen angeblich geplanten Hauskauf in Zürich über 25 Millionen Franken aufgeworfen wurden. Infantino brachte die Informationen bei der Sitzung am 10. Mai selbst ins Spiel und berichtete über einen Kontakt zum Ermittlungskammer-Vorsitzenden Cornel Borbély. (…) Aus Sicht des Strafrechtsprofessors Pieth hat Infantino bei seiner Aussage vor den Council-Mitgliedern zu der Einschätzung des Ermittlungskammerchefs Borbély ein heikles Feld betreten. ‚Es könnte sich hier der Eindruck der Befangenheit bei der Ethikkommission ergeben‘, sagt Pieth. Gemeint ist damit, dass die Fifa-Ermittler dem Präsidenten einen Informationsvorteil verschafft haben könnten, falls die Darstellung stimmt. Pieth fordert, dass Borbély trotzdem aktiv wird und sich erklärt“ (Ashelm, Michael, Die nächste Fifa-Krise, in faz.net 29.5.2016). – „Gianni Infantino, der Präsident des Internationalen Fußball-Verbandes (Fifa), hat die Anweisung zum Löschen von Tonaufnahmen gegeben, die ihn und Kollegen des Fifa-Führungsgremium belasten. Das geht aus einem E-Mail-Verkehr hervor, der FAZ.NET vorliegt. Die Aufzeichnungen belegen die Darstellung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass bei zwei Treffen des höchsten Fifa-Gremiums im Vorfeld vom Kongress in Mexiko-Stadt Mitte Mai hinter verschlossenen Türen auf Betreiben Infantinos eine Intrige zur Absetzung des Fifa-Chefkontrolleurs Domenico Scala diskutiert worden war. Außerdem äußert sich der Präsident zu seiner Bezahlung: Er wolle das von der Fifa-Vergütungskommission festgesetztes Gehalt nicht akzeptieren – angeblich zwei Millionen Franken im Jahr. Der vorgesehene Betrag sei für ihn ‚beleidigend‘, hatte Infantino gesagt“ (Ashelm, Michael, Fifa  verstrickt sich in neue Widersprüche, in faz.net 3.6.2016). – „Die auch FAZ.NET vorliegenden Tonaufzeichnungen und Dokumente zu den Fifa-Sitzungen vor knapp drei Wochen in Mexiko-Stadt, bei denen die Verbandsspitze unter Präsident Gianni Infantino hinter verschlossenen Türen tagte, ergeben eine übereinstimmende Quellenlage. Tatsächlich wurden von den Funktionären in den Meetings unter anderem folgende Aussagen (in englischer Originalsprache) zu den Diskussionspunkten getroffen. (…) 1. Fifa-Präsident Gianni Infantino äußert sich kritisch zu dem von der Fifa-Vergütungskommission im Februar festgesetzten Gehalt. Angeblich sollen es rund zwei Millionen Franken im Jahr sein. Danach sagt der Fifa-Chef höhnisch, dass ihm die Kollegen im Council womöglich Geld leihen müssten…2. Infantino informiert die anwesenden Council-Mitglieder über eine ‚Beschwerde‘ des Vorsitzenden der Audit- und Compliance-Kommission, Domenico Scala, an die Ermittlungskammer der Fifa-Ethikkommission und deren Chef Cornel Borbély. Es geht um Spesenabrechnungen und einen angeblichen Hauskauf über 25 Millionen Franken der Familie Infantino. (…) Wenn ein Rückzug im beiderseitigen Einvernehmen nicht gelänge, verweist er auf zwei Möglichkeiten, Scala aus der Fifa zu drängen: Entweder sollte im Kongress ein Nationalverband die Abwahl des Compliance-Chefs einbringen. Die andere Variante: Mit der neuen im Kongress geholten Vollmacht, das dem Fifa-Council für ein Jahr die Vollmacht gibt, können Mitglieder der Kontrollgremien fortan vom Council direkt entfernt werden. Dies ist ein Bruch der Gewaltenteilung. Infantino meint, Scala könne dann darüber in ein oder zwei Wochen entlassen werden“ (Ashelm, Michael, was Fifa-Chef Infantino hinter verschlossenen Türen wirklich sagte, in faz.net 30.5.2016).

Fifa „hoffnungsloser Fall“
Aus einem Kommentar von Peter Ahrens in spiegelonline: „Wahrscheinlich ist die Fifa einfach ein hoffnungsloser Fall. Neuanfang, Umbruch, Zeitenwende – all die großen Worte, die rund um den Amtsantritt von Gianni Infantino gefallen sind, sind gleich beim ersten Check als Luftnummern enttarnt worden. Der Beschluss des Kongresses von Mexiko-Stadt, sich die Kontrolleure des Reformprozesses selbst erwählen und auch wieder feuern zu können – das ist beste Politik im Sinne des skandalösen Amtsvorgängers Joseph Blatter. Der Rücktritt des düpierten Chefaufsehers Domenico Scala ist die einzig logische und integre Reaktion darauf gewesen. (…) Infantino, der Medienprofi, weiß genau, welches miserable Image der Weltverband sich in den vergangenen Jahrzehnten erarbeitet hat. Das öffentliche Ansehen der Fifa dürfte ungefähr auf Augenhöhe mit der Mafia angesiedelt sein. Das hat sie João Havelange und Joseph Blatter zu verdanken, den beiden früheren Präsidenten, dazu Typen wie Mohammed Bin Hammam und Jack Warner, den Meistern des Gebens und Nehmens im berüchtigten Exekutivkomitee. Das alles ist (noch) nicht Infantinos Schuld“ (Ahrens, Peter, Dann kann sich die Fifa gleich auflösen, in spiegelonline 14.5.2016).
Aus einem Beitrag von Thomas Kistner in der SZ zur Personalie Fatma Samoura als Fifa-Generalsekretärin: „Politisch ist die Personalie Samoura peinlichst korrekt: Wer traut sich, da Kritik anzumelden? In der Praxis sieht es so aus, dass die neue Vorstandschefin keinerlei Erfahrung im Sport oder im Marketing mitbringt, erst recht keine in der Führung eines globalen Milliardenbetriebs. Über Nacht bekam die UN-Mitarbeiterin ein Amt, das sie in Lottogewinner-Dimensionen katapultiert: Zwei bis drei Millionen Franken inklusive Boni kann es einbringen. Es wird aber dauern, bis sich Samoura in die äußerst verfilzte Fußballbranche eingelebt hat. (…) Samoura erwählte Infantino vorbei am Vorstand, der in ein 36-köpfiges Council umgewandelt wurde, vorbei an der Kongress-Agenda, die das Thema nicht führte. Und vorbei am Medienstab, der öffentlich stets auf eine Beschlusslage im späten Sommer verwies. (…) Hinzu kommt ja ein zweiter Coup, mit dem Infantino soeben einen lästigen Aufseher los wurde: Domenico Scala. Der Chef des Compliance-Komitees hat maßgeblich die Reformen vorangetrieben; er saß auch dem Entschädigungskomitee vor, das vor Wochen die Saläre von Präsident und Generalsekretär festlegte. Scalas Gremium verfügte, dass Infantinos Salär unter dem der Generalsekretärin liegt; der Präsident hat ja keine operative Aufgabe mehr. (…) Jedenfalls überrumpelte Infantino die Delegierten nicht nur mit seinem Samoura-Solo. Der Kongress sollte plötzlich, ohne nähere Darlegung, auch abnicken, dass bis Mai 2017 nur das Council die Mitglieder der bisher unabhängigen Komitees für Compliance und der zwei Ethikkammern ernennen darf – und auch absetzen. Die Regelung wurde damit begründet, dass nur so die Vakanzen in den Gremien rasch behoben werden könnten. In der Tat sind gerade wieder einige Personalvorschläge am internen Integritätscheck gescheitert. Aber das Recht zur Abberufung schafft Brisanz. Es dürfte auch die US-Justiz interessieren, die die Reformversuche der Fifa aufmerksam verfolgt“ (Kistner, Thomas, Wie zu Blatters Zeiten, in SZ 17.5.2016).
Und im Spiegel bezeichnete die Berliner Sportrechtsexpertin Laila Mintas die Personalie Samoura als „eine große PR-Nummer“: In Wahrheit, so Mintas, verberge sich hinter dieser ’smarten Lösung‘  das Interesse Infantinos, als Generalsekretärin ‚eine  schwache Figur neben sich zu platzieren“ („Schwache Figur“, in Der Spiegel 22/28.5.2106).

– Infantino: Kritik an Samoura „sexistisch, rassistisch“
„Tatsächlich hat sich Infantino allerlei geleistet in nur 100 Tagen Amtszeit. Er akquirierte heimlich eine Generalsekretärin, deren Befähigung als Weltfußballchefin angezweifelt werden darf, eingedenk ihrer Karriere im mittleren UN-Management. 20 Jahre war Fatma Samoura in Afrika tätig, vom Umgang mit Milliardenbudgets dürfte sie vermutlich so wenig Ahnung haben wie von dem Fußballgeschäft, das sie nun dirigieren soll. Die erste leise Verwunderung über die Personalie aus dem Senegal kontert Infantino aber wie zu vermuten war: politisch korrekt. Er hält die Skepsis für ’sexistisch, wenn nicht sogar rassistisch'“ (Kistner, Thomas, Manöver in der Unterwelt, in SZ 7.6.2016).

Fifa-Finanzchef Markus Kattner entlassen
Gegen Kattner lief ein Ermittlungsverfahren der Fifa-Ethikkommission. Er soll Sonderzahlungen von umgerechnet rund 4,5 Millionen Euro nach der Fußball-WM 2010 und 2014 erhalten haben. Am 23.5.2016 wurde er fristlos gekündigt – „wegen Verletzung seiner treuhänderischen Verantwortung“ (Fifa soll gegen Kattner ermitteln in spiegelonline 26.5.2016).

– Steckt Infantino hinter Kattners Entlassung?
Zwischen Kattner und Fifa-Präsident Infantino hatte es in letzter Zeit Konflikte gegeben. “Infantino ist offenkundig darauf aus, die Fifa auf seine Linie zu bringen und sich seinen eigenen Führungsstab zusammenzustellen. Beim Kongress in Mexiko vor knapp zwei Wochen präsentierte er – überraschend selbst für die Vorständler des Weltverbandes – die Fußball-unerfahrene UN-Diplomatin Fatma Samoura aus  dem Senegal als neue  Generalsekretärin… die Vermutung, dass Infantino hofft, die Seiteneinsteigerin besser steuern zu können als etwa Kattner, liegt nahe“ (Aumüller, Johannes, Mehr als nur Millionen-Boni, in SZ 25.5.2016).
Unter dem Titel „Der nächste Autokrat“ beschreibt Thomas Kistner in der SZ die Fifa-Politik Infantinos: „Im Korruptionssumpf steckt sie schon länger, nun versinkt die Fifa im Führungschaos. Die ersten 100 Tage als Präsident sind nicht absolviert, da steht Gianni Infantino bereits im Epizentrum eines Bebens. Und es ist kein Beben, das aus der Ära des gesperrten Sepp Blatter rührt. Es ist selbst verschuldet. (…) Seiner beiden größten Widersacher hat sich der neue Fifa-Chef schon entledigt, Domenico Scala und Markus Kattner. Erst wurde Compliance-Chef Scala auf eine Art aus dem Amt getrieben, die in scharfem Widerspruch zur neuen Reform- und Transparenz-Linie steht. Die Lesart von einem ‚Komplott‘ der neuen Führung transportieren diverse Quellen im Fifa-Umfeld. (…) Es sollen harte Attacken gegen den Compliance-Chef gewesen sein – dem beim folgenden Fifa-Kongress ein Beschluss präsentiert wurde, der ihn zum Rücktritt nötigte. Infantino ließ, in einer handstreichartigen Abstimmung, das Fifa-Council für ein Jahr ermächtigen, im Alleingang die Mitglieder der zuletzt gefürchteten hauseigenen Kontrollinstanzen zu benennen. Und auch, dies wurde dem Wahlvolk nebenbei untergejubelt: zu entlassen. Das konnte Scala, der maßgeblich am Reformprogramm mitgewirkt hatte, nicht akzeptieren. Er trat zurück. (…)  Jedenfalls hatte Kattner mit Scala manches gemeinsam: Beide haben Infantino schwer zugesetzt – womöglich, indem sie sich zu sehr an die neuen Regeln hielten. Sehr nachdrücklich zum Beispiel, berichten informierte Kreise, sei der neue Fifa-Boss auf seinen Spesenrahmen hingewiesen worden. Vor allem aber soll sein Präsidentensalär, das ein neuerdings zuständiges Vergütungskomitee errechnet hat – rund zwei Millionen Schweizer Franken pro Jahr – Infantinos Zorn erregt haben. (…) Die Ungeniertheit, in welcher der als Reformer angetretene neue Boss seine Interessen durchsetzt, lässt Schlüsse auf das interne Reizklima zu. Da wird gefeuert und gedroht. (…) Öffentliche Spekulationen, wonach Ethik-Chefermittler Cornel Borbély Anzeigen gegen Infantino umgehend diesem selbst vorgetragen und damit womöglich gegen Regeln verstoßen habe, folgten prompt. Und sind problematisch: Zum einen stellen sie die Unabhängigkeit der zuletzt gut funktionierenden Ermittlerschiene in Frage. Zum anderen könnte derlei Vorgehen kein Verstoß, sondern Teil einer Vorermittlung sein“ (Kistner, Thomas, Der nächste Autokrat, in SZ 30.5.2016).

– Vom „Erneuerer“ zum Post-Blatter
Elmar Wagner in der NZZ: „Angetreten ist Gianni Infantino als Erneuerer. Doch der Fifa-Präsident ist keine 100 Tage im Amt und produziert eine negative Schlagzeile nach der anderen. (…) Aus den Protokollen (der FAZ; WZ) wird klar, dass  Infantino den Chef der Audit- und Compliance-Kommission, Domenico Scala, loswerden wollte“ (Wagner, Elmar, Infantino hat ein Problem, in nzz.ch 1.6.2016). Infantino hat selbst beim Kongress in Mexiko auf zwei Möglichkeiten hingewiesen, Scala loszuwerden: „Ein Verband beantragt am Kongress die Abwahl des Compliance-Chefs. Oder das Council erhält die Vollmacht, die Mitglieder der Kontrollgremien selbständig zu entlassen. Dieser Ansatz wurde in letzter Minute in die Traktandenliste gehievt und vom Kongress genehmigt – worauf Scala per sofort zurücktrat. (…) Womöglich liegt der Schlüssel dazu aber im Lohnangebot für Infantino. Angeblich hatte Scala als Chef der Vergütungskommission Infantino ein Angebot über zwei Millionen Franken pro Jahr gemacht. Infantino bezeichnete dieses gegenüber dem Council als ‚Beleidigung‘ und höhnte, dass er vielleicht bald den einen oder andern unter ihnen mangels Geld anpumpen müsse“ (Ebenda).
Und Jens Weinreich in spiegelonline: „Infantino hat es binnen drei Monaten geschafft, in der Tradition seines Landsmanns und Vorgängers Joseph Blatter öffentlich jeglichen Kredit zu verspielen und die Fifa-Verwaltung nach seinem Gusto zu gestalten. Seine Kandidatin, Frau Samoura, die sich keinem Ausschreibungsprozedere stellen musste, durfte in Zürich brav die neuen Personalien verkünden. (…) Für die Finanzen und die Administration steigt der bisherige Rechtsdirektor Marco Villiger zum Stellvertreter Samouras auf. Dabei zählt der Schweizer Villiger zur alten Führungscrew des gesperrten ehemaligen Generalsekretärs Jérôme Valcke und des vergangene Woche unter undurchsichtigen Umständen entlassenen Valcke-Stellvertreters und Finanzchefs Markus Kattner. Villiger, Valcke und Kattner waren Lieblinge von Blatter – sie haben in ihren Verantwortungsbereichen allesamt mehr als ein Jahrzehnt das System Fifa abgesichert. Eine juristische Würdigung ihres Wirkens steht noch aus. Es ist keinesfalls unwahrscheinlich, dass es nach Valcke und Kattner auch Villiger in den Strudel des Finanzskandals reißt. (…) Alarmierend sind Aussagen Infantinos vor dem Council, wonach Cornel Borbély, Chef der Ermittlungskammer der Ethikkommission, den Präsidenten über Anzeigen gegen ihn informiert habe. Dabei ging es auch um den von der Familie Infantino geplanten Kauf eines Anwesens in Zürich für 25 Millionen Franken. Borbély habe die Anzeigen in den Papierkorb befördert, behauptete Infantino“ (Weinreich, Jens, Von wegen Aufklärer, in spiegelonline 1.6.2016).

Fifa-Zentrale am 2.6.2016 durchsucht
Joseph Blatter ist weiter im Visier der Schweizer Ermittlungsbehörden. Die Strafverfolger haben erneut die Zentrale des Fußball-Weltverbands Fifa durchsucht. Hintergrund der bereits am Donnerstag durchgeführten Razzia sei das laufende Verfahren gegen den ehemaligen Fifa-Präsidenten Joseph Blatter und den früheren Generalsekretär Jérôme Valcke. Das bestätigte die Bundesanwaltschaft am Freitag“ (Fifa-Zentrale in Zürich durchsucht, in spiegelonline 3.6.2016).

– 79 Millionen Franken für Blatter, Valcke und Kattner
„Zwei Anwälte der Kanzlei Quinn Emanuel Urquhart & Sullivan, die den Weltverband seit Mitte 2015 quasi unter Zwangsverwaltung hat, gaben auf einer Telefonkonferenz atemraubende Zahlen bekannt: Allein in den vergangenen fünf Jahren haben demnach der langjährige Präsident Joseph Blatter (Schweiz), Generalsekretär Jérôme Valcke (Frankreich) und Finanzchef Markus Kattner (Deutschland/Schweiz) mindestens 79 Millionen Schweizer Franken kassiert. Diese Zahl könnte sich nach weiteren Ermittlungen noch erhöhen, erklärten die Anwälte William Burck (USA) und Thomas Wehrlen (Schweiz). (…) Für die WM in Südafrika kassierte Blatter demnach eine Prämie von elf Millionen Franken, Valcke kassierte neun Millionen, Kattner drei Millionen. Laut den Anwälten unterschrieb Blatter die Auszahlung für Valcke, Blatter und Valcke unterschrieben die Zahlung an Kattner, Valcke und Grondona unterschrieben für Blatters Bonus. So ging das über Jahre in einem fort. Die WM-Prämien für Südafrika, so erklärten die Anwälte, seien möglicherweise sogar ohne vertragliche Grundlage gezahlt worden. Die internen Ermittlungen dauern an, strafrechtliche Ermittlungen beginnen erst. Für die WM 2014 in Brasilien kassierte Valcke nach den Unterlagen einen Bonus von zehn Millionen, Blatter zwölf Millionen und Kattner vier Millionen. Für die WM 2018 in Russland sollen Blatter und Grondona am 10. Juni 2014 weitere elf Millionen für Valcke und 4,5 Millionen für Kattner genehmigt haben“ (Weinreich, Jens, Fifa überwies 71 Millionen Euro an Blatter und andere Top-Funktionäre, in spiegelonline 3.6.2016; Hervorhebung WZ).

– Wie lang bleibt Infantino noch Fifa-Präsident?
Aus einem Beitrag von Jens Weinreich in spiegelonline: „Als nach dem Mexiko-Kongress die Vorgänge um Scalas Rücktritt diskutiert wurden und ein Detail nach dem anderen öffentlich wurde, schrieb Infantino einen Kommentar für die ‚Neue Zürcher Zeitung‘ unter der Überschrift ‚Fakten statt Spekulationen‘. Er versprach, ‚die neue Fifa auf den Grundwerten Professionalität, Glaubwürdigkeit und Vertrauen‘ aufzubauen. Schon als langjähriger Generalsekretär des europäischen Verbandes UEFA und wichtigster Mann des wegen Korruption gesperrten damaligen UEFA-Präsidenten Michel Platini hat Infantino aber nachweislich Fifa-Reformen blockiert, etwa als er Anfang 2013 die europäischen Verbände aufforderte, wichtige Statutenänderungen abzulehnen – was diese schriftlich dokumentierten. Anfang April 2016 hatte die Staatsanwaltschaft die UEFA-Zentrale durchsucht, nachdem innerhalb der Berichterstattung über die Panama Papers auch ein reichlich dubioser, offensichtlich nicht marktgerechter TV-Vertrag verhandelt wurde, den Infantino in seiner UEFA-Zeit unterschrieben hatte. Einige Personalien im UEFA-Reich werfen bis heute andere Fragen auf. Einer von Infantinos wichtigsten Helfern, der amtierende UEFA-Präsident und Fifa-Vize Ángel María Villar Llona aus Spanien, muss sich in Kürze vor einem Strafgericht verantworten, weil er angeblich satzungswidrig die Wahlen im spanischen Fußballverband hinauszögert, den er seit 1988 trotz ungezählter Skandale führt. Sein Sohn Gorka, der als Generalsekretär des südamerikanischen Verbandes CONMEBOL fungiert, wird in Uruguay mit Haftbefehl gesucht. Ihm werden zahlreiche Vergehen vorgeworfen, so etwa Erpressung, Unterschlagung beträchtlicher Geldsummen und Aktenvernichtung. Gut möglich, dass Gorka Villar in Kürze auf der Fahndungsliste von Interpol auftaucht. Zu derlei Vorgängen um seine Vertrauten wie die Villars äußert sich Fifa-Präsident Gianni Infantino kaum“ (Weinreich, Jens, Misstrauen gegen Fifa-Chef Infantino wächst, in spiegelonline 3.6.2016).

– Wie das Fifa-Millionenspiel funktionierte
„Die Zahlungen beruhten weitgehend auf diskreten Vereinbarungen, die nur Blatter, Valcke sowie der im Juli 2014 verstorbene, langjährige Blatter-Stellvertreter Julio Grondona (Argentinien) unterzeichnet hatten. Die von Anwälten der US-Großkanzlei Quinn Emanuel beratene Fifa listete am Freitag detailliert eine Fülle von Verträgen auf, die dem früheren Führungstrio diese Millionenzahlungen sicherten. Demnach sollen die drei etwa am 1. Dezember 2010 insgesamt 23 Millionen Franken an Bonus-Zahlungen für die abgelaufene WM in Südafrika erhalten haben: Blatter elf, Valcke neun, Kattner drei. Für die WM 2014 sollen Zusatzleistungen in Höhe von zusammengerechnet 14 Millionen Franken ausgezahlt worden sein, für die WM 2018 seien 15,5 Millionen vereinbart gewesen. Für alarmierend hält die Fifa zudem, dass finanzielle und vertragliche Vereinbarungen wiederholt zu sportpolitisch markanten Zeitpunkten stattfanden. So erhielten Valcke und Kattner vier Wochen vor der Präsidentschaftswahl am 1. Juni 2011, als völlig unklar war, ob Blatter den Machtkampf gegen den einflussreichen Katarer Mohammed bin Hammam gewinnen würde, üppig ausgestattete 8,5-Jahres-Verträge. Damit seien den zwei Hauptamtlichen auch mögliche Zuwendungen in Höhe von bis zu 17,5 (Valcke) bzw. 9,8 Millionen Franken (Kattner) gesichert worden. (…) Quellen nahe an den internen Ermittlungen beschrieben die Kriterien für die Boni-Wirtschaft auf der Chefetage als entlarvend dünn: Honoriert worden sei etwa, dass bei WM oder Confed-Cup alle Spiele gespielt und die Sieger korrekt festgestellt worden seien. (…) Besonders heikel muten jetzt auch die Vorgänge von Ende Mai 2015 an. Am 27. Mai wurden in Zürich sieben Spitzenfunktionäre sowie zahlreiche Sportmanager in anderen Ländern festgenommen. Am 29. Mai ließ sich Blatter trotz massiver internationaler Proteste in eine fünfte Amtszeit wählen; schon vier Tage später kündigte er seinen Rücktritt an. Am Wochenende dazwischen, dem 30. und 31. Mai, wurden üppige Verträge aufgesetzt. Samstags erhielt Blatter einen neuen Arbeitsvertrag, der ihm drei Millionen Franken Jahresgehalt, einen Jahresbonus von bis zu 1,5 Millionen sowie einen zusätzlichen Legislaturperioden-Bonus von bis zu zwölf Millionen zusicherte“ (Aumüller, Johannes, Kistner, Thomas, 80 Millionen Dollar in fünf Jahren, in SZ 4.6.2016).

– Infantino nicht im IOC
„Auch deshalb wächst das Misstrauen gegen ihn – sogar in der sogenannten Sportfamilie: Das Internationale Olympische Komitee (IOC) verzichtet vorerst darauf, Infantino eine ex officio Mitgliedschaft für die Dauer seiner Amtszeit anzubieten. Ein IOC-Mitglied Infantino, von dem man sich möglicherweise bald wieder trennen muss? Da hält sich sogar die IOC-Führung zurück, die sonst gern beide Augen zudrückt. Nicht einmal 100 Tage nach Amtsantritt ist Infantino ein Fifa-Präsident auf Abruf“ (Ebenda). – „Die Weltverbandschefs Gianni Infantino (Fußball) und Sebastian Coe (Leichtathletik) sind nicht für die Aufnahme ins Internationale Olympische Komitee (IOC) vorgeschlagen worden. (…) Bis dato waren die Weltverbände im Fußball (Fifa) und in der Leichtathletik (IAAF) stets durch ihre Präsidenten vertreten. Infantino und  Coe stehen jedoch wegen der jüngsten Skandale in ihren Verbänden in der Kritik“ (SID, IOC ohne Infantino und Coe, in SZ 4.6.2016).

– Infantino fliegt im  russischem Oligarchen-Jet zum Papst
„Gianni Infantino, der Neue auf dem Blatter-Thron, kann den Triumph über seine Widersacher Scala und Kattner eher nicht genießen. Laut Schweizer Sonntagszeitung ist der Fifa-Boss jüngst zur Audienz bei Papst Franziskus im Privatjet des russischen Oligarchen und FC-Arsenal-Aktionärs Alischer Usmanow gereist. Das schafft Abhängigkeiten und dürfte die Fifa-Ethiker interessieren. Die Fifa zog sich am Sonntag auf eine arg brüchige Position zurück: Es sei ‚eine private Reise‘ Infantinos gewesen, und Privates kommentiere man nicht. Der Privatier Infantino übergab dem Papst ein Fifa-Trikot und redete über Fifa und Fußball“ (Aumüller, Johannes, Kistner, Thomas, 79 Millionen Franken – plus x? in SZ 4.7.2016).
Dazu Thomas Kistner in der SZ: „Fußballfreunde staunen jetzt über das dreiste Salär-Kartell von Sepp Blatter & Friends. Aber vielleicht haben auch einige Betroffene gestaunt – und aufgeatmet. Blatter zum Beispiel, oder Jérôme Valcke, sein General. Denn sieht man, was anderen Hauptverdächtigen im Fifa-Sumpf zugeordnet wird, von Jack Warner bis Julio Grondona, so liegt jeder von ihnen im dreistelligen Millionenbereich; in der Dimension wird hier ermittelt. Dabei waren all diese Figuren nur subaltern in Bezug auf Blatter/Valcke. Waren die Bosse bescheidener? (…) Klingt absurd. Die Frage muss vielmehr lauten: Was haben die Gierhälse Blatter/Valcke insgesamt abkassiert, während sie zwischen Papst und Queen gependelt sind – als Privatboni dafür, dass eine WM stattfindet, der Ball rund ist oder die Sonne morgens aufgeht? (…) Wenn einer zwei Millionen pro Jahr für einen nicht-operativen Job als Beleidigung sieht, dann ist alles beim Alten in der Fifa. Die übrigens soeben eine Reise Infantinos zum Papst im Jet eines Russen-Oligarchen zur Privatsache erklärte: Obwohl er dort als Fifa-Boss auftrat, Trikots verteilte und über Fußball sprach. Wie lange ist der Mann tragbar? Die Fifa sieht sich als Familie, die alles unter sich regelt. In dieser Familie hat nun ein junger Oberwalliser den alten Oberwalliser abgelöst. So einfach ist das“ (Kistner, Thomas, Blatters Geist, in SZ 4.7.2016).

– Scala „neu im Sport“, Samoura nicht?
„Unbestritten ist, dass Scala, hauptberuflich Manager, beim neuen Boss Infantino die Zuwendungen drosselte – auf angeblich zwei Millionen, was der Schweizer als ‚Beleidigung‘ empfindet. Vielleicht lässt sich auch so erklären, warum Infantino den Aufseher zum Rückzug provozierte und ihm ein paar böse Worte hinterherschickte. Scalas Vorgehen gleiche einer ‚Hexenjagd‘, sagte er der Sonntagszeitung; Scala glaube, ‚dass sich eine Weltfußballorganisation nach denselben Prinzipien führen lässt wie ein pharmazeutisches Unternehmen oder ein Pestizidhersteller‘; und es sei auch so, ‚dass Herr Scala diesen Sport aus heiterem Himmel und vor nicht allzu langer Zeit erst entdeckt hat‘. Dieser Satz wirft die nächste interessante Frage auf. Denn wenn Infantino sich darüber mokiert, dass jemand erst vor kurzem den Fußballsport entdeckt habe – wieso hat er dann selbst gerade eine senegalesische UN-Diplomatin ohne Fußball-Erfahrung als Generalsekretärin angeheuert?“ (Aumüller, Johannes, Kistner, Thomas, Ein Anruf – und die zwölf Millionen sind gestoppt, in SZ 7.6.2016).

Nachtrag 1: Spesenjäger Infantino
Innerhalb der Fifa wird Gianni Infantino wegen seiner privaten Ausgaben auf Kosten der Fifa angegriffen. „Offiziell ging es um den Besuch der WM-Standorte 2018 und 2022. Die Fifa hatte für Infantino Linienflugtickets für 7300 Dollar gebucht. Er soll sie aber kurzfristig abgelehnt haben. Infantino nahm laut Unterlagen statt dessen einen Privatflieger in Anspruch. In den Dokumenten wird ein Gegenwert der Reise zwischen 115.000 bis 150.000 Dollar angenommen. Doch es gab offenbar weder eine Rechnung noch Angaben von Infantino zum Anbieter oder Gönner des Luxusfluges. (…) Die WM-Ausrichter Russland und Qatar müssen sich seit ihrer Wahl Korruptionsvorwürfen stellen. Auf Nachfrage teilte die Fifa am Mittwoch mit, Infantino hätte auf den Strecken Flugangebote des russischen Sportministers Witali Mutko sowie der russischen und qatarischen WM-Organisatoren angenommen. Dies habe zur Einhaltung der Termine beigetragen. Auch am 6. Mai nutzte Infantino gemäß der Dokumente einen Privatflieger zum Besuch des slowenischen Fußballverbandes, obwohl die Fifa-Reisestelle ihm verschiedene Angebote für Linienflüge zu 1800 Dollar gemacht hatte. Doch Infantino stieg mit in den gecharterten Geschäftsflieger des europäischen Fußballverbandes Uefa, wie die Fifa angibt. Der Gegenwert dieses Trips: 12.000 bis 18.000 Dollar. Wieder gab es nach den vorliegenden Unterlagen keine näheren Angaben von Infantino an die Fifa-Adminstration. Am Wochenende meldete die Schweizer ‚Sonntagszeitung‘, dass Infantino zur Privataudienz beim Papst in Rom nach dem Champions-League-Finale und zurück in die Schweiz eine Privatmaschine des russischen Oligarchen Alischer Usmanow nutzte. Dieser ist ein Weggefährte Putins und Topmanager beim Fifa- sowie Uefa-Sponsor Gasprom. Aus Sicht des Weltverbandes handelte es sich um eine ‚Privatreise‘ Infantinos“ (Ashelm, Michael, Matratzen für 11.440 Franken, in faz.net 9.6.2016; Hervorhebung WZ).
Dazu Thomas Kistner in der SZ: „In der Fülle von Beschwerden gegen ihn bei der Ethikkommission ist es vielleicht nicht der von der Fifa bezahlte Strafzettel, der dem Gremium Kopfzerbrechen bereitet. Auch nicht der Kauf neuer Matratzen oder die Begleichung einer Wäscherei-Rechnung. All das illustriert, wie unsensibel der Neue sein Amt ausübt in einer Zeit, in der alle Welt kritisch auf die Fifa schaut. Doch echte Probleme dürften Infantino eher aus einer Reise erwachsen, die ihn jüngst mit Familie zum Papst nach Rom geführt hatte. Den Trip hatte der Fifa-Chef in einem Jet unternommen, der nach Lage der Dinge einem Firmengeflecht im Umfeld eines russischen Oligarchen zuzurechnen ist. Die Kosten für solche Ausflüge veranschlagen Experten im klar fünfstelligen Bereich. Die Ethiker kommen nicht umhin, der Sache nachzugehen; derart geldwerte Nettigkeiten könnten Abhängigkeiten schaffen. Der Weltverband bezeichnete den Flug als Privatsache, zu derlei Themen äußere er sich nicht. Problematisch sind weitere Vorgänge, etwa aus Infantinos Zeit als Rechtsdirektor in Europas Fußball-Union Uefa. Damals hatte er umstrittene Marketingverträge unterzeichnet. Die BA hatte im April erstmalig auch die Uefa-Zentrale durchforstet. Infantino weist die Vorwürfe zurück“ (Kistner, Thomas, Geheimnisse im Tresor, in SZ 16.6.2016).

Nachtrag 2: Auch Domenico Scala im Zwielicht
Am 2.6.2016 ließ die Schweizer Bundesanwaltschaft den Tresor des am 1.6. entlassenen Fifa-Funktionärs Markus Kattner öffnen. „Der Vorgang wirft ein neues Licht auf die in der Fifa und ihrem Umfeld andauernde Schlammschlacht, die mit der Präsidenten-Kür Ende Februar losbrach und seit Wochen auch gut unterfüttert nach außen dringt. In der einen Ringecke Gianni Infantino, der neue Boss; in der anderen Kattner – sowie Domenico Scala, der Mitte Mai unter Protest als Chef-Aufseher zurückgetreten war. Gut und Böse gibt es in diesem Konflikt nicht; alle Protagonisten sind im Visier der internen Ethiker und auch der staatlichen Ermittler. (…) Mit den vielen Fragen um das Salär-Kartell Blatter/Valcke/Kattner rückt in der Tat auch die Rolle des Mannes in den Fokus, der jahrelang ihr Chef-Aufseher war. Der Schweizer Manager Scala erwarb sich zwar Verdienste um das Reformpaket. Zugleich aber war er seit 2012 Chef der Audit- sowie seit 2013 Chef der Vergütungskommission: Die bewilligte oder kürzte Boni, segnete Verträge ab und legte unter anderem das Salär des Präsidenten fest. Seinen Abgang im Mai begründete Scala mit einer in der Tat fragwürdigen und überfallartigen Statutenänderung, die Infantino beim Kongress in Mexiko durchgedrückt hatte und die den Fifa-Vorstand ermächtigt, seine Kontrolleure selbst auszuwählen und abzusetzen. Die Scala-Fraktion spricht von einem Putsch. Zumal ein nach außen gelangter Mitschnitt einer Fifa-Ratssitzung offenbart, wie schamlos an Scalas Position herumgesägt wurde. Nur: Ist der Compliance-Chef der unschuldige Strahlemann und selbst über alle Zweifel erhaben?“ (Ebenda).

Nachtrag 3: Infantino räumt auf (I)
„Nach Lage der Dinge darf der Neue bereits als Noch-Chef gelten. Seit Infantinos Amtsantritt rumpelt und rumort es in der Fifa, aber auch in den Medien, die regelmäßig und in bemerkenswerter Detailfülle die Selbstbedienungs-Mentalität des Patrons ausbreiten. Dabei schießen sie sich auch auf das Gremium ein, das zur Behebung solcher Missstände installiert wurde: das Fifa-Ethikkomitee. (…) Am Wochenende folgte die nächste Welle: Es gibt weitere Abgänge auf der Führungsetage. Dort herrschen anarchische Zustände, auch, weil die Wahl von Infantino die Pläne einer Gruppe altgedienter Spitzenleute um den jüngst geschassten Interims-Generalsekretär Markus Kattner torpediert hatte. Diesem Kreis ist auch Domenico Scala zuzurechnen. Der abgetretene Compliance-Chef hatte üppige Boni-Zahlungen für Kattner ebenso fürsorglich abgesegnet wie den Geldregen für den langjährigen (inzwischen gefeuerten) Generalsekretär Jérôme Valcke. (…) Kattner, Valcke und Infantinos Vorgänger Sepp Blatter hatten einander allein über die letzten fünf Jahren Boni von insgesamt 79 Millionen Franken zugeschanzt. Scala war Chef des Kompensations-Komitees, das seit 2013 die Luxus-Deals der hohen Fifa-Kader absegnete. Noch im Mai 2015, Tage nach den ersten FBI-Zugriffen in Zürich und Blatters skandalumtoster Wiederwahl, hatte Scalas Gremium offenbar nichts Wichtigeres zu tun, als Kattners bis 2019 laufenden Vertrag um vier Jahre zu verlängern. In einer so heiklen Phase – und inklusive Goldener-Fallschirm-Klauseln für den Fall des Rauswurfs. Der folgte nur wenige Monate später. (…) Ohne Frage sind Infantinos Eskapaden auf dem Prüfstand, Vorabklärungen laufen. Allein sein Familientrip zum Papst im Privatjet eines Oligarchen könnte geeignet sein, ihm eine Ethik-Sanktion einzutragen. Und die könnte ihn zu Fall bringen. Hinzu sollen weitere Privatflüge im Gesamtwert von bis zu 150 000 Dollar kommen, ermöglicht von Russlands Staatschef Putin und dem Emir von Katar“ (Kistner, Thomas, Grabenkriege  auf dem Zürichberg, in SZ 5.7.2016).
Zur Erinnerung: Die Fußball-WM 2018 ist in Russland, die WM 2022 in Katar…

Nachtrag 4: Infantino räumt auf (II)
„Der Fußball-Weltverband Fifa hat den Slowenen Tomaž Vesel zum neuen Chef seiner Audit- und Compliance-Kommission ernannt. (…) Vesel übernimmt das Amt vorerst bis zum nächsten Fifa-Kongress im Mai 2017 in Kuala Lumpur. Möglich ist die Berufung des Präsidenten des slowenischen Rechnungshofes nur durch eine umstrittene Statutenänderung, die dem Fifa-Council das Recht zur Ernennung des wichtigen Kontrolleurs einräumt“ (DPA, Vesel für Scala, in SZ 7.7.2016).

Nachtrag  5: Infantino „sauber“
Fifa-Präsident Gianni Infantino muss nach geheim gehaltenen Ermittlungen keine Bestrafung durch die Ethikkommission des Fußball-Weltverbandes befürchten. Der Schweizer habe nicht gegen Verhaltensregeln verstoßen, teilte das Gremium mit. Zu diesem Schluss kam die Ethikkommission nach mehrwöchigen Untersuchungen gegen den 46-Jährigen. Im Gegensatz zu bisherigen Fällen hatte die Ethikkommission ihre Ermittlungen nicht öffentlich gemacht. Infantino waren mögliche Vergehen gegen vier Paragrafen des Ethikcodes vorgeworfen. Untersucht wurde die Kostenübernahme für mehrere Flüge Infantinos – dem Vernehmen nach im Zusammenhang mit Reisen in die WM-Gastgeberländer Russland (2018) und Katar (2022)“ (Fifa-Ethikkommission stellt Ermittlungen gegen Infantino ein, in spiegelonline 5.8.2016; Hervorhebung WZ). Dazu kamen Verdachtsmomente beider  Jobbesetzung im Präsidentenbüro und nicht erfolgte  Gehaltsvereinbarungen Infantinos mit der Fifa: „Infantino soll sein Salär von umgerechnet rund zwei Millionen Franken in einer Fifa-Sitzung angeblich als unzureichend bezeichnet haben“ (Ebenda).
Dazu aus einem Kommentar von Thomas Kistner in der SZ: „Nun wird es also doch nicht ernst für Gianni Infantino. Nur fünf Monate präsidiert der Schweizer dem Fußball-Weltverband, gleich in seinen ersten Wochen eröffnete die Ethikkommission der Fifa ein formelles Verfahren gegen den Schweizer – das sie am Freitag jedoch beendet hat. (…)  Am Freitag teilte die Ethikkommission mit, dass sie keine Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen den Ethik-Code gefunden hätte. (…) Die Vorteile, von denen Infantino profitiert habe, „wurden im Lichte der anwendbaren Fifa-Bestimmungen nicht als ungebührlich erachtet“. (…) Im Fokus standen weitere Privatflüge Infantinos, im Wert von bis zu 150 000 Dollar, ermöglicht von den Herrschern Russlands und Katars. Hier bestand der Verdacht auf Interessenskonflikte. Infantino war im Privatjet zur Kontrolle der WM-Vorbereitungen für 2018 und 2022 gereist. Am 18. April ging es von Genf nach Moskau, am 20. April weiter nach Katar, am 22. April zurück nach Zürich. Unterstützt wurde der Komfort-Trip auch von einem russischen Energieriesen (Gazprom), der Fifa und Uefa sponsert. Was den ohnehin stark durch die olympischen Tumulte begründeten Verdacht nährt, dass Moskaus Tentakel in alle Winkel des Weltsports ausreichen. (…) Problematisch ist dabei auch, dass gegen beide WM-Veranstalter Korruptionsermittlungen laufen. Überdies zeigen interne Papiere, dass die Fifa-Reisestelle für Infantino bereits Linienflug-Tickets für rund 7300 Dollar gebucht hatte. Die fünftägige Privatreise wird hingegen auf bis zu 150 000 Dollar Gegenwert taxiert. (…) Die Ethiker der Fifa verpassten es nun, die elementare Bedeutung unabhängiger Aufpasser zu zeigten. Dass es zu einer Verfahrens-Eröffnung gegen den neuen Präsidenten kam, schickte zunächst ein deutliches Signal: Dass es gerade im Sport keine Sonnenkönige mehr geben darf, die mit den Reichen und Mächtigen in Hinterzimmern dealen – und faktisch trotzdem unantastbar sind. Dieses Signal hat die Ethik-Kommission nun durch das Schließen der Akte Infantino allerdings selbst geschwächt“ (Kistner, Thomas, „Nicht ungebührlich“, in SZ 6.8.2016).

Nachtrag 6: Infantino besucht den brasilianischen Fußball-Paten
Der brasilianische Fußballverband ist total korrupt – seit Joao Havelange, der auch 25 Jahre die Fifa leitete (und dort Sepp Blatter als Nachfolger inthronisierte). Dann kam Havelanges Schwiegersohn Ricardo Teixeiro im brasilianischen Verband an die Macht – und konnte gerade noch aus Florida fliehen, bevor  der von der US-Justiz verhaftet wurde. Nachfolger José Maria Martin sitzt im Hausarrest in den USA. „Auch Del Nero schaffte den letzten Flieger: Nur Stunden nach den Zugriffen des FBI am 27. Mai 2015 in Zürich floh er Hals über Kopf in die Heimat. Dringende Verpflichtungen hätten ihn abberufen, lautete die Notlüge, tatsächlich war er gerade angereist, um als Mitglied des Fifa-Vorstandes Sepp Blatter wieder ins Amt zu wählen. (…) Dass sich Del Nero nicht mehr aus dem Land traut, begleitet die nationale Presse mit viel Humor. Den Auftritt der Seleçao bei der Copa America 2015 in Chile musste das Verbandsoberhaupt ebenso schwänzen wie die Copa Centenario im Juni in den USA – dort hätten die Handschellen gleich bei der Einreise geklickt“ (Kistner, Thomas, Vom FBI gesucht, von Infantino besucht, in SZ 10.8.2016). Del Nero wird von den US-Justizbehörden als Beklagter im Fifa-Skandal geführt – und erhielt nun Besuch vom amtierenden Fifa-Präsidenten Gianni Infantino. „Gianni Infantino, seit Februar Präsident des Fußball-Weltverbandes Fifa, setzt seinen Parcours durch alle Fettnäpfchen fort, am Besuchstag bei Del Nero hatte das Fifa-Ethikkomitee gerade eine zwei Monate währende Untersuchung gegen ihn eingestellt. Es ging um dubiose Flüge, Freunde und Sponsoren. Die Sache war knapp für Infantino. Nun die Visite bei Sportsfreund Del Nero. (…) An Infantinos Besuch erinnert nun eine schöne Plakette am CBF-Hauptsitz, darauf prangt auch das Fifa-Motto: ‚Für das Spiel. Für die Welt.‘ Del Nero selbst flötet auf der Fifa-Website: ‚In meiner Position will ich dazu beitragen, dass der Sport sauber und gesund bleibt.‘ Wer so redet, hätte gut in die olympische Eröffnungsfeier gepasst“ (Ebenda).

Nachtrag 7: Neues von den Fifa-Ethikern
Die ermittelnde Kammer unter dem Vorsitzenden Djimrabaye Bourngar ermittelt gegen Blatter, dem früheren Fifa-Generalsekretär Jérôme Valcke und

Mai 132016
 
Zuletzt geändert am 07.12.2017 @ 20:47

13.5.2016; aktualisiert 7.12.2017

Vergleiche auch: Doping Russland (I): IAAF und russisches Staatsdoping; Doping Russland (II): Der Wada-Report
und: Pyeongchang 2018

Dr. Grigorij Rodtschenkow (Schreibweise vereinheitlicht nach deutscher Presse; engl.: Grigory Rodchenkov), arbeitete seit 1985 im Moskauer Anti-Doping-Zentrum und war seit 2005 Leiter des offiziellen Moskauer Doping-Kontrolllabors. Er war einer der weltweit anerkannten Experten für leistungssteigernde Mittel. Noch im Oktober 2015 besuchte er ein Anti-Doping-Symposium in den USA. Im November 2015 musste er zurücktreten. Im Januar 2016 floh Rodtschenkow nach Los Angeles. Zwei seiner Mitarbeiter starben im Februar „überraschend“ in Russland: Wjacheslaw Sinew, der Gründer des Moskauer Labors, am 3.2.2016 und Nikita Kamajew am 14.2.2016, siehe unten. Rodtschenkow gab nun bei der New York Times zu Protokoll, wie das staatlich gelenkte russische System-Doping bei den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi vor sich ging. Im Prinzip wurden mit seinen Aussagen sowohl die Berichte von Hajo Seppelt in ARD und WDR als auch der Bericht der „Pound-Kommission“ des IOC bestätigt
Die russischen Offiziellen standen vor Sotschi 2014 unter einem enormen Druck. Sotschi 2014 sollte das Schaufenster für Russlands Wiederaufstieg als globale Kraft werden. Offiziell wurden 50 Milliarden Dollar investiert, um aus einem subtropischen Resort ein Wintersport-Paradies zu machen. Dazu kam Russlands desaströses Abschneiden bei den Olympischen Winterspielen 2010 in Vancouver mit Platz sechs in der Nationenwertung.
Die Darstellung folgt dem Artikel von Rebecca R. Ruiz und Michael Schwirtz in der New York Times vom 12.5.2016. (Übersetzung: WZ)

Der Doping-Experte
Rodtschenkow war 2011 mit russischen Behörden kollidiert, die ihm den illegalen Handel mit leistungssteigernden Dopingmittel vorwarfen. Er erwartete eine Gefängnisstrafe; seine Schwester, die Läuferin Marina Rodtschenkow, wurde wegen des selben Deliktes zu einer Bewährungsstrafe verurteilt (Hans 14.5.2016). Doch die Ermittlungen über Rodtschenkow verschwanden. Er selbst vermutet, dass er verschont wurde, um eine entscheidende Rolle bei Sotschi 2014 zu spielen.
Rodtschenkow hatte im Vorfeld einen Drei-Drogen-Cocktail von verbotenen Substanzen entwickelt: den drei anabolen Steroiden Metenolone, Trenbolone und Oxandrolone. Rodtschenkow behauptete, dass er nicht nur bei Sotschi 2014, sondern auch schon in London 2012 russische Athleten zum Sieg geführt hätte. Den Cocktail mischte er, um die Nachweiszeit der Dopingmittel zu verkürzen, mit Alkohol: Chivas Whiskey für die Sportler, Martini Vermouth für die Sportlerinnen; Dosierung: ein Milligramm Steroidmixtur für jeden Milliliter Alkohol. Die Sportler sollten die Flüssigkeit im Mund und unter der Zunge spülen, um die Dopingmittel besser aufzunehmen. Dutzende russischer Sportler wurden so gedopt. Rodtschenkow lobte seine Arbeit im Rahmen von Sotschi 2014 als den Höhepunkt einer jahrzehntelangen Anstrengung, Russlands Doping-Strategie bei internationalen Wettbewerben zu perfektionieren: „Es funktionierte wie eine Schweizer Uhr.“ – Eine Woche vor Beginn der Olympischen Sommerspiele 2012 in London testete Rodtschenkow die Athleten: „Je nach Ergebnis verteilte Rodtschenkow drei Farben: Grün bedeutete: keine Dopingspuren mehr zu erkennen. Gelb bedeutete: noch mehr Rückstände verbotener Medikamente im Körper, die sich aber bis zu den Spielen abbauen würden. Rot bedeutete, dass der Athlet nicht nach London durfte. Zu groß war das Risiko, dort bei einer Kontrolle aufzufliegen“ (Eberle u. a. 23.7.2016).
Rodtschenkow betonte, dass das Sportministerium aktiv die Doping-Aktivitäten geleitet habe. In den sechs Monaten vor den Spielen hatte er sich mindestens einmal pro Woche mit Yuri Nagarnykh, dem Stellvertreter des russischen Sportministers Witali Mutko, im palastähnlichen Sportministerium getroffen. – „Der Ort, der vielen derzeit als Zentrum der sportpolitischen Finsternis gilt, ist auffallend hell. Von außen beeindrucken die Säulen und die Fassade des Baus, den sich in Zarenzeiten der Graf Rasumowskij errichten ließ… Moskau, Uliza, Kasakowa, nationales Sportministerium“ (Aumüller 14.5.2016).
Manchmal nahmen Rodtschenkows Athleten Dopingmittel, die er nicht genehmigt hatte. Rodtschenkow: „Alle Athleten sind wie kleine Kinder. Sie nehmen alles, was du ihnen gibst, in den Mund.“ Deshalb schrieb er am 18.4.2014, er könne nichts für die beim Doping ertappte russische Geherin Elena Lashmanova im April tun: Sie wurde dann drei Monate später für zwei Jahre gesperrt.
Zur Erinnerung: Rodtschenkow war als „Anti-Doping-Experte“ beschäftigt, fungierte aber als oberster Doper.

Die Vorbereitungen
Rodtschenkow leitete das Anti-Doping-Labor vor und nach Sotschi 2014, das Tausende von Proben analysierte. Bereits im Herbst 2013 kam ein Mann zu Rodtschenkow, den er für einen Mitarbeiter des Russischen Inlandsgeheimdienstes FSB hielt: Den Beschäftigten wurde vermittelt, der Mann solle „das Labor sichern“. Dieser begann, die Flaschen für die Urinproben zu untersuchen, die von der Schweizer Firma Berlinger für die internationalen Wettbewerbe produziert werden. Die Urinproben werden in zwei Flaschen aufbewahrt: die A-Probe, die sofort getestet wird – und die B-Probe, die zehn Jahre aufgehoben wird. Besonders interessierte sich der Mann für den gezahnten Metallring, der die Flaschen verschloss, wenn die Kappe zugedreht wird. Er sammelte Hunderte der Flaschen. Rodtschenkow war klar, dass der Mann unbemerkt in die Flaschen gelangen wollte. Einige Wochen vor den Spielen präsentierte der Mann Rodtschenkow eine Flasche, die vorher versiegelt, dann aber geöffnet worden war – wobei der Einmal-Verschluss intakt blieb. Später untersuchte ein Forensiker auf Veranlassung von Richard McLaren 95 Urinproben von russischen Sportlern aus Sotschi 2014: „Unter dem Mikroskop konnte der Experte an allen elf zufällig ausgewählten Gefäßen, die er untersuchte, Kratzer und Spuren eines Werkzeugs nachweisen, mit dem die Deckel in Sotschi geöffnet worden waren“ (Eberle u. a. 23.7.2016).
Durch den Wada-Bericht vom November 2013 hatten internationale Dopingexperten gedroht, dem Moskauer Labor wegen „externer Einmischungen“ die Akkreditierung zu entziehen. Bei einem Treffen eines Disziplinar-Komitees im November 2013 in Johannesburg wurde aber der deutliche Wunsch geäußert, die Akkreditierung wegen der Olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi nicht zu entziehen.

Die Methode
Das russische Sportministerium von Minister Witali Mutko stellte Rodtschenkow am 21.1.2014 – zwei Wochen vor Beginn der Spiele -, eine Liste mit den Namen der Athleten zur Verfügung, die in das Doping-Programm aufgenommen wurden. Kurz nachdem Rodtschenkow in Sotschi eingetroffen war, begann er mit der Arbeit im Olympischen Labor. Er studierte den Zeitplan der Spiele für jeden Athleten: Hatte einer von ihnen eine Medaille gewonnen, mussten dessen Urinproben ersetzt werden.
In einer Nacht-und-Nebel-Aktion hatten russische Anti-Doping-Experten und Mitglieder des Inlandgeheimdienstes FSB heimlich mit leistungssteigernden Mitteln verseuchte Urinproben durch Urinproben ersetzt , die Monate vorher von den Sportlern gesammelt worden waren. Es war den Doping-Fachleuten (siehe oben) gelungen, diese als fälschungssicher geltenden Flaschen, die Standard bei internationalen Wettbewerben sind, zu öffnen und den Inhalt unbemerkt auszutauschen.
Die Sicherheitsvorkehrungen waren aufwändig: Zahlreiche Kameras überwachten die Laborräume, und jeder, der sie betreten wollte, benötigte eine Sicherheitsgenehmigung. Jede Nacht während der Spiele arbeiteten die Spezialisten in einem Schattenlabor, das durch eine einzige Lampe erhellt wurde. Die Flaschen mit dem doping-verseuchten Urin wurden durch ein handgroßes rundes Loch in der Wand ausgetauscht und mit sauberem Urin gefüllt, um sie am nächsten Tag zum offiziellen Doping-Test zur Verfügung zu haben. Rodtschenkow bekam jede Nacht von einem Mitarbeiter des Sportministeriums die Liste der Athleten, deren Urin ausgetauscht werden musste. Um die siebenstellige Kodierung der Flaschen zu erfahren, machten die Sportler Fotos von ihrem Musterprofil und sandten sie per SMS an das Sportministerium: Das erhielt damit die – verbotene – Einsicht, wessen Urin zu wem gehörte. Nach dem Signal „Die Urinflaschen sind bereit“ zog Rodtschenkow seinen Laborkittel aus und ein russisches Nationalteam-Sweatshirt an und verließ seinen vierten Stock nach Mitternacht. Er prüfte, ob die Luft rein war und begab sich in den Raum 124, offiziell ein Lagerraum, den er und sein Team in ein Schatten-Labor umgewandelt hatten. Der Raum war mit Klebeband verdunkelt: Hier fand der Austausch der Urinproben statt. Im Musterraum der Urinproben holte ein Kollege die korrekten Flaschen heraus und reichte sie in den Lagerraum durch das kreisförmige Loch, das in die Wand über dem Fußboden geschnitten worden war. Tagsüber wurde das Loch von einem kleinen Schränkchen aus Kunststoff verborgen.
Die B-Proben wurden dem vermeintlichen FSB-Offizier überreicht, der sie in ein benachbartes Gebäude brachte. Innerhalb weniger Stunden wanderten die Flaschen wieder in den Lagerraum – mit ungeöffneten Verschlüssen. Der FSB-Mann lieferte auch den sauberen Urin, den jeder der Athleten Monate vor den Spielen abgeliefert hatte. Mal befand sich dieser in Soda-Fläschchen, mal in Babyfläschchen. Der verseuchte Urin wurde in einer nahen Toilette entsorgt, die Probe-Fläschchen gespült, mit Filterpapier gereinigt und mit sauberem Urin befüllt.
Insgesamt, so schätzt Rodtschenkow, wurden so über hundert verseuchte Urin-Muster vernichtet. Rodtschenkow: „Die Zuschauer feiern die olympischen Goldmedaillen-Gewinner, aber wir arbeiteten wie blöd und ersetzten ihren Urin. Können Sie sich jetzt vorstellen, wie der Olympische Sport organisiert ist“ (Ebenda).

Die Erfolge der russischen Doping-Sportler
In Sotschi gewannen russische Athleten 33 Medaillen, darunter 13 mal Gold, zehn mehr als bei Vancouver 2010. Ein Drittel der russischen Medaillengewinner erschienen auf den Doping-Plänen des Sportministeriums, die Rodtschenkow vor den Spielen erhalten hatte. Betroffen waren u. a. die 14 Mitglieder des Cross-Ski-Teams, der Bobfahrer Alexander Zubkov, der zwei Goldmedaillen gewann, Alexander Legkov, ein Cross-Country-Skifahrer (Gold und Silber), Alexander Tretyakov (Gold im Skeleton-Bewerb) (Ruiz, Schwirtz 12.5.2016) sowie das gesamte Frauen-Eishockey-Team (Kistner, Knuth 13.5.2016).

Nach Sotschi 2014
Rodtschenkow bekam von Wladimir Putin höchstpersönlich den renommierten „Orden der Freundschaft“ verliehen. Er wurde auch vom IOC und der Wada mit Lob überhäuft. Ein späterer Bericht der Wada nannte Sotschi 2014 „einen Meilenstein in der Entwicklung des Anti-Doping-Programms der Olmpischen Spiele“. Dazu Thomas Kistner in der SZ: „Staatsdoping, perfekte Vertuschung über ausgetauschte Proben, selbst kreierte Dopingcocktails. Putins Leute hätten dann ja wirklich Außerordentliches geleistet, der Meilenstein für die Wada bestünde in deren totaler Übertölpelung“ (Kistner 14.5.2016).
Im November 2015 identifizierte dann die Wada Rodtschenkow als die Stütze des so bezeichneten staatlich geförderten russischen Dopingprogramms. Die Wada-Untersuchung fokussierte sich vor allem auf die russische Leichtathletik. Rodtschenkow wurde beschuldigt, bei der Leichtathletik-WM 2013 in Moskau positive Drogenproben vertuscht und hunderte Urinproben vernichtet zu haben. Rodtschenkow gab später zu Protokoll, es waren nicht die dort erwähnten hunderte Urinproben, sondern eher tausende vernichtet worden.
Aus „IAAF-Doping, System-Doping Russland und Fortgang„: „Wada-Report fordert Ausschluss Russlands. Am 9.11.2015 veröffentlichte die Wada-Untersuchungskommission den Report von Richard Pound, Richard McLaren und Günter Younger zum WDR-Film über das Doping-System in Russland (zum Report mit 335 Seiten: hier). “Und jetzt berichtete Pound, das alles noch viel schlimmer sei, er erzählte von ‘Korruption und Schmiergeld-Praktiken auf höchster Ebene in der Welt-Leichtathletik. (…) Als Begründung zog Pound den Tatbestand des ‘staatlich gestützten Dopings’ heran. (…) Die Ermittler ordneten viele Akteure aus der ARD-Dokumentation der Betrugsseite zu, sie fügten sogar weitere Darsteller dazu, die zeigten, wie tief das Betrugssystem in Russland Wurzeln geschlagen hat. Im Verband habe eine ‘Kultur des Betrügens’ geherrscht, die teils bis heute andauere. Gregory Rodtschenkow, Chef des von der Wada akkreditierten Anti-Doping-Labors in Moskau, soll insgesamt 1417 Dopingproben zerstört haben. Ein zweites, baugleiches Labor habe offenbar dazu gedient, Dopingproben vorzutesten; die Kontrolleure ließen positive Proben verschwinden, negative reichten sie an die offiziellen Testbehörden weiter” (Knuth, Johannes, Russlands Leichtathletik droht Ausschluss, in SZ 10.11.2015; Hervorhebung WZ).- “Pounds Kommission sollte ein paar Monate später feststellen, dass es neben dem Wada-akkreditierten Labor in Moskau noch ein zweites gibt, das über die gleichen Apparate und wissenschaftlichen Kenntnisse verfügt. Mutmaßlich wurden dort Urinproben von gedopten Athleten Vorkontrollen unterzogen. Waren sie sauber, gingen sie weiter an das offizielle Labor” (Geisser 9.11.2015). Richard Pound zur Involvierung des russischen Staates: “Ich glaube nicht, dass es irgendeine andere mögliche Schussfolgerung gibt. Sie können es nicht nicht gewusst haben” (Rilke 10.11.2015; Hervorhebung WZ).
Nach Erscheinen des Wada-Berichts wurde Rodtschenkow von russischen Behörden gezwungen, zurückzutreten. „Wenige Tage davor hatte er die Wada-Experten, die seine Agentur und ihn beschuldigten, noch als ‚Idioten, die keine Ahnung von Doping haben‘, beschimpft“ (Patalong 14.5.2016). Da er um seine Sicherheit fürchtete, flüchtete er nach Los Angeles.
Zwei von Rodtschenkows Kollegen starben innerhalb kurzer Zeit im Februar 2016. Aus „IAAF-Doping, System-Doping Russland und Fortgang„: „Ihr altes Leben holt Julia und Witali Stepanow (die Kronzeugen des ARD-Berichtes; WZ) immer mal wieder ein. Etwa neulich, als Wjatscheslaw Sinew starb, der ehemalige Generaldirektor der russischen Anti- Doping-Agentur Rusada. Und kurz darauf Nikita Kamajew, dessen Nachfolger an der Spitze der Organisation. Zwei Herztode binnen elf Tagen, obwohl beide nie von Herzproblemen berichtet hatten. Witali Stepanow kannte Sinew, sie arbeiteten früher zusammen bei der Rusada. ‚Ich hätte nie gedacht, dass es auch Leute im Sport erwischt‘, sagt Stepanow. Mord? Er umfährt dieses Wort, nur so viel: ‚Es sieht sehr, sehr verdächtig aus.‘ Die Toten wussten viel, Kamajew wollte ein Buch schreiben, auspacken. So wie die Stepanows. Deshalb muss jetzt, in ihrem neuen Leben, vieles geheim bleiben: wo sie wohnen, was sie tun, wer ihnen hilft. Man kann sie anrufen, per Videotelefonie, sie berichten dann, dass sie gerade zum achten Mal umgezogen sind, ins achte Versteck. Weil sie damals in einer ARD-Dokumentation erzählten, was Russlands Leichtathletik antrieb: Doping nach System“ (Knuth 26.3.2016).

Putins Sportminister und Putins Sprecher leugnen wie üblich alles ab
Der russische Sportminister Witali Mutko nannte die Veröffentlichung in der New York Times bei einer von ihm inszenierten Pressekonferenz mit der staatlich gelenkten Nachrichtenagentur TASS „die Fortsetzung der Informationsattacke auf den russischen Sport vor Rio 2016“ (Ruiz, Schwirtz 12.5.2016). – „Schon wieder wird der russische Sport attackiert. Es ist so, als würden sich ausländische Medien den Staffelstab in die Hand geben“ (Kistner, Knuth 13.5.2016). Auch Putins Sprecher leugnete alles ab. „Ein Sprecher des russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin hat auf die neuen Vorwürfe gegen Russland wegen staatlich gelenkter Dopingpraktiken reagiert. Es handele sich um die ‚Verleumdung eines Verräters’, sagte Kreml-Pressesprecher Dimitri Peskow: ‚Diese Behauptungen sind völlig unbegründet.’ Mit Deserteur ist Gregori Rodtschenkow gemeint“ (spiegelonline 13.5.2016).
Nach den Enthüllungen Rodtschenkows wird der Start der russischen Sportler bei Rio 2016 noch schwieriger durchzuboxen sein: trotz der unverbrüchlichen Freundschaft zwischen IOC-Präsident Thomas Bach und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin: siehe unten.

Weitere Reaktionen
IOC:
Das IOC nannte Rodtschenkows Beitrag „sehr detailliert und sehr beängstigend“ (Ruiz, Schwirtz 12.5.2016). – „Das IOC kündigte an, den Vorwürfen Rodschenkows rasch und entschlossen nachgehen zu wollen. Das Anti-Doping-Labor in Lausanne am Sitz des IOC, wo die Sotschi-Proben für zehn Jahre gelagert sind, soll die Ergebnisse nach neuesten Methoden analysieren. (…) IOC-Präsident Thomas Bach schrieb in einem Beitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“: „Die Teilnahme der russischen Athleten an den Olympischen Spielen in Rio 2016 hängt auch stark von den Ergebnissen der WADA-Untersuchung ab“ (spiegelonline 18.5.2016a).
Welt-Anti-Doping-Organisation: Die Wada war am Donnerstag wegen angeblicher Meetings nicht zu erreichen. Aus einer späteren Meldung in spiegelonline vom 18.5.2016 „Die Wada gab am Dienstag bekannt, dass ein Ermittlerteam aus unabhängigen Experten und Wissenschaftler die Dopingvorwürfe untersucht. Geleitet wird das Team demnach von Wada-Untersuchungsmanager Mathieu Holz, ein früherer Offizier der französischen Gendarmerie und Interpol-Agent. ‚Nach Ende der Untersuchung wird die Wada einen umfassenden Bericht veröffentlichen und die dazugehörenden Belege, die gesammelt worden sind, zugänglich machen‘, hieß es. Die Agentur hat nach eigenen Angaben Rodtschenkow um ein Treffen in Los Angeles gebeten“ (spiegelonline 18.5.2016a).
Aus einem Kommentar von Juliet Macur in nytimes.com: „Ein Phantom-Labor, geschaffen, um den Urin von dopenden Athleten zu bearbeiten. Antidoping-Wissenschaftler, die Urinproben durch ein Loch in der Laborwand durchgaben, um drogenfreien Urin einzufüllen. Jahrelange Planungen waren nötig für eine heimliche Operation, bei der gemäß dem früheren Laborleiter mindestens hundert schmutzige Proben verschwanden – und es mindestens 15 olympischen Medaillengewinner erlaubte, mit diesem Betrug durchzukommen. (…) Steven Holcomb, ein US-Bobfahrer, gewann in Sotschi zwei Bronzemedaillen… Falls der Bericht wahr ist, bedeutet dies, dass er in Sotschi um zwei Silbermedaillen betrogen wurde – und vermutlich zahllose andere in früheren Wettbewerben. (…) Holcomb, der 18 seiner 36 Jahre seiner Bobkarriere gewidmet hat, berichtete, dass ihm einige russische Athleten gesagt hätten, Doping solle erlaubt sein bis auf Wettkampftage. (…) Und während das Geheimlabor in Sotschi die schmutzigen Urinproben ausmerzte, lobte der Wada-Präsident Craig Reedie Russlands Anti-Doping-Fortschritt. (…) Russland wurde zum Verbrecher. Dafür ist kein weiterer Beweis mehr nötig. Es hat unglaublich langfristige Anstrengungen unternommen, sein Dopingprogramm aufzubauen (und zu verstecken), und es lässt sich nicht sagen, was Russland weiter tun wird: oder angesichts des unerwarteten Todes von zwei hohen russischen Antidoping-Offiziellen innerhalb von zwei Wochen, was es alles nicht tun wird, um das alles zu beenden“ (Macur 12.5.2016).
Aus einem Kommentar von Thomas Kistner in der SZ: „Wenn zutrifft, was der in die USA geflohene Whistleblower berichtet, und Zweifel daran sind gering, dann ist die Integrität der Olympischen Spiele schlimmer als je zuvor beschädigt. Zumal starke Kräfte im IOC bis zuletzt bestrebt waren, Russlands wegen staatlich strukturierten Systemdopings schon gesperrte Leichtathleten für die Sommerspiele in Rio freizupauken. (…) Alles gehört jetzt auf den Prüfstand, vom legendär engen Verhältnis Putins zu den Sportfürsten Thomas Bach (IOC) und Sepp Blatter (Fifa) bis zu der Frage, was dem Fußball im Ausrichterland der WM 2018 blüht. (…) Geht das FBI nun auch den Russland-Vorwürfen nach, blüht Bachs IOC ein viel größeres Problem als die Frage, wie es der Welt weismacht, dass sich blitzsaubere Russen auf Rio freuen. Es sieht ja nun so aus, als müsse die Fifa-Affäre bald umgetauft werden: in Fifa/IOC-Skandal“ (Kistner 13.5.2016; Hervorhebung WZ).
Aus einem Beitrag von Johannes Aumüller in der SZ: „Am 17. Juni soll die Entscheidung fallen, ob der Leichtathletik-Weltverband IAAF Russlands Team den Start bei den Sommerspielen in Rio erlaubt. Kürzlich hieß es in Medienberichten, IOC-Chef Thomas Bach und IAAF-Boss Sebastian Coe hätten sich zum informellen Austausch getroffen – und Bach habe eine Teilnahme Russlands als ‚politisch unabdingbar‘ bezeichnet. Die Drähte des Deutschen gen Moskau sind gut. (…) Wenn sich der Dopingskandal so ausweitet, wie von Rodtschenkow dargestellt, wenn es nicht nur um systematisches Doping in der Leichtathletik geht, nicht nur um weit mehr als hundert positive Meldonium-Fälle, sondern auch noch um zahlreiche gedopte Olympiasieger sowie um staatlich organisierten Betrug, dann kann nicht mal mehr der IOC-Chef helfen. Weil selbst Thomas Bach der (Sport-)Welt nicht erklären könnte, warum Russland das Recht auf einen Start haben sollte – nicht nur auf die Leichtathletik bezogen“ (Aumüller 14.5.2016).
– Deutsche Spitzensportler gegen Russland in Rio 2016
Skirennläufer Felix Neureuther: „Ich wäre dafür, dass keine russischen Sportler zu Olympia in Rio dürfen. Vielleicht muss man mal so drastisch durchgreifen, damit es einen Effekt hat.“ – Biathlet Erik Lesser: „Entscheidend wird sein, ob es für diese unglaublichen Anschuldigungen tatsächlich Beweise gibt. Wenn ja, dann muss das normalerweise auch weitreichende Konsequenzen haben.“ Clemens Prokop, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes: „Wenn in Russland so systematisch gedopt wird, sollte die gesamte russische Mannschaft nicht bei Olympia in Rio starten.“ (Alle Zitate: spiegelonline 14.5.2016).
– Frank Patalong in spiegelonline: „Grigorij Rodtschenkow, 1958 in Moskau geboren, ist für manche ein Whistleblower, für den Kreml ein Deserteur und Verräter, vor allem aber ist er ein ausgewiesener Fachmann. Seine Enthüllungen sind letztlich das Geständnis eigener Verbrechen. (…) Laut Rodtschenkow verhinderten in Russland als Kontrolleure getarnte Täter im staatlichen Auftrag effektive Kontrollen. (…) Für reibungslose Abläufe sorgten laut Rodtschenkow die freundlichen Herren russischer Geheimdienste, die aktiv beim Umtausch assistierten“ (Patalong 14.5.2016).

Nachtrag 1: US-Justiz ermittelt
„Das US-Justizministerium hat nach Informationen der ‚New York Times‘ („NYT“) Ermittlungen wegen mutmaßlich systematischen Dopings russischer Top-Athleten aufgenommen. Die Zeitung beruft sich dabei auf zwei namentlich nicht genannte Quellen, die mit dem Fall vertraut seien. Die US-Staatsanwaltschaft für den östlichen Bezirk von New York sei federführend. Die Behörde habe russische Regierungsoffizielle, Athleten, Trainer sowie Anti-Doping-Verantwortliche im Visier, hieß es. Dem Bericht zufolge geht die US-Justiz in diesem Fall vom Verdacht der Verschwörung und des Betrugs aus“ (spiegelonline 18.5.2016b).

Nachtrag 2: Russen verständnislos
„Im russischen Dopingskandal hat die Führung in Moskau mit ‚Skepsis und Unverständnis‘ auf Berichte über angebliche Ermittlungen des US-Justizministeriums reagiert. Moskau sehe darin einen weiteren Versuch Washingtons, die Zuständigkeit US-amerikanischer Gerichte auf andere Länder auszudehnen, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Sportminister Witali Mutko zeigte sich erstaunt über mögliche US-Ermittlungen. ‚Ich würde den USA empfehlen, sich mit der eigenen Nationalmannschaft zu beschäftigen – dort gibt es auch Probleme‘, sagte er der Agentur Tass zufolge. Details nannte Mutko aber nicht“ (spiegelonline 18.5.2016b). Kurz danach stellte Mutko die Doping-Affäre um Sotschi 2014 als Versagen einzelner Sportler dar – nicht als staatliches System-Doping, was es in Wirklichkeit war und ist. Und drohte gleichzeitig den Medien, die darüber berichten. „In einem Gastbeitrag für die britische Sunday Times entschuldigte sich der Sportminister für den Doping-Betrug von Leichtathleten in seinem Land: ‚Um es klar zu sagen: Wir schämen uns für sie.‘ Die Athleten hätten versucht, ‚uns und die Welt zu täuschen. Darüber sei er ‚traurig‘. (…) Nicht Russland hat also betrogen, sondern einzelne Athleten taten es; und Russland gehört zu den Opfern. (…) Sport ist ein Pfeiler des Systems Putin, es gibt kaum einen führenden Politiker ohne Posten in internationalen Sportverbänden. Von Olympia über Schwimmen und Eishockey bis hin zu Fußball haben sie zahlreiche Meisterschaften ins Land geholt. (…) ‚Wir brauchen Siege als Doping für den Patriotismus‘, kommentierte die russische Wirtschaftszeitung Wedomosti. Dieses Mittel zur Mobilisierung der Bürger sei in der Krise wichtiger denn je. Ein betrügerisches System ändern, wenn es erfolgreich war? Eher versucht Mutko, den Imageverfall unter Kontrolle zu bringen. In einem Interview forderte er vor einigen Wochen, Medien, die über Doping-Verstöße berichten, mit einem Bußgeld zu belegen oder gar strafrechtlich zu verfolgen. Nachrichten über positiv getestete Sportler erzeugten ein ’negatives Informationsumfeld'“ (Hans 19.5.2016).

Nachtrag 3: Stimmung gegen Russland
„Nach Informationen der britischen Tageszeitung The Times wird das Olympia-Aus der suspendierten russischen Leichtathleten immer wahrscheinlicher. ‚Die Stimmung hat sich drastisch geändert‘, zitiert die Zeitung ein namentlich nicht genanntes Mitglied des Councils des Weltverbandes IAAF. (…) Am 17. Juni entscheidet das Gremium, ob Russlands Leichtathleten wieder aufgenommen werden“ (SID 17.5.2016).
Bis zum 17.6.2016 kann noch viel passieren – siehe Nachtrag 4.
„Medienberichten zufolge soll die britische Anti-Doping-Agentur Ukad bei ihren Tests in Russland auf massive Widerstände stoßen. Von zuletzt knapp 250 Dopingkontrollen konnten demnach fast 100 nicht durchgeführt werden, da die Sportler nicht angetroffen wurden. Außerdem sei Kontrolleuren angedroht worden, ihre Visa einzuziehen. Ukad, die für die suspendierte Anti-Doping-Agentur Rusada einsprang, erwägt den Rückzug“ (Ebenda).

Nachtrag 4: Doping-Nebelkerzen vom IOC-Präsidenten
Am 17.5.2016 – in höchster Not nach den Presseberichten zu den Doping-Betrügereien bei Sotschi 2014 -, informierte das IOC über Nachtests von Dopingkontrollen der Olympischen Spiele 2008 in Peking. 454 Proben seien nachgetestet worden – 31 Athleten aus sechs Sportarten und zwölf Ländern seien betroffen. Untersucht wurden nur Proben von Sportlern, die auch in Rio 2016 antreten wollen.  IOC-Präsident Thomas Bach lobte sich und das IOC überschwänglich: „Dadurch, dass wir den Start von so vielen gedopten Athleten verhindern, zeigen wir einmal mehr unseren Willen, die Integrität der olympischen Wettbewerbe zu beschützen“ (SZ 18.5.2016).
Da fragt man sich doch, wie viele positive Athleten-Proben noch irgendwo beim IOC herumliegen und – natürlich erst bei medialem Bedarf – noch herausgeholt werden.
Dabei waren die Dopingtests bei Peking 2008 höchst umstritten. Eine unabhängige Expertenkommission im Auftrag der Wada rügte kurz nach Peking 2008, „dass mehr als 100 Nationale Olympische Komitees den Meldepflichten für ihre Athleten nicht nachgekommen waren – und dass ihnen 300 von 4770 Testergebnissen nicht vorlagen“ (Ebenda). Und was Nachprüfungen bringen, ist spätestens nach den Enthüllungen von Rodtschenkow äußerst fraglich. „Dieser hatte davon berichtet, dass er unter Anweisung des russischen Sportministeriums und unter Mithilfe des russischen Inlandgeheimdienstes FSB mehr als 100 Dopingproben ausgetauscht hatte“ (Ebenda).
Dazu aus einem Kommentar von Jens Weinreich in spiegelonline: „Es ist eine Flucht nach vorne. Der Vorstand des von spektakulären Doping- und Korruptionsfällen schwer erschütterten Internationalen Olympischen Komitees (IOC) geht nach einer Krisensitzung in die Offensive. (…) Es handelt sich nicht um die ersten Nachtests der Peking-Proben. Schon 2009 war einem halben Dutzend Sportlern die Verwendung des Blutdopingmittels Cera nachgewiesen worden. Allerdings war damals bei der Auswahl der Proben offenbar selektiert worden – so wie auch aktuell: Man hat sich auf die Proben von Sportlern konzentriert, die für einen Start bei den Sommerspielen 2016 im August in Rio de Janeiro in Frage kommen. Von einer transparenten, unabhängigen Nachkontrolle aller Proben kann somit keine Rede sein. (…) Bei den Heimspielen 2008 in Peking hatte China mit einer gigantischen Medaillenausbeute (51 Gold, 21 Silber, 28 Bronze) Rang eins der Nationenwertung belegt. Es gibt viele Parallelen zu den Vorgängen sechs Jahre später in Russland, die derzeit Schlagzeilen machen: Russland stieg durch ein ausgeklügeltes, staatlich sanktioniertes Betrugsprogramm bei den Winterspielen 2014 in Sotschi zur Nummer eins der Medaillenwertung auf. Dazu gehörte offenbar auch die gezielte Manipulation von Dopingproben im olympischen Labor in Sotschi, wie der inzwischen in die USA geflüchtete damalige Laborleiter Grigori Rodschenkow kürzlich detailliert beschrieb. (…) 300 von 4.770 Testergebnissen blieben zunächst verschwunden, nach öffentlicher Kritik erhielt die Wada erst zwei Monate nach den Spielen die Resultate – natürlich allesamt negativ. Bei 140 weiteren Tests gab es auffällige Werte, die nicht gemeldet wurden. Nur ein Teil der Urinproben wurden auf das weit verbreitete Blutdopingmittel Epo (und verwandte Substanzen) überprüft. In Peking wurden gemäß IOC-Angaben 3.801 Urin- und 969 Blutproben genommen. Sie wurden eingefroren und ins ebenfalls in negative Schlagzeilen gerückte Dopingkontrolllabor von Lausanne überführt. Das IOC hatte 2008 eine zeitnahe Überführung der Proben versprochen. Tatsächlich lagerten die Tests aber rund zwei Monate in China, auch deshalb ist Skepsis angebracht“ (Weinreich 18.5.2016).
Doping ist – wie spätestens die Olympischen Spiele von Turin 2006, Peking 2008, London 2012, Sotschi 2014 zeigen (und mit Sicherheit auch Rio 2016 zeigen wird), nicht der Ausnahme-, sondern der Regelfall. Geduldet von einem IOC, das nur zu gerne wegsieht und seine Doping-Tests selektiv nach Gutsherrenart durchführt.
Und aus einem Kommentar von Thomas Kistner in der SZ: „Der olympische Sport trudelt gerade in die tiefste aller Krisen, und da kommen die Alt-Fälle goldrichtig. Bach kann mit ihnen den Hardliner mimen: Böse, böse Betrüger! Wartet nur! Und weil er so entschlossen ist, begrüßt er auch gleich die Enthüllungen zur Dopingverschwörung von Sotschi 2014. (…) All die frommen Ideen, die den Oberolympier jäh beseelen, haben ja einen Haken: Er hat sie erst, wenn sein Sport wieder mal in der Falle hockt. Wenn also die Schritte, die er propagiert, alternativlos sind; weil es Enthüllungen und Geständnisse gibt. (…) Nun zeigt sich die Zwischenbilanz des olympischen Sports: Dopingtests sind untauglich, weil überwiegend Substanzen in Gebrauch sind, die nicht oder nur Jahre später mit verfeinerter Analytik ermittelt werden können. Staatsdoping. Funktionäre, die Geld von Athleten erpressen. Kleine Steigerungen gefällig? Ein Olympiafest – nicht irgendeines, das letzte, 2014 in Sotschi –, das in James-Bond-Manier weitgehend pharmaverseucht war. (…) Nie waren die Zeiten trüber. Wie absurd ist es da, den Besserungswünschen von Funktionären zu glauben, die mittendrin im Schlamassel hocken? Sie sind die politisch Hauptverantwortlichen; was sonst rechtfertigt ihre gut alimentierten Ämter, die hohe gesellschaftliche Anerkennung? Das System Spitzensport ist verrottet“ (Kistner, Thomas, Bachs Finten, in SZ 19.5.2016).
Von den 31 überführten Dopern von Peking 2008 stellen auch hier die russischen Sportler fast die Hälfte: „14 russische Sportler stehen bei den Nachkontrollen der Olympischen Spiele 2008 in Peking unter Dopingverdacht. Das berichtet die Nachrichtenagentur TASS mit Verweis auf das Nationale Olympische Komitee von Russland (ROC). (…) Damit steht wieder einmal Russland im Zentrum neuer Doping-Schlagzeilen“ (spiegelonline 24.5.2016).

– Nachtrag 5: Quo vadis, Bach?
Aus einem Beitrag  von René Hofmann in der SZ: „In dieser Woche könnte sich der Wind entscheidend gedreht haben. An diesem Mittwoch trat Thomas Bach, der mächtigste Mann des Weltsports, in einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz auf. Der einstige Fechter steht seit 2013 dem Internationalen Olympischen Komitee vor. Bach, 62, galt lange als Freund und Fürsprecher Russlands. Nun aber schließt auch er eine Kollektiv-Bestrafung nicht mehr aus. In den Worten eines Sport-Diplomaten klingt das so: ‚Falls sich die Anschuldigungen bewahrheiten, werden wir alle Beteiligten zur Rechenschaft ziehen. Das reicht von individuellen, lebenslangen Sperren über finanzielle Strafen bis hin zum Ausschluss nationaler Sportverbände.‘ (…) Mitarbeiter im Anti-Doping-Labor sollen knapp 100 kontaminierte Urinproben russischer Sportler durch ein Loch in der Wand in einen Nebenraum geschmuggelt haben, wo Geheimdienst-Agenten die verdächtigen Urinproben gegen zuvor abgegebene, unauffällige ausgetauscht haben sollen. Bach, der den Russen zuvor noch attestiert hatte, ’starke Botschaften‘ im Bemühen um Reformen auszusenden, fand dafür einen Superlativ. Falls das wahr sei, so der IOC-Präsident, wäre das ein ’noch nie da gewesenes Niveau krimineller Aktivität‘. Die New Yorker Staatsanwaltschaft sieht das offenbar ähnlich. Auf Veranlassung des Justizministeriums – so undementierte US-Medienberichte von diesem Dienstag – untersucht sie die Vorwürfe. In der vergangenen Woche war bereits bekannt geworden, dass das FBI mit Ermittlungen gegen russische Sportler und Funktionäre begonnen hatte. (…) Über die Frage, ob die Russen in Rio mitspielen dürfen, können die US-Behörden jedoch nicht entscheiden. Das ist Sache der Sportverbände. Formal hat das IOC quasi das Hausrecht“ (Hofmann, René, Liebesgrüße aus dem Labor, in SZ 19.5.2016).

– „Sport ist ein Illusionstheater“
Nochmal René Hofmann in der SZ: „Der Sport ist ein Illusionstheater. Das war auch schon vor Sotschi bekannt. Inzwischen aber wird der Welt bewusst, wie gewaltig sie bei dem Sportfest vor zwei Jahren wirklich genarrt wurde. Um dem Planeten seine Macht und seine Größe zu beweisen, ließ Präsident Wladimir Putin offenbar nicht nur gigantische Sportstätten in die Landschaft betonieren und die Regie unliebsame Eindrücke einfach ausblenden. Wahrscheinlich rüsteten die Gastgeber ihre Mannschaft auch mit unerlaubten Mitteln derart auf, dass sie gar nicht anders konnte, als im Medaillenspiegel weit vorauszustürmen. (…) Bisher lebte die große bunte Unterhaltungsshow blendend davon, dass sie so viele Menschen begeisterte. Weltweit. Alt und Jung. Männer und Frauen. Die Geschichten, die der Sport schreibt, sind universell verständlich. Sieger, Verlierer, Drama, Emotionen: Das versteht jeder, das berührt jeden – solange er an das glaubt, was er zu sehen bekommt. Und bisher war es so, dass die meisten Menschen sich im guten Glauben auf den Tribünen und vor den Fernsehschirmen versammelten. (…) In dieser Woche wurde bekannt, dass bei nachträglichen Tests der Dopingproben, die 2008 bei den Spielen in Peking genommen wurden, 31 Sportler auffielen. Die Ergebnisse der Proben von London 2012 soll es kommende Woche geben. Schon jetzt ist klar, dass auch dort massiv betrogen wurde. Von den zwölf Frauen, die zum Finale über 1500 Meter Aufstellung nahmen, wurden inzwischen sechs mit verbotenen, leistungssteigernden Mitteln in Verbindung gebracht. (…) Die vielen falschen Geschichten, die vielen verlogenen Bilder zeigen inzwischen Wirkung. In Hamburg hat das Volk ‚Nein‘ gesagt, als es darum ging, ob die Stadt sich um die Sommerspiele 2024 bewerben solle. Die Münchner wollten die Winterspiele 2022 nicht haben – ebenso wenig die Graubündener und die Krakauer. In Oslo und in Stockholm stoppten die Regierenden die Bewerbungen aus Angst vor dem Zorn der Bürger. Die Faszination Olympia hat merklich gelitten. Auch deshalb, weil der Ringe-Zirkus sich immer als eine ganz besondere Sportschau inszenierte. Nicht nur sauber, sondern rein sollte Olympia sein – und damit weit über den Sportplatz hinaus wirken. (…) Der Weltsport ist an einer Klippe angelangt. Wie tief der Sturz ausfällt, wird sich bald zeigen. In ein paar Wochen beginnen in Rio de Janeiro die Spiele der XXXI. Olympiade. Die Stadien sind fertig, sie bieten Kulissen für tolle Bilder. Wie gut diese ankommen werden? Das ist die spannende Frage“ (Hofmann 21.5.2016).

– Alt-Urin, Neu-Urin
Wilhelm Schänzer, Chef des Deutschen Dopingkontrolllabors in Köln, zum russischen Staatsdoping bei Sotschi 2014: „Das klingt nach Ausmaßen wie vor 30 Jahren bei den Manipulationen in der DDR… Wir dachten nicht, dass wir das nochmals erleben müssen“ (Eberle, Lokhsin 21.5.2016). Schänzer drängte in diesem Zusammenhang auf einen Marker, mit dem eine Altersbestimmung der Urinproben möglich würde, um die Betrügereien mit Alt-Urin zu beenden (Ebenda).

– Moskauer Testlabor für Blutproben wieder zugelassen
Die Wada lässt das bislang suspendierte Moskauer Testlabor wieder Blutproben – nicht Urinproben! –  analysieren, um, wie Wada-Präsident Craig Reedie erklärte, die biologischen Pässe der russischen Athleten untersuchen zu können. Am 17.6.2016 will die IAAF entscheiden, ob die russischen Leichtathleten bei Rio 2016 antreten dürfen. „Mit der Wiederzulassung des Moskauer Labors sollen nun die nötigen Bluttests in Russlands Team durchgeführt werden, um mehr Material für die Entscheidung über den Bann zu haben. Derzeit testet die britische Anti-Doping-Agentur Ukad Proben der russischen Sportler. Sie hatte zuletzt in den Medien über massive Behinderungen bei ihrer Arbeit in Russland geklagt“ (DPA, SID, „Aber nur Blut“, in SZ 23.5.2916). – „Reedie ist ein alter olympischer Fahrensmann, IOC-Vorstand – nichts in seiner Vita weist ihn als engagierten Betrugsbekämpfer aus. Stattdessen zeigen Mails, wie er die Russen im April 2015 nach den ersten Enthüllungen zu beruhigen versuchte. Man kann es auch so sagen: Reedie ist in diesen heiklen Zeiten der ideale Mann an der Wada-Spitze. Er hält den schönen Schein aufrecht“ (Kistner, Thomas, Null Toleranz, in SZ 25.5.2016).

– Doping-Nachtests London 2012: 23 Sportler auffällig
Das  dürfte nur die Spitze des Doping-Eisbergs  sein: „Nachgetestet wurden nur Personen, die noch in Rio dabei sein könnten“ (SID, 23 positive Nachtests, in SZ 28.5.2016). – „Am Wochenende bestätigten Funktionäre in Moskau, dass unter den 23 bei Nachtests auffälligen Startern der Londoner Sommerspiele von 2012 auch acht Russen seien. (…) Russlands Sportminister Witalij Mutko kritisierte die Nachtests. ‚London ist vorbei, sie haben bei allen Proben genommen und allen Medaillen ausgehändigt, und danach finden sie neue Analysemethoden. Ich weiß nicht, warum die Welt diesen Weg geht‘, zitierte ihn die Agentur R-Sport“ (Aumüller, Johannes, Mutko findet Nachtests unsinnig, in SZ 30.5.2016).
Zur Erinnerung: Die Doping-Industrie ist der Doping-Wissenschaft immer eine Spritze voraus… Deshalb machen Nachtests absolut Sinn.
Dazu aus einem Kommentar von Thomas Kistner in der SZ: „Aktuell sind es 55 Sündenfälle. Dabei wurden vor allem Athleten in den Blick genommen, die damals dabei waren – und es 2016 in Rio noch mal wissen wollen. (…) Aber ruhig Blut, Spitzensport. Für den Dopingbetrieb lautet die gute Nachricht: Alles, was jetzt aufgetaut und weggetestet wurde, ist nicht mehr verfügbar für spätere Tests. Wer diesmal durchkam, dem kann künftig nichts mehr passieren. (…) Unter den nun fast 50 Dopingfällen von Peking, das darf gewettet werden, werden die größten Namen fehlen. (…) Auf den Punkt bringt die Absurdität des Kommerztheaters im Zeichen der Ringe jene Selbstbeweihräucherung, mit der nun das IOC jede seiner Betrugsmeldungen garniert. Die Kernbotschaft lautet, wie wild entschlossen man den Dopingkampf führe. Das ist blühender Unfug. Die Kernbotschaft jeder späten Enthüllung ist ja nicht die saubere Linie des IOC, sondern dass es stark verschmutzte Spiele veranstaltet. Dass hin und wieder etwas aufgedeckt wird, ist unvermeidlich und die minimale Bringschuld eines Olympiakonzerns, der über all die Werbethemen rund um Jugend, Erziehung und Sportethik Milliarden verdient. (…) Pharma-Affären stören enorm. Gerade mühen sich Olympias Granden, die schwerstbelastete Russen-Armada irgendwie noch nach Rio zu bringen. An der Realität bemessen, sind die paar Fälle, die es immer mal gibt, als Pannen im System zu sehen“ (Kistner, Thomas, Ruhig Blut, in SZ 1.6.2016).

– Russische Stabhochspringerin: Deutschland, USA, Großbritannien und Kenia dopen auch
Jelena Issinbajewa unterstellte im TV-Propagandasender Russia Today den vier Ländern systematisches Doping – angesichts des drohenden Ausschlusses der russischen Leichtathleten von Rio 2016 ein durchsichtiges Ablenkungsmanöver. Der Präsident des deutschen Leichtathletik-Verbandes, Clemens Prokop: „Da spricht die blanke Verzweiflung, wenn man solchen Unsinn verzapft… Das Problem in Russland wird durch so etwas nicht gelöst“ (SID, „Blanke Verzweiflung“, in SZ 1.6.2016).

IAAF-Präsident und Fifa-Präsident nicht im IOC
„Die Weltverbandschefs Gianni Infantino (Fußball) und Sebastian Coe (Leichtathletik) sind nicht für die Aufnahme ins Internationale Olympische Komitee (IOC) vorgeschlagen worden. (…) Bis dato waren die Weltverbände im Fußball (Fifa) und in der Leichtathletik (IAAF) stets durch ihre Präsidenten vertreten. Infantino und  Coe stehen jedoch wegen der jüngsten Skandale in ihren Verbänden in der Kritik“ (SID, IOC ohne Infantino und Coe, in SZ 4.6.2016).

Auch blamabel für das IOC: Die Vergabe Tokio 2020
„Offenbar kauften die späteren Sieger aus Tokio Stimmen ein – vermutlich bei Lamine Diack, damals Präsident des Leichtathletik-Weltverbandes IAAF, der auch einflussreich im IOC wirkte. Jetzt durchleuchten also die Staatsanwälte Tokios Bewerbung, wegen des Verdachts auf ‚Bestechung, Geldwäsche, Verschleierung einer organisierten Bande und Beteiligung an einer kriminellen Verschwörung'“ (Ebenda). Nach längerem Zögern will nun die japanische Regierung doch den Vorwürfen nachgehen (spiegelonline 13.5.20156). Eigentümer der Firma Black Tidings („Schwarze Botschaften“) ist Ian Tan Tong Han, der mit dem japanischen Marketing-Konzern Dentsu liiert ist. „Dentsu ist mit der IAAF verbandelt, und Ansprechpartner für das Ressort Marketing war dort einst Papa Massata, der Sohn des langjährigen Präsidenten“ (Kistner, Knuth 13.5.2016). Der Präsident war bis 2015 Lamine Diack, derzeit in Frankreich festgehalten. Sein Sohn Papa Massata wird mit internationalem Haftbefehl gesucht. „Tan, so der Wada-Report von Dick Pound, galt als ständiger Begleiter von Papa Massata Diack,seit sie sich bei Peking 2008 trafen, und Tan war seinem Freund so ergeben, dass er 2014 seinen Sohn nach ihm benannte“ (Gibson 21.5.2016).
Exkurs Dentsu: „Gerade erst musste sich Tadashi Ishii, 65, öffentlich entschuldigen. Er ist Chef von Dentsu, der fünftgrößten Werbeagentur der Welt. Sie hatte mehr als hundert Kunden über Jahre um mindestens zwei Millionen Euro geprellt, unter ihnen auch den Autohersteller Toyota. (…) Nun folgt der nächste Skandal. Eine 24-jährige Angestellte der Firma hat Suizid begangen. Die staatliche Arbeitsaufsicht bezeichnet den Selbstmord der jungen Frau als „Karoshi“, Tod durch Überarbeitung. Beamte des Arbeitsministeriums rückten zur Hausdurchsuchung ins Hochhaus in Tokio ein. (…) Das Ministerium verdächtigt Dentsu, massiv gegen die Arbeitsgesetze zu verstoßen. Die Frau hatte im Frühjahr 2015 bei Dentsu begonnen und sei gezwungen worden, mehr als 105 Stunden Mehrarbeit pro Monat zu leisten, bis zu 30 Stunden pro Woche. In ihrer Probezeit waren es ‚nur‘ 40 Stunden pro Monat, klagte sie in sozialen Medien. So könne sie nicht weiterleben. (…) Dentsu ist die Großmacht in der japanischen Medienwelt. Die 115 Jahre alte Firma hält 40 Prozent Marktanteil des Werbemarktes, sie produziert nicht nur Anzeigen, sondern schaltet sie auch. Sie hält Anteile an den Zeitungen, kontrolliert mehrere Fernsehsender, mischt in der Unterhaltungsindustrie und im Sportmarketing mit und ist mit der Atomwirtschaft verbandelt. Eine Fachzeitschrift schrieb, Dentsu habe ‚Japans Medien im Würgegriff‘“ (Neidhart, Christoph, Zehn Teufelsregeln, in SZ 18.10.2016).
Black Tidings unterhielt ein Konto in Singapur und erhielt insgesamt 1,8 Millionen Euro in zwei Transaktionen im Juli 2013 und im Oktober 2013 von einer japanischen Bank. 950.000 Dollar wurden für Beratung und Lobbytätigkeit für den Zeitraum 1.7. bis 30.9.2013 überwiesen, 1,375 Millionen Dollar für „Analysen der Faktoren der gewonnenen Bewerbung“. Owen Gibson schrieb dazu im Guardian, wer denn das glauben solle: dass 1,375 Millionen Dollar nach der gewonnenen Bewerbung bezahlt wurden (Gibson 21.5.2016).
„Die Absender machten sich nicht die Mühe, ihre Absichten zu verschleiern: ‚Tokio 2020 Olympic Game Bid‘ stand in den Betreffzeilen, Olympia-Bewerbung 2020 Tokio. Zwischen den Zahlungen, im September 2013, kürte das IOC den Ausrichter, Tokio gewann vor Madrid und Istanbul.“ (Kistner, Knuth 13.5.2016). – „Japans NOK-Präsident Tsunekazu Takeda, seinerzeit Chef des olympischen Bewerbungskomitees, bestätigte die Zahlungen inzwischen, weigerte sich aber im japanischen Parlament, Details dazu offenzulegen. Die Vorgänge sind für den IOC-Präsidenten durchaus delikat, denn sowohl Diack als auch Takeda gehörten stets zu seinen engsten Verbündeten im IOC. Bach hat Takeda sogar zum Chef der IOC-Marketingkommission gemacht“ (Weinreich 18.5.2016). Der japanische Sportminister Horoshi Hase verteidigte die Zahlung von umgerechnet 1,8 Millionen Euro mit der „Argumentation“: „Die Zahlung erfolgte mit dem Ziel, die Zahl der Unterstützer zu erhöhen, nicht um Stimmen zu kaufen“ (DPA 18.5.2016).
So heißt das also jetzt…
Als Begründung zog der Sportminister ausgerechnet die Atomkatastrophe von Fukushima heran. „Das damalige Tokioter Bewerbungsteam habe sich mit Bedenken um radioaktiv belastetes Wasser in Folge der Atomkatastrophe in Fukushima konfrontiert gesehen“ (Ebenda).

Nachtrag 1: DLV-Präsident fordert „Russen bleiben draußen“
Der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), Clemens Prokop, schrieb zum russischen Doping-Skandal einen offenen Brief an IOC-Präsident Thomas Bach und stellte u. a. fest: „Athletinnen und Athleten betrogen worden, auch das IOC und die olympische Idee sind hintergangen worden“ („Wir sind betrogen worden“, in Der Spiegel 24/11.6.2016). Prokop zog die Konsequenz: „Das Ergebnis kann nur lauten: Die Russen bleiben draußen“ (Ebenda).

Nachtrag 2: Neue ARD-Dokumentation von Hajo Seppelt
„Russlands führende Leichtathleten und Funktionäre haben in diesen Tagen viel zu tun. Sie sind ungewohnt auskunftsfreudig, halten Tage der offenen Tür ab, im Moskauer Anti-Doping-Labor etwa. Eine massive Kampagne rollt da durch die Sportwelt, gesteuert von einer amerikanischen PR-Agentur. (…) Der ARD-Journalist Hajo Seppelt will am Mittwoch (22.45 Uhr) in einer Dokumentation jedenfalls neue Belege vorlegen, wonach auch Russlands Regierung den Betrug choreografierte, allen voran ein gewisser Witalij Mutko (was Mutko bis zuletzt bestritt). Der Sportminister soll auch veranlasst haben, dass ein Dopingfall in Russlands höchster Fußballliga vertuscht wurde. Außerdem will die ARD, die vor zwei Jahren in einer Dokumentation den großflächigen Dopingmorast in Russland freilegte, Aufnahmen präsentieren, die zeigen, wie gesperrte Trainer weiterhin Top-Athleten betreuen. Einer dieser Trainer ist dem Vernehmen nach Wiktor Tschegin. (…) Im vergangenen März wurde Tschegin dann lebenslang gesperrt, zwei Dutzend seiner Athleten waren mittlerweile wegen Dopings aufgeflogen, darunter Sergej Kirdjapkin, Olympiasieger 2012 über 50 Kilometer Gehen, und Olga Kaniskina, die in London Silber über 20 Kilometer gewann. (…) Offenbar gibt es auch neue Details zum rätselhaften Tod von Nikita Kamajew, einst Geschäftsführer der russischen Anti-Doping-Agentur (Rusada). Kamajew kontaktierte im vergangenen November, zehn Wochen nach seinem Rücktritt bei Rusada, irische und dänische Journalisten. Er wolle seine Memoiren schreiben, sie sollten signifikant mehr von Russlands Dopingsystem zeigen als bisherigen Enthüllungen. (…) Wenn die Journalisten weitere Informationen benötigten, sagte Kamajew den dänischen Journalisten damals, sollten sie sich an Wjatscheslaw Sinew wenden, seinen Vorgänger. Kurz darauf, am 3. Februar, starb Sinew plötzlich, angeblich wegen Herzproblemen. Elf Tage später war auch Kamajew tot“ (Knuth, Johannes, Befehle aus dem Kreml, in SZ 8.6.2016).

Nachtrag 3: Mutko lässt Doping vertuschen
Der neue Beitrag von Hajo Seppelt „Geheimsache Doping. Showdown für Russland“ berichtet, wie Mutko sich persönlich in Dopingangelegenheiten einmischt. „Der Befehl ist eindeutig: ‚Die Entscheidung soll mit WL abgestimmt werden‘, schreibt ein Mitarbeiter aus dem russischen Sportministerium in einer E-Mail. Die Rede ist von einer positiven Dopingprobe vom 17. August 2014. Ein Fußballspieler ist mit Hexarelin aufgeflogen, der Spieler ist beim russischen Erstliga-Klub FK Krasnodar angestellt, der ein Jahr später zwei Mal in der Europa League gegen Borussia Dortmund antreten wird. ‚Warten wir also beim Fußballer auf die Entscheidung von WL?‘, fragt der Mitarbeiter aus dem Doping-Kontrolllabor. ‚Genau so‘, kommt es aus dem Sportministerium zurück. Das wird geleitet von einem gewissen Witali Leontijewitsch Mutko, oder, in den Initialen seiner Vornamen: ‚WL‘. (…) Mutko ist ein alter Petersburger Vertrauter von Staatschef Wladimir Putin. Er ist der oberste Sportpolitiker des Landes, seit Monaten beteuert er, wie gründlich sich der russische Sport gerade reformiert. Er vereint die Ämter des russischen Sportminister und des Fifa-Exekutivmitglieds auf sich, er organisiert auch die Fußball-WM 2018, das nächste Großprojekt, mit dem Russland seine neue Stärke demonstrieren will. Und dieser Mutko, das legen die E-Mails aus dem Film nahe, könnte in einem Fall eine Liste an Dopingfällen abgenickt haben, nicht nur im Fußball“ (Knuth, Johannes, Fährten zu „WL“, in SZ 9.6.2016). – „Dass lebenslang gesperrte oder massiv belastete russische Trainer weiterhin Athleten betreuen, versteckt in der Provinz, eskortiert von Polizeiautos, dass externe Dopingkontrolleure vom russischen Geheimdienst eingeschüchtert werden, kurzum, dass der versprochene Umbruch in Russlands Sport und der Leichtathletik auf sich warten lässt – darauf ging Mutko gar nicht erst ein. (…) Alles wie gehabt also in einer sportpolitisch einflussreichsten Nationen der Welt: Während der Strom an belastenden Nachrichten nicht abreißt, greifen die Beschuldigten zu den bewährten Kniffen der Krisen-PR: Bloß nicht mit den Fakten beschäftigen, sondern mit den Überbringern der schlechten Nachrichten. Ein bisschen Verschwörungstheorie schadet auch nie. (…) Der Leichtathletik-Weltverband entscheidet 17. Juni, ob der derzeit kollektiv gesperrte russische Verband wieder begnadigt wird. Man treibe die Anti-Doping-Reformen weiter voran und bereite sich auf die Spiele vor, sagte Mutko“ (Knuth, Johannes, Alte Kniffe, in SZ 10.6.2016).
Dazu aus einem Kommentar von Thomas Kistner in der SZ: „Es geht weiter wie bisher im russischen Doping-Sport. (…) Im Dopingkampf verläuft die Frontlinie nicht innerhalb des Sports, wie dem Publikum ständig weisgemacht wird. Sie verläuft zwischen dem Sport – dessen den Betrug fördernden bzw. absichernden Teilen sowie den das falsche Spiel tolerierenden Kontrollinstanzen einerseits – und den wahren Enthüllern andererseits. (…) Dessen System hält dicht. Verantwortung wird unter den gut vernetzten Kameraden so lange hin und hergeschoben, bis sie sich aufgelöst hat. Ein Schauspiel, aktuell zu verfolgen an der Frage, ob Russlands Pharmada in Rio starten darf. Natürlich könnte der Spiele-Besitzer, das Internationale Olympische Komitee, jetzt einfach den Daumen senken. Aber das will es ja gar nicht, und es tut jetzt so, als wären dafür andere zuständig. (…) Die rituellen Ausflüchte der Funktionäre, ihre Verweise auf Regeln und kleinteilige Prozeduren sind ermüdend. All das dient im Kern nur dazu, Verantwortung zu verwässern und Strukturprobleme zu verschleiern. Im Blick auf das IOC, das derzeit vermutlich nach Tricks Ausschau hält, um die Russen irgendwie nach Rio zu bringen – im Blick auf dieses IOC gilt dreierlei: Erstens, es bekämpft Doping mit allen Mitteln; Chef Bach predigt ja ‚Nulltoleranz‘. Zweitens: Als Resultat sehen wir saubere Spiele unterm olympischen Motto schneller, höher, stärker. Drittens ist die Erde eine Scheibe“ (Kistner, Thomas, Das System hält dicht, in SZ 10.6.2016).

– Dr. Rodschenkow und Mr. Doping
Nun gerät London 2012 ins Visier der Dopingfahnder. „Besonders pikant: Die höchste Administration des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) soll Rodschenkow 2011 zur Vorab-Begutachtung des Londoner Dopinglabors eingeladen habe. Anderen Nationen soll dieses Privileg nicht zuteil geworden sein, das es Rodschenkow laut Selbstauskunft ermöglichte, frühzeitig auf die als besser denn je gepriesene Analyse-Methodik für die 2012-Spiele zu reagieren. Rodschenkow ist im FBI-Zeugenschutz-Programm, er darf sich keine Lügen erlauben. Auch der Doping-Sonderermittler Richard McLaren hat ihn als glaubwürdig eingestuft. Nun berichtet die Mail on Sunday, wie Rodschenkow Anfang 2015 den russischen Geheimdienst FSB auf die Gefahr hingewiesen habe, die durch Nachtests der Proben von den Sommerspielen 2008 in Peking und 2012 in London rühre. Und dass viele positive Fälle drohten. Per Memo an FSB-Leute soll er dargelegt haben, dass wohl weder das IOC noch der Leichtathletik-Weltverband IAAF diese Proben nachtesten wollten, um ‚Skandale‘ zu vermeiden. Und: dass der damalige Laborchef im zentralen Kontrollinstitut des Weltsports, Martial Saugy in Lausanne, ‚gut verbunden mit Russland‘ sei. Das Lausanner Labor ist auch für die Nachtests von IOC und IAAF zuständig. De langjährige Laborchef Saugy ist zwar 2016, inmitten der Russland-Turbulenzen, still aus diesem Amt geschieden, doch den Fußball-Weltverband Fifa, der nun mit Russlands Nationalteam ein einschlägiges Problem hat, berät der Schweizer weiter“ (Kistner, Thomas, Kann denn Küssen Doping sein? in SZ 17.7.2017).

– Russischer Doping-Ablasshandel
„Noch steckt die Nachricht im Gerüchte-Stadium. Allerdings passt dieses Gerücht ziemlich perfekt in die Gesamtlandschaft des pharmaverseuchten Olympiasports. Es lautet: Das Internationale Olympische Komitee (IOC) strebe einen Deal mit Russlands nationalem Olympiakomitee an, um endlich die Bildfläche für die Winterspiele in Pyeongchang zu bereinigen. Eine ‚erhebliche Strafzahlung für endemisches Doping‘ solle Putins Athleten das kollektive Startrecht in Südkorea sichern, kolportiert wird eine Dimension um die 100 Millionen Dollar. (…) Das IOC unter Putin-Freund Thomas Bach bewegt sich seit Beginn der Affäre an Russlands Seite. Und wie immer die Sanktion am Ende ausschauen wird: Härte und Glaubwürdigkeit wird sie nicht besitzen. Wer das erwartet, darf getrost auch glauben, dass die zwei sogenannten unabhängigen Kommissionen, die das IOC zum Russland-Doping ins Leben rief und seither wie eine Monstranz vor sich herträgt, Empfehlungen aussprechen werden, die dem Willen der IOC-Herren widersprechen. (…) Ein Finanzdeal mit Moskau wäre absurd. Russlands Betrugsstrategen müssen zur Verantwortung gezogen, von staatlicher Seite muss aktiv an der Aufdeckung des ganzen Komplotts mitgewirkt werden – erst dann ließe sich über einen Neuanfang reden. Wer gedopt hat in Sotschi oder anderswo, wer manipulierte Proben aufweist, darf nicht in Pyeongchang starten, bloß weil zwischen Kreml und Olymp ein paar Geldkoffer auf Reisen gehen. Auf rund 50 Milliarden Dollar wird Russlands Aufwand für die verruchten Sotschi-Spiele beziffert, da wäre sogar eine Strafzahlung von einer halben Milliarde gerade mal ein Prozent (das ist kein Plädoyer für ein höheres Bußgeld, es illustriert die Lächerlichkeit einer solchen Sanktion). Gipfel des Zynismus wäre es, das Geld dann großherzig der Dopingbekämpfung zuzuführen“ (Kistner, Thomas, Ein Sack voller Moneten, in SZ 10.8.2017).

– Russisches Dopingprogramm für WM 2018
„Die russische Regierung erteilte dem Chemiker Grigorij Rodtschenkow offenbar den Auftrag, im Hinblick auf die Fußballweltmeisterschaft 2018 im eigenen Land ein Dopingprogramm für das Gastgeberteam auf den Weg zu bringen. (…) Der Betrug sollte offenbar ähnlich ablaufen wie bei den Winterspielen in Sotschi. Dort hat Rodtschenkow nach eigenen Angaben nachts im Dopingkontrolllabor vermeintlich positive Urinproben russischer Sportler gegen sauberen Urin ausgetauscht. Ermittlungen der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) bestätigen diese Schilderungen von Rodtschenkow. Laut Wada haben über 1000 Sportler von Russlands Staatsdopingsystem profitiert. Der russische Vizepremierminister Witalij Mutko, der auch Chef des Organisationskomitees der Fußball-WM ist, teilt dem SPIEGEL mit: ‚Der Staat hat keine Möglichkeit, die Arbeit eines Labordirektors zu überwachen'“ (Gastgeber Russland bereitete offenbar Dopingprogramm vor, in spiegelonline 25.8.2017).

– Anti-Doping-Agenturen fordern Russlands Ausschluss bei Pyeongchang 2018
„Die führenden nationalen Anti-Doping-Agenturen haben das Internationale Olympische Komitee (IOC) wegen dessen inaktiver Haltung in der Russland-Frage scharf kritisiert und zugleich den Komplett-Ausschluss des russischen NOK von den Winterspielen 2018 in Pyeongchang (Südkorea) gefordert. (…) Die Stellungnahme war auf einem gemeinsamen Treffen am 12. und 13. September in Denver verabschiedet worden“ (DPA, Aus für Russland gefordert, in SZ 15.9.2017). – „Die Vertreter der 17 Nados, darunter die deutsche Nada, riefen das IOC dazu auf, das russische Olympia-Komitee ROC aufgrund nachgewiesener Manipulation und Korruption in Sotschi 2014 nicht zu den kommenden Spielen in Südkorea (9. bis 25. Februar) zuzulassen. (…) Die Anti-Doping-Agentu

Apr 092016
 
Zuletzt geändert am 05.06.2016 @ 11:11

9.4.2016, aktualisiert 5.6.2016

Die Süddeutsche Zeitung sowie weltweit viele andere Medien veröffentlichten Anfang April 2016 Hintergründe und Analysen zu den „Panama Papers“, die der SZ 2015 anonym zugespielt und über Briefkastenfirmen (mit sogenannten Offshore-Konten) der Kanzlei Mossack Fonseca aus Panama Auskunft gibt. Zu den Gründern der Kanzlei: Ramón Fonseca war Berater von Panamas Präsident Juan Carlos Varela im Ministerrang und geschäftsführender Vorsitzender der Regierungspartei Panamenista. „Jürgen Mossack, geboren 1948 in Fürth als Sohn eines früheren SS-Mitglieds, war mit seinen Eltern nach Panama ausgewandert, studierte Jura und gründete 1977 die Jürgen Mossack Lawform“ (Burghard 14.4.2016). Mossack Fonseca reüssierte unter dem Diktator Manuel Noriega und gewann beträchtlichen politischen Einfluss in Panama (Ebenda. Zur Rolle Noriegas vgl. Lutheroth 19.12.2014).
„Die Süddeutsche Zeitung hat sich dafür entschieden, die Dokumente gemeinsam mit dem International Consortium for Investigative Journalists (ICIJ) auszuwerten (..) Panama Papers ist die größte bislang dagewesene grenzüberschreitende Zusammenarbeit dieser Art: Rund 400 Journalisten von mehr als 100 Medienorganisationen in rund 80 Ländern recherchierten in den vergangenen zwölf Monaten in den Dokumenten (…)  2,6 Terabyte, 11,5 Millionen Dokumente und 214 000 Briefkastenfirmen: Die Panama Papers sind das größte Leak, mit dem Journalisten je gearbeitet haben“ (http://panamapapers.sueddeutsche.de/articles/56ff9a28a1bb8d3c3495ae13/).
Anbei einige Beispiele, wie die Zusammenhänge zu den Sportorganisationen Fifa, Uefa, Putins Russland etc. aussehen.

– Michel Platini kaufte eine Offshore-Gesellschaft
„Der ehemalige Mittelfeld-Star aus Frankreich war damals seit Anfang des Jahres (2007; WZ) Präsident des Europäischen Fußballverbandes Uefa. Am 27.12.2007 wurde die Schweizer Privatbank ‚Banque Baring Brothers Sturdza’ (BBBS) bei der Anwaltskanzlei ‚Mossack Fonseca’ vorstellig. Das belegen die ‚Panama Papers’, ein riesiger Datensatz aus dem Innersten jener Kanzlei. (…) Als Inhaber der ‚Balney‘ ließ Platini keinen Namen eintragen, stattdessen ließ er eine Inhaberaktie ausstellen. Die Firma gehörte damit demjenigen, der die Aktie – nicht mehr als ein Blatt Papier – in seinem Besitz hatte“ (Strozyk 3.4.2016). Die Aktien der Balney Enterprises Corp. wurden als anonyme Inhaberaktien ausgegeben: Damit ist nicht feststellbar, wem die Firma gehört. „Per Generalvollmacht kann Platini aber nahezu uneingeschränkt im Namen dieser Firma handeln“ (Much, Obermayer 4.4.2016a).

– Jérôme Valcke und seine 32-Meter-Yacht
Im Juli 2013 gründete der im September 2015 wegen Korruptionsvorwürfen suspendierte Ex-Fifa-Generalsekretär Jérôme Valcke eine Offshore-Firma bei Mossack Fonseca (Much, Obermayer 4.4.2016a). „Der ehemalige FIFA-Generalsekretär hatte den Offshore-Dienstleister genutzt, um seine 32-Meter-Jacht in einer Gesellschaft unterzubringen. Im September 2015 wurde der Vertraute Blatters von seinen Ämtern suspendiert, kurz darauf wurde er von der FIFA für zwölf Jahre gesperrt. Mittlerweile ermittelt auch die Schweizer Bundesanwaltschaft wegen Korruption gegen Valcke, sein Anwesen wurde im März 2016 durchsucht. Als die ersten Ermittlungen bekannt wurden, ließ ‚Mossack Fonseca’ seine Direktoren von Valckes Firma zurücktreten“ (Strozyk 3.4.2016).

– Ex-Uefa-Funktionär Eugenio Figueredo hat elf Briefkasten-Firmen
„Figueredo, 83-jähriges Fußball-Urgestein aus Uruguay und ehemaliger FIFA-Vizepräsident, soll sich gemeinsam mit anderen südamerikanischen Funktionären an Schmiergeldzahlungen in Höhe Dutzender Millionen US-Dollar bereichert haben. Das wirft ihm das FBI vor, auf dessen Drängen hin Figueredo im vergangenen Jahr in der Schweiz verhaftet worden ist. In einem weiteren Fall, der in seiner Heimat Uruguay verhandelt wird, hat Figueredo seine Beteiligung an Betrug und der Geldwäsche eingeräumt. In den ‘Panama Papers’ finden sich gleich elf Firmen, über die Figueredo verfügte. Der ehemalige FIFA-Vize nutzte die Firmen nicht alleine, sondern baute sich ein Netz an Vertrauten: In den Unterlagen finden sich Vollmachten für seine Frau, mehrere Anwälte und Berater und sogar einen Architekten, mit dem Figueredo offenbar Immobilienprojekte entwickelte“ (Strozyk 3.4.2016). Figueredo gehört zu den sieben Fifa-Funktionären, die Ende Mai 2015 beim Fifa-Kongress aus dem Luxus-Hotel Baur au Lac inhaftiert wurden. Er soll auch Bestechungsgelder von den TV-Rechte-Händlern Hugo und Mariano Jinkis genommen haben (Mossac Fonseca SZ 4.4.2016). Die Bestechungsgelder der Jinkis (siehe unten) investierte Figueredo über Offshore-Firmen von Mossack Fonseca in Immobilien in Uruguay (Ebenda).

– Hugo und Mariano Jinkis
„Vater und Sohn sollen laut der New Yorker Anklage jahrelang hohe Funktionäre des Weltfußballverbandes bestochen haben, um so an Übertragungsrechte für Fußball-Veranstaltungen wie die Copa América oder WM-Qualifikationsspiele in Südamerika zu gelangen“ (Mossac Fonseca SZ 4.4.2016). – „Als Vehikel für verdeckte Zahlungen sollen die Jinkis Briefkastenfirmen genutzt haben. Das US-Justizministerium erhob im Mai 2015 Anklage gegen sie und zwölf andere Personen“ (Kistner u. a. 4.4.2016). Für die Rechte der Copa-América-Turniere von 2015 bis 2023 und der Copa Centario erwarben sie die Rechte für 317 Millionen US-Dollar. „Im Gegenzug sollten insgesamt 110 Millionen Dollar an die Verantwortlichen zahlreicher Lateinamerika-Verbände fließen. 40 Millionen sollen schon gezahlt worden sein, als die Schweizer Polizei am 27.5.2015 auf Antrag der USA in Zürich sieben Fifa-Funktionäre festnahm. Die fünf Millionen für Cross Trading stufte das FBI als Ausgleichszahlung zwischen den beteiligten Schmiergeldfirmen ein“ (Ebenda). Die Jinkis benutzten ihre drei Offshore-Firmen namens „Cross Trading“ in drei Steueroasen: Auf der kleinen Insel Niue im Südpazifik, auf den Seychellen und im US-Bundesstaat Nevada (Ebenda). Zwei der Jinkis-Briefkastenfirmen wurden von Juan Pedro Damianis Kanzlei vermittelt (Ebenda; zu Damiani siehe unten).
Die Welt der Briefkastenfirmen ist klein…
Auch mit der Uefa und deren damaligen Generalsekretär Gianni Infantino (und heutigem Fifa-Präsidenten, siehe unten) machten Hugo und Mariano Jinkis Geschäfte. „Dabei ging es um ein richtig gutes Geschäft – für Cross Trading. Laut diesem Papier von September 2006 kaufte die Briefkastenfirma mit Sitz auf der winzigen südpazifischen Koralleninsel Niue von der Uefa die Champions-League-Rechte für drei Spielzeiten von 2006 bis 2009 ab, für 111. 000 US-Dollar. In einem zweiten Vertrag von März 2007 bekam sie auch die Rechte am Uefa-Cup und am europäischen Super-Cup für dieselben Jahre, Preis: 28.000 Dollar. Die Rechte von Cross Trading landeten am Ende bei der ecuadorianischen Teleamazonas-Gruppe, die nun das fußballverrückte 15-Millionen-Einwohner-Land mit Bewegtbildern von den Weltstars aus den Übersee-Wettbewerben versorgen konnte. Allerdings hat Teleamazonas 311. 700 US-Dollar für die Champions League bezahlt – und 126 .200 Dollar für die Rechte an Uefa Cup und Super Cup. Das belegen Verträge aus anderer Quelle, die der SZ vorliegen. Was für eine famose Marge: Die beiden Angeklagten der Fifa-Ermittlung haben TV-Rechte für fast 440 .000 Dollar weiterverkauft, die ihnen die Uefa für knapp 140.000 Dollar verkauft hatte“ (Almeida u. a. in SZ 6.4.2016). – „Noch ein Beispiel für die Geschäftspraktiken von Vater und Sohn Jinkis aus der zweiten New Yorker Fifa-Anklageschrift vom 3. Dezember 2015: Im Herbst 2011 sollen die beiden drei hochrangige zentralamerikanische Fußballfunktionäre nach Uruguay eingeladen haben. Diese sollen versprochen haben, Hugo Jinkis und seinem Sohn zu helfen, bestimmte Medienmarketingrechte zu bekommen. Dafür seien die Funktionäre laut Anklage mit insgesamt 450 .000 US-Dollar belohnt worden, die von einem Konto einer Jinkis-Firma namens Cross Trading stammen sollen“ (Ebenda).

– Damiani: Das Mitglied der Fifa-Ethik-Kommission hat 400 Briefkasten-Firmen
Seit die Fifa-Ethikkommission am 23.10.2006 gegründet wurde, war der Rechtsanwalt Juan Pedro Damiani, einer der reichsten Männer Uruguays, dort Mitglied. „Wie eine Spinne im Netz der FIFA-Offshore-Verstrickungen sitzt der Anwalt Juan Pedro Damiani aus Uruguay. In seiner Kanzlei ‚JP Damiani & Associates’ nahmen viele der zweifelhaften Geschäfte ihren Anfang: Sie verwaltete mindestens sieben der Firmen von Ex-FIFA-Vize Eugenio Figueredo, beriet den CONMEBOL-Mann Deluca und trat als Zwischenhändler für eine Briefkastengesellschaft in Nevada auf, die Hugo Jinkins und seinem Sohn Mariano zugerechnet wird. Sie sollen laut FBI mehrere zehn Millionen US-Dollar an Bestechungsgeld gezahlt haben, um ihren Unternehmen die Übertragungsrechte für FIFA-Veranstaltungen in Lateinamerika zu sichern. (…) Auch für sich selbst hat Damiani offenbar vorgesorgt. In mehreren Briefkastenfirmen ist er als wirtschaftlich Berechtigter eingetragen. Wozu genau er die Firmen nutzt, geht aus den Unterlagen nicht hervor“ (Strozyk 3.4.2016). Die Großkanzlei J. P. Damiani hat von Mossack Fonseca rund 400 Offshore-Firmen gekauft. Für Vater und Sohn Jinkis war Damiani höchstpersönlich tätig: Damianis Kanzlei war seit der Gründung der ersten Cross Trading im Jahr 1998 auf der Insel Niue bis zur Abwicklung von Cross Trading in Nevada involviert: „E-Mails legen nahe, dass er sich persönlich einmischte, wenn er die Vertraulichkeit von Kunden gefährdet sah“ (Kistner u. a. 4.4.2016).
Damiani, der wie oben erwähnt Gründungsmitglied der Fifa-Ethikkommission und Mitglied der rechtssprechenden Kammer war, trug auf zwei Schultern. Als die Jinkis-Deals im Mai 2015 aufflogen, „hätte der Anwalt aus Uruguay seine Verstrickung gegenüber der Fifa offenlegen müssen. Nach SZ-Informationen hat Damiani genau das aber bis Anfang April 2016 nicht getan. (…) Der Fall Damiani ist doppelt brisant, weil der uruguayinische Anwalt tatsächlich auf beiden Seiten der Korruptionsaffäre involviert ist. Seine Kanzlei organisierte nicht nur die Briefkastenfirmen für diejenigen, die angeklagt sind, Schmiergeld gezahlt zu haben, sondern auch für einen, bei dem Schmiergeld angekommen sein soll. So arbeitete Damiani seit Ende der 90er Jahre auch für Eugenio Figueredo, 84, den ehemaligen Fifa-Vizepräsidenten. Figueredo steht in Verbindung zu elf Offshore-Firmen, die von Mossfon gegründet wurden – mitsamt Scheindirektoren, um die wahren Besitzer zu verschleiern. Die meisten der Firmen, sieben, wurden von Damianis Kanzlei verwaltet und besitzen eine Reihe von Immobilien“ (Ebenda). Als Figueredo am 27.5.2015 in Zürich verhaftet wurde, ließ Mossfon die Scheindirektoren zurücktreten und die Vollmacht für Figueredos Frau widerrufen (Ebenda).
Am 6.4.2016 erklärte Damiani seinen Rücktritt als Fifa-Ethikrichter (Bigalke u. a., in SZ 7.4.2016).

– Schweizer Bundesanwaltschaft lässt Uefa-Sitz durchsuchen
Am 6.4.2016 ließ die Schweizer Behörde den Uefa-Verbandssitz in Nyon durchsuchen, ebenso die Büros der Agentur „Team“, die für die Uefa die TV-Rechte verhandelt (Boss, Wiegand 7.4.2016). Die Schweizer Polizei ermittelt im Gefolge der Durchsuchung der Uefa-Zentrale in Nyon wegen des „Verdachts der ungetreuen Geschäftsbesorgung und eventuell der Veruntreuung“ (SID, SZ 11.4.2016).

– Putin: Osero-Vertraute im Zentrum
Putin ist als emsiger Förderer internationaler Sport-Großveranstaltungen bekannt – siehe Sotschi 2014, siehe die Fußball-WM 2018, zahlreiche Weltmeisterschaften etc. (Vgl. auch im Kritischen Olympischen Lexikon u. a.: Totalitärer Sport-Terminkalender; Oligarchen-Sport). „Im Sog von Putins steilem Aufstieg in der russischen Politik mehrte sich auch der Reichtum einer kleinen Gruppe bis dahin eher unbedeutender Leute: Kameraden, die beim KGB gedient hatten, politische Gefährten aus der Verwaltung von Sankt Petersburg, entfernte Familienmitglieder – vor allem aber jene sieben Männer, mit denen er Mitte der 1990er Jahre eine Genossenschaft zum Bau einer Ferienhaussiedlung vor den Toren vor Sankt Petersburg gegründet hatte: die Datschen-Kooperative Osero. (…) Die Osero-Mitglieder von einst sind heute die wohl mächtigste Clique Russlands. Die meisten von ihnen sind Milliardäre“ (Blum u. a. 4.4.2016). Putins sagenhafter Reichtum wird anscheinend von seiner Freundesclique gebunkert – u. a. bei Briefkastenfirmen. Das amerikanische Außenministerium bezeichnete Putins Russland als einen „Mafia-Staat“. „Die Panama Papers spiegeln all diese Beschreibungen wider. In den Dokumenten finden sich die Briefkastenfirmen von vielen Männern, die mit Putin in die russische Machtelite aufgestiegen sind. Der Milliardär Genadij Timtschenko etwa, der parallel zu Putins Karriere zu einem der weltweit größten Rohstoffhändler wurde und der den Judoclub Yawara-Newa finanziert, dessen Ehrenpräsident Putin ist. Gegründet wurde der Judoclub von Arkadij Rotenberg, der wie sein Bruder Boris ein enger Putin-Freund ist“ (Ebenda; siehe unten).

– Cellist Roldugin mit zwei Milliarden
Putins langjähriger Freund und Taufpate seiner ersten Tochter Maria, der Cellist Sergej Roldugin, ist laut Unterlagen von Mossack Fonseca Inhaber von vier Offshore-Briefkastenfirmen, über die hunderte Millionen Dollar verschoben wurden: Sonnette Overseas, International Media Overseas, Raytar Limited und Sandalwood Continental Ltd. „Der Cellist Roguldin und seine mutmaßlichen Komplizen sollen laut Panama Papers in wenigen Jahren rund zwei Milliarden US-Dollar durch ein komplexes Firmengeflecht geschleust haben“ (SZ 5.4.2016). – „Aus den Unterlagen der Kanzlei Mossack Fonseca geht hervor, dass durch Briefkastenfirmen, die mit Rodulgin verbunden sind, insgesamt etwa zwei Milliarden Dollar geschleust wurden“ (Hans 11.4.2016). – „Mit Ausnahme höchstens der Raytar Limited wurden alle Firmen des Roguldin-Netzwerks ausweislich der Panama Papers von Mitarbeitern der Sankt Petersburger Bank Rossija gesteuert. Sie gilt unter US-Experten als ‚Putins Bank’“ (Blum u. a. 4.4.2016). – „Einen besonders einträglichen Deal schließt Roldugins Firma international Media Overseas im Februar 2011 ab: sie bekommt alle Rechte an einem 200-Millionen-Dollar-Darlehen überschrieben – für den Preis von einem Dollar“ (Ebenda).
Der Kreml wiegelte umgehend ab. Putins Sprecher Dmitrij Peskow nannte die Aufdeckung der Verschiebung von mehr als zwei Milliarden Dollar durch Briefkastenfirmen von Roldugin eine „Informationsattacke“. Putin selbst kritisierte auf einem Medienforum in Sankt Petersburg die Panama Papers scharf, ja, berichtete quasi aus seinem Geheimdienst-Werkzeugkasten: „‚Die einfachste Methode ist welche? Das ist, irgendein Misstrauen in der Gesellschaft gegenüber dem Staat zu erzeugen, den Organen der staatlichen Führung, die einen gegen die anderen zu stimmen.‘ Eine solche Taktik sei in den Jahren des Ersten Weltkriegs eingesetzt worden, sagte Putin“ (SZ 8.4.2016). Er wies auch die Angaben über Rodulgin zurück: „‚Ich bin stolz auf solche Menschen wie Sergej Pawlowitsch‘, sagte der Präsident. Fast das gesamte Geld, das Rodulgin verdient habe, habe er ‚in den Erwerb von Musikinstrumenten im Ausland investiert und diese dann nach Russland gebracht'“ (Ebenda).
Roldugin selbst räumte in einer 19-minütigen Sendung im russischen Staatsfernsehen die großen Summen ein – allerdings mit anderen Ursachen: „Ich habe angebettelt, wen ich konnte, für dies und jenes, denn alles kostet Geld“  (Hans 11.4.2016). Er sei seit 1977 mit Putin befreundet: „Wahrscheinlich trägt diese  Freundschaft dazu bei, dass die Wirtschaft bereit ist, für die Unterstützung der russischen Kultur zu spenden“ (Ebenda). Die immensen Geldsummen würden in einem restaurierten Romanow-Palais in Sankt Petersburg stecken.
Das ist wohl eher die Darstellung der Propagandaabteilung des Kremls in einer gelenkten Sendung des gesteuerten russischen Fernsehens. Wenn alles so legal war: Warum liefen dann zwei Milliarden Dollar über Briefkastenfirmen von Roldugin – und nicht alles innerhalb von Russland?

– Der russische Oppositionelle Alexej Nawalny zu Putins Geschäften
„Wir wussten ungefähr, wie die Putin’sche Korruption funktioniert: Er hat Freunde, diese Freunde gewinnen staatliche Ausschreibungen und verdienen damit Milliarden. Diese Milliarden sind wie ein gemeinsamer Topf, aus dem er sich bedienen kann. Jetzt stellt sich heraus, dass es außerdem noch eigene Kassen Putins gibt. Und wir sehen, wie sie gefüllt werden. Dass das, was dem Cellisten Sergej Roldugin gehört, eine Kasse von Putin ist, daran habe ich keinen Zweifel. (…) Die Indizien sind eindeutig: Erstens: Roldugin ist ein enger Freund Putins. Zweitens: Es gibt keine Erklärung dafür, weshalb er auch nur annähernd über solche Summen verfügen könnte. Er wäre der reichste Musiker auf dem Planeten. Drittens: Die Art und Weise, wie diese Kasse gefüllt wurde, indem Staatsunternehmen Straftaten begangen haben, durch Insiderhandel, nicht zurückgezahlte Kredite – warum sollten die so etwas tun? (…) Was sollen das für Spenden sein? Zwei Milliarden Dollar, das ist mehr als der Jahresgewinn der größten Unternehmen in Russland! Laut der offiziellen Statistik des Zolls führte Russland im vergangenen Jahr Musikinstrumente für etwa 50 Millionen Dollar ein. Wenn man das hochrechnet, könnte Roldugin mit den zwei Milliarden 40 Jahre lang den Import aller Musikinstrumente nach Russland finanzieren. Das ist doch lächerlich“ (Hans, Julian, „Die Indizien sind eindeutig“, in SZ 15.4.2016a)
Und zu Putins erstaunlichem Sportengagement und der grassierenden Korruption äußerte Nawalny: „Viele sagen: Ja, die Mächtigen bereichern sich, aber wenigstens kennen wir die; wenn andere an die Macht kämen, würden die noch viel mehr klauen. Eine andere Variante lautet: Die bereichern sich, aber wenigstens tun sie etwas, Sotschi, die Fußball-WM. Oder: Die haben sich schon bereichert; wenn neue drankommen, geht es von vorn los! Und wenn du Präsident würdest, Nawalny, würdest du genauso klauen!“ (Hans 15.4.2016a; Hervorhebung WZ).

– Putin-Show im russischen Staatsfernsehen
Putin bestritt am 14.4.2016 jegliche Verwicklung mit den Panama Papers. „Die Show wurde stundenlang live im russischen Staatsfernsehen übertragen“ (Putin bestreitet Verwicklungen in Panama-Affäre, in spiegelonline 14.4.2016). Putin: „Wir wissen, dass Mitarbeiter der amerikanischen Behörden damit zu tun haben“ (Ebenda). – „Über das Netzwerk der Putin-Freunde sollen zwei Milliarden Dollar geflossen sein. Laut ‚Guardian‘ untermauern die Papiere den Verdacht, dass Putin über seine Freunde Zugriff auf riesige Vermögen hat. Putins Name fällt in den Papieren jedoch nicht“ (Ebenda).
Die Pressekonferenz  – ein weiteres Exempel aus dem russischen Propagandaministerium. „Als Wladimir Putin zum Gegenschlag ausholt, gegen die Kritiker, die Westpresse, die vermeintlich dunklen Kräfte, die Russland am Werk wähnt hinter der Enthüllung der Panama Papers, haben ihm die Medien die größtmögliche Bühne bereitet. Drei staatliche Fernsender übertragen live seine TV-Fragestunde, hinzu kommen drei Radiosender. Russia Today, der Auslandssender des Kreml, streamt den vierstündigen Marathon im Internet, mit Übersetzung auf Deutsch, Englisch und Französisch. Bei der Sendung wird nichts dem Zufall überlassen. Schon vor Tagen hat die Regie die 200 handverlesenen Gäste im Studio vor den Toren Moskaus zur Generalprobe in einem abgeschiedenen Pensionat zusammengetrommelt. (…) „Putin beginnt mit einer Ehrenerklärung für den Cellisten Roldugin, der sein ganzes Geld aufgewandt habe, um zwei wertvolle Geigen und zwei Cellos zu erstehen. Eines stamme von Stradivari, Baujahr 1732, und Roldugin vermache diese Kostbarkeiten nun dem russischen Staat, obwohl er Schulden gemacht habe für die Instrumente. Das erklärt zwar nicht, warum eine russische Staatsbank auf die Idee kam, Roldugin eine für Cellisten ungewöhnliche Kreditlinie von 650 Millionen Dollar einzuräumen, aber mit solchen Details hat sich das russische Fernsehen in den Berichten über die Panama Papers ohnehin nie beschäftigt“ (Bidder 14.4.2016). Und dann log Putin direkt in alle TV-Kameras und Mikrofone: „Er beschuldigte sogar die bei der Enthüllung federführende ‚Süddeutsche Zeitung‘. Er habe sich bei seinem Pressesprecher Dmitrij Peskow erkundigt, das Blatt ’sei Teil einer Mediaholding, die dem amerikanischen Finanzkonzern Goldman Sachs gehört. Das heißt: Überall gucken die Ohren der Auftraggeber heraus. Sie schauen heraus, aber sie werden noch nicht einmal rot'“ (Ebenda). – Putin wörtlich: „Von wem kommen diese Provokationen? Wir wissen, dass es dort Mitarbeiter offizieller amerikanischer Einrichtungen gibt. Wo ist der Artikel zuerst erschienen? Ich habe gestern Peskow gefragt, meinen Presse-Sekretär: in der Süddeutschen Zeitung. Die Süddeutsche Zeitung gehört zu einer Medienholding und diese Medienholding gehört einer amerikanischen Finanzgruppe: Goldman Sachs. Das heißt, überall ist die Hand der Auftraggeber zu erkennen‘. (…) Die Vorwürfe gegen ihn, Putin, seien ein Angriff auf das ganze Land“ (Hans 16.4.2016).
Julian Hans von der SZ stellte dazu richtig: „Putin unterstellte der Süddeutschen Zeitung, im Auftrag der USA zu arbeiten. Wörtlich sagte er laut der russischen Nachrichtenagentur Interfax: ‚Von wem kommen diese Provokationen? Wir wissen, dass Mitarbeiter amerikanischer Institutionen dabei sind. Zum ersten Mal ist dieser Artikel in der Süddeutschen Zeitung erschienen, die zu einer Medienholding gehört, die wiederum im Besitz des amerikanisches Unternehmens Goldman Sachs ist. Überall schauen die Ohren heraus, aber sie werden nicht einmal rot‘. Diese Behauptung ist falsch. Die Süddeutsche Zeitung gehört weder direkt noch indirekt zu Goldman Sachs. Ob Putin diese Information nun bewusst falsch eingesetzt hat oder seine Leute ihn falsch informiert haben, blieb am Dienstag offen. Allerdings hatte der Kreml schon vor zwei Wochen angesichts der Panama Papers mitgeteilt, man befinde sich in einem ‚Informationskrieg'“ (Hans 15.4.2016b).
Was zur üblen Putin-Medienpropaganda dazu gehört: Am nächsten Tag, als die TV-Kameras und Mikrofone des staatlichen Propagandaapparates längst abgeschaltet waren, entschuldigte sich der Kreml bei der „Süddeutschen Zeitung“. D. h. sein Sprecher entschuldigte sich. „‚Das ist wahrscheinlich unser Fehler, wahrscheinlich mein Fehler‘, sagte Putins Sprecher Dmitrij Peskow. Es habe tatsächlich eine unbestätigte Information gegeben, die nicht noch einmal überprüft, sondern direkt an Präsident Wladimir Putin gegeben wurde. ‚Wir bitten den Verlag um Entschuldigung'“ (spiegelonline 15.4.2016; Hervorhebung WZ).

– Putins KGB-Propaganda-Arbeit: gelernt ist gelernt
Putin lieferte auch hier wieder die Propaganda des KGB-Geheimdienstes ab: Peskow entschuldigte sich offiziell bei der SZ, aber die russische Öffentlichkeit erfuhr davon nichts mehr. „Die jährliche Fragestunde des russischen Präsidenten gehört zu den Sendungen mit der höchsten Resonanz. Im vergangenen Jahr haben sie mehr als acht Millionen Menschen gesehen. Von der Richtigstellung durch Putins Sprecher dürften weit weniger Russen erfahren haben. Etwa 90 Prozent beziehen ihre Informationen ausschließlich aus dem Fernsehen“ (Ebenda).
Der stellvertretende Chefredakteur der SZ, Wolfgang Krach, schrieb dazu in einem Kommentar: „Dass die Geschichte mit Goldman Sachs nicht stimmt, hätte Putin wissen können, um nicht zu sagen: Er hätte es wissen müssen. Es ist bekannt, dass die Fragen, die Bürger dem Präsidenten in der Sendung ‚Der direkte Draht‘ stellen, vorher eingereicht, ausgesucht und Antworten vorbereitet werden. Also haben Putins Getreue auch Informationen über die Süddeutsche Zeitung zusammengestellt, wie Peskow am Freitag bestätigte. Bei der Akribie, mit der der Kreml sonst seinen Präsidenten informiert, wäre es erstaunlich, wenn dieses Dossier diesmal einen so eklatanten Fehler enthalten hätte. (…) Im Ergebnis aber bleibt, dass Millionen Russen in Funk und Fernsehen gehört haben, dass die Süddeutsche eine vom US-Großkapital gesteuerte Zeitung sei, die Putin böse mitspiele. Die Berichtigung dagegen erfolgte nicht vor einem Millionenpublikum im Fernsehen, sondern versendete sich. Von ihr wird in Russland – anders als in Deutschland – kaum jemand Notiz nehmen. Das dürfte ganz im Sinne des Präsidenten sein, dessen Adressat ja das heimische Publikum ist. Er zielt darauf, die Glaubwürdigkeit all jener Medien zu beschädigen, die sich in den vergangenen Monaten an der Recherche zu den Panama Papers beteiligt haben, und bedient sich dabei der klassischen Mittel von Propaganda und Desinformation“ (Krach 16.4.2016).
Russische Desinformationspolitik – Schmierentheater Teil III: „Es ging bereits auf Mitternacht zu, die meisten Menschen schliefen schon, als am Sonntag Wladimir Putins falsche Behauptung, die Süddeutsche Zeitung gehöre der amerikanischen Investmentbank Goldman Sachs, im russischen Fernsehen thematisiert wurde – allerdings ohne die SZ zu nennen und ohne deutlich zu machen, wo denn Putins Fehler lag. (…) Über seinen Fehler sagte Peskow: ‚Ich wünsche niemandem, vom Präsidenten kritisiert zu werden'“ (Hans 19.4.2016).
Damit kann der Kreml behaupten, dass er seine Lüge über die Süddeutsche Zeitung vor einem Millionenpublikum dann (vor einigen wenigen Zuschauern) öffentlich berichtigt hat. Desinformation à la KGB/FSB…

– Auch die Ehefrau von Putins Sprecher hat eine Briefkastenfirma
„Demnach war etwa Tatjana Nawka zeitweise Eigentümerin der Firma Carina Global Assets Limited auf den Britischen Jungferninseln. In den Unterlagen findet sich eine Kopie ihres Reisepasses. Außerdem geht daraus hervor, dass die Briefkastenfirma Vermögen von mehr als einer Million Dollar verwalten sollte. Nawka, eine Eiskunstläuferin, feierte im Sommer 2015 ihre Hochzeit mit Putins Sprecher Dmitrij Peskow“ (Hans 15.4.2016b).

– Wieder dabei: Gazprom NTW
„Auf das Gazprombank-Konto von Roldugins International Media Overseas sollen laut Dokumenten aus den Panama-Papers Millionen-Dividenden einer weiteren Briefkastenfirma geflossen sein, die wiederum Anteile eines großen russischen Medienunternehmens namens Video International besitzt. (…) Dieses Unternehmen war in den 1990er Jahren von Michael Lessin gegründet worden. Lessin, der als Eigentümer einer auf den Britischen Jungferninseln gegründeten Briefkastenfirma in den Panama Papers auftaucht, war von 2004 bis 2009 Putins Medienberater. Am 5. November 2015 wurde er tot in einem Washingtoner Hotelzimmer aufgefunden“ (Blum u. a. 4.4.2016). – Der Schweizer Korruptionsexperte Mark Pieth, der im Auftrag Blatters die Fifa untersucht hat, zu Lessin und dem Darlehensvertrag Roguldins (siehe oben): „Eine Gruppe um den ehemaligen russischen Telekommunikationsminister steht bis heute unter dem Verdacht, Hunderte Millionen Dollar gewaschen zu haben und zwar exakt mit solchen Darlehensverträgen. Auch dieser Minister war ein Freund Putins“ (Ebenda).

– Auch wieder dabei: Arkadij und Boris Rotenberg
„In das Netz der Briefkastenfirmen, in deren Mittelpunkt Putins Freund Roldugin steht, floss laut Panama Papers offenbar auch Geld russischer Oligarchen. Allein im Jahr 2013 gewährten mehrere Briefkastenfirmen, die mit den Brüdern Boris und Arkadij Rotenberg in Verbindung stehen, einer Offshore-Firma im Rodulgin-Netzwerk Kredite von rund 200 Millionen Dollar – und es ist in den Dokumenten nicht erkennbar, ob sie jemals zurückgezahlt wurden. Kurz zuvor hatte eine Firma Arkadij Rotenbergs den Zuschlag für das milliardenschwere, im Zuge der Ukrainekrise jedoch auf Eis gelegte Pipeline-Projekt South Stream bekommen“ (Blum u. a. 4.4.2016). – „Während der Krim-Krise wurden die Rotenbergs auf die Sanktionsliste der USA gesetzt. Auch die EU verhängte sanktionierte Arkadij Rotenberg. Die Panama Papers zeigen, wie einfach sich solch ein Embargo mithilfe von Briefkastenfirmen womöglich umgehen lässt. (…) Von den sechs Firmen, in deren Zusammenhang die Namen der Rotenbergs in den Panama-Papers auftauchen, ist in offiziellen Registern und Datenbanken nur die Honeycomb Holding zu finden. Die übrigen waren bislang offenbar das kleine Geheimnis der Gebrüder Rotenbergs. Laut den geleakten Dokumenten war Arkadij Rotenberg zumindest zeitweise der letztgültige Eigentümer der Firmen Beechwood Associates, Breckenridge Global Management, Causeway Consulting. Bei Highland Ventures Group, Culloden Properties und Kenrick Overseas war offenbar sein Bruder Boris zumindest zeitweise Eigentümer beziehungsweise Miteigentümer. Hunderte Seiten interner Firmenunterlagen geben Einblick in die Firmenstrukturen der Rotenbergs. Beechwood Associates, die in den Panama Papers Arkadij Rotenberg zugeordnet wird, gehörten demnach drei zyprische Firmen, die laut einer internen Mail vom 2013, ‚Anteile an russischen Firmen halten sollen, die Industriebauten, Pipelines, Anlagen zur Gas- und Öl-Verarbeitung bauen, Pipelines verlegen, Öl- und Gasfelder erschließen und die Energie-Infrastruktur in der Russischen Föderation ausbauen sollen‘. Nachdem die USA und die EU Sanktionen gegen die Rotenbergs verhängt hatten, verschwanden ihre Namen innerhalb weniger Monate aus den Unterlagen. Im März 2015 heißt es in einer Erklärung zur Herkunft der Gelder von Beechwood Associates, die zuvor Arkadij zugeschrieben wurde, plötzlich: Sein Sohn Igor sei der Eigentümer. Ebenso passiert es bei Causeway Consulting. Schon davor gehörten Igor Rotenberg laut einer in den Panama Papers enthaltenen Liste die Firmen Stormont Management, Stormont Systems und Highland Business Group. Auf eine SZ-Anfrage reagierte keiner der Rotenbergs“ (Hans, Julian u. a. 20.4.2016).

– Natürlich dabei: Robert Louis-Dreyfus
Der ehemalige Adidas-Vorstandsvorsitzende Louis-Dreyfus war mit Korruptionsvorwürfen im Zusammenhang mit dem deutschen „Sommermärchen“ – der Fußball-WM 2006 – in Verbindung gebracht worden: Der DFB hatte ihm 6,7 Millionen Euro überwiesen; die Gründe sind bis heute unklar. Auch Louis-Dreyfus hatte mehrere Offshore-Konten bei Mossack Fonseca (Much, Obermayer 4.4.2016a).

– Ebenfalls dabei: Fußballstar Lionel Andrés Messi
Ende Mai 2016 muss sich Lionel Messi/FC Barcelona (Jahreseinkommen 2015 geschätzte 65 Millionen Euro vor Steuern) vor einem spanischen Gericht wegen Steuerhinterziehung von 4,1 Millionen Euro verantworten. Messis erste Briefkastenfirma Jenbril wurde zunächst von einem anderen Offshore-Anbieter in Panama gegründet: Messis Kanzlei aus Uruguay stellte am 17.2.2012 eine Bestätigung aus, dass Messi der einzige Eigentümer der früheren Briefkastenfirma Jenbril war (Much, Obermayer 4.4.2016b). In den Panama Papers tauchte dann eine bislang unbekannte Briefkastenfirma namens MegaStar Enterprises auf, die augenscheinlich zur Hälfte Messi gehört. Sie wurde bis vor kurzem von fünf unbekannten Scheindirektoren geleitet. Am 12.6.2013 wurde das Steuerverfahren gegen Messi in Spanien eröffnet: Am 13.6.2013 meldeten sich Messis Anwälte aus Uruguay und wollten mit MegaStar Enterprises zu Mossfon wechseln. Im Dezember 2015 bekam Messis Vater die anonymisierten Anteilsscheine übertragen – die Schuld sollte vor Gericht auf den Vater geschoben werden (Ebenda).

– Auch Fifa-Präsident Gianni Infantino mischte mit
Infantino war bis zur Wahl zum Fifa-Präsidenten am 26.2.2016 Generalsekretär der Uefa. „Aus den Panama Papers lässt sich rekonstruieren, dass Infantino in seiner Zeit bei der Uefa Verträge mit einer Briefkastenfirma geschlossen hat – ohne gewusst haben zu wollen, wem sie gehörte. Durch dieses Geschäft entgingen dem europäischen Verband womöglich Hunderttausende Euro. Sowohl Infantino als auch die Uefa leugneten diese Geschäftsbeziehungen zunächst. Aus der Zeit, als der spätere Uefa-Generalsekretär dort noch Direktor der Rechtsabteilung war, stammen jene Verträge mit einer Firma namens Cross Trading. Diese gehörte zwei von der US-Justiz im Fifa-Skandal angeklagten argentinischen Sportrechtehändlern, Hugo und Mariano Jinkis. Unterschrieben hat für den Verband: Gianni Infantino“ (Almeida u. a., in SZ 6.4.2016). Vater und Sohn Jinkis (siehe oben) machten später richtig Geld mit den billigen TV-Rechten von der Uefa. „Die Unterschrift Infantinos unter den Verträgen steht neben dem Autogramm jenes Mannes, der heute zusammen mit seinem Sohn Mariano als einer der in den USA Angeklagten im Fifa-Skandal geführt wird: Hugo Jinkis. Beide saßen kurz in Untersuchungshaft“ (Ebenda). Am 2.9.2015 fragte die SZ bei der Uefa nach Kontakten zu Vater und Sohn Jinkins nach. „Antwort der Uefa am 3. September: ‚Die Uefa hat keine Geschäftsbeziehungen mit den von Ihnen genannten Personen’“ (Ebenda). Bei einer erneuten Nachfrage am 2.3.2016 bei Infantino persönlich – da war er schon Fifa-Präsident -, antwortete am 8.3.2016 eine Fifa-Sprecherin: „Gianni Infantino hatte weder persönlich noch die Uefa in seiner Zeit als Generalsekretär mit einer der unten genannten Personen oder Organisationen geschäftlich oder wissentlich anderwärtig zu tun“ (Ebenda). – „Nachfrage am selben Tag, ob Infantino in früheren Positionen, etwa als Direktor der Rechtsabteilung, mit diesen Personen oder Firmen zu tun gehabt habe. Die Fifa nur 30 Minuten später: ‚Er hat in keiner seiner Funktionen bei der Uefa persönlich mit einer der genannten Personen oder Organisationen geschäftlich oder wissentlich anderwärtig zu tun gehabt’“ (Ebenda). Erst als die SZ dann am 23.3.2016 den Inhalt des von Infantino für die Uefa und Hugo Jinkis für Cross Trading abgezeichneten Vertrages vom September 2006 übermittelte, gab die Uefa die Vertragsunterzeichnung zu“ (Ebenda). Die Uefa dazu: „Wer hinter Cross Trading gestanden habe, sei nicht bekannt gewesen, behauptet der Verband: Man habe ‚zu der Zeit, als die Verträge unterschrieben wurden, nicht gewusst, wer die ,wahren Eigentümer‘ von Cross Trading waren’. Ein Blick auf den Vertrag hätte helfen können. Auf der Unterschriftenseite des ersten Vertrags mit Cross Trading steht nur ein paar Zentimeter neben dem Namen Infantino in Druckbuchstaben und deutlich lesbar der Name ‚Hugo Jinkis’. Das macht es so schwer, die Erklärung einer Fifa-Sprecherin nachzuvollziehen, ‚in keiner seiner Funktionen bei der Uefa’ habe der heutige Präsident ‚persönlich’ mit Angeklagten der Fifa-Ermittlungen geschäftlich zu tun gehabt“ (Ebenda).
Der SZ stellten sich an dieser Stelle einige Fragen: „Warum verkaufte der europäische Verband die TV-Rechte offenbar deutlich unter Wert? Und wieso konnte Cross Trading die Champions-League-Rechte schon im Juli 2006 an den Sender Teleamazonas verkaufen – Wochen, bevor sie sie selbst von der Uefa erwarb? Und überließ die Uefa womöglich auch in anderen Ländern das große Geschäft den Vermittlern und machte selbst nur das kleine? Das könnte dann die Mitglieder des Verbands, die nationalen Verbände, interessieren“ (Ebenda).
Einsicht fehlte Infantino – zunächst. „Infantino liess als frisch gewählter Fifa-Präsident ausrichten, dass er während seiner Zeit bei der Uefa mit den genannten Personen nie zu tun gehabt habe. Dem Vernehmen nach stützte er sich dabei auf die erste Mitteilung der Uefa, weil er sich an die fraglichen Geschäfte nicht mehr erinnern konnte. Tatsache ist, dass das drohende Problem in beiden Fällen nicht erkannt wurde. Die Uefa erhielt bereits im September letzten Jahres erste Anfragen von Journalisten und nahm sich nicht die Zeit, um die Verträge zu durchforsten. Und Infantino wurde vor drei Wochen mit entsprechenden Fragen konfrontiert. Trotzdem reagierte er nach Bekanntwerden des Falles alles andere als souverän. Im offiziellen Communiqué gab er sich empört: Wie man nur an seiner Integrität zweifeln könne. Und überdies sei der fragliche Deal ohnehin durch die Agentur Team Marketing abgewickelt worden (in deren Verwaltungsrat er seit 2014 sitzt). Tags darauf gab sich auch die Uefa larmoyant. Sie bedaure es, dass die Öffentlichkeit in die Irre geführt werde; es sei dies ’nicht nur ein trauriger Tag für den Fussball, sondern auch ein trauriger Tag für den Journalismus'“ (Wagner 6.4.2016. Die Agentur Team wurde am 6.4.2016 neben dem Uefa-Sitz ebenfalls von der Bundesanwaltschaft durchsucht, siehe oben).
Tage später stellte Infantino dann die Jinkis-Uefa-Affäre als äußerst sauber dar: „Der ganze Vorgang war korrekt und ist gut dokumentiert“ (SID, SZ 11.4.2016). – „Meine Unterschrift steht unter 1000 Verträgen“ (Ebenda).
Fadenscheinig. Warum leugneten z. B. Uefa und Fifa, dass Infantino die Herren Jinkis überhaupt kennen würde? Außerdem bedeutet Infantinos Aussage wohl, dass die restlichen 999 Verträge auch nicht genauer geprüft wurden.
Aus einem Kommentar von Ralf Wiegand in der SZ zum „Neuanfang“ nach der Ära Blatter unter Gianni Infantino und dessen Verwicklung mit der Briefkastenfirma Cross Trading: „Nun sieht es so aus, als ginge es mit dem Schweizer auf dem Thron des Weltfußballs gerade so weiter – als stehe er doch für das gleiche System. (…) Dazu hat Infantino von Blatter auch noch einen Fifa-Ethiker geerbt, Juan Pedro Damiani, der so viele Briefkastenfirmen gründen ließ, dass er abtreten musste. Für Infantino gerade sechs Wochen im Amt, ist das alles wie ein 0:3 nach 15 Minuten – und der Saubermann steht schon wieder da wie ein üblicher  Schmutzfink“ (Wiegand 7.4.2016).

– Fährt auch mit: Nico Rosberg
Der deutsche Formel-1-Pilot Nico Rosberg soll von Mercedes 50 Millionen Euro für drei Jahre erhalten. Allerdings erhebt sich die Frage, wer die Millionen in Wirklichkeit erhält. „Denn offensichtlich wird Nico Rosberg nicht von Mercedes bezahlt, er hat offensichtlich nicht einmal einen Vertrag mit Mercedes – weil der Rennstall offensichtlich einen Vertrag mit einer Briefkastenfirma geschlossen hat, dem die Rechte an Nico Rosbergs Fahrkünsten zu gehören scheinen. (…) In den Panama Papers finden sich verschiedene Dokumente, die bestätigen, dass das Mercedes-Benz Grand Prix Operations Centre im englischen Brackley einen Vertrag mit einer Firma namens Ambitious Group Limited auf den Britischen Jungferninseln geschlossen hat. Vertragsgegenstand: die Fahrerdienste von Nico Rosberg“ (Much, Obermayer 6.4.2016).
Wem gehört nun die Firma Ambitious Group Limited? „Die Antwort ist nicht so einfach, die Ambitious Group Limited ist wie eine schwarze Box: Niemand kann von außen feststellen, wem sie gehört. Laut den vorliegenden Unterlagen gehört die Firma offiziell zwei anderen Offshore-Firmen, der Magnus Nominees Limited und der Fidelis Nominees Limited, beide residieren auf der britischen Kanalinsel Jersey, ebenfalls eine Steueroase. Und es wird noch seltsamer, denn auch die Direktoren der Firma sind wiederum Scheinfirmen – Rouge Limited und Vert Limited – mit Sitz in Jersey und gehören offenbar indirekt zur britischen Privatbank Couts & Co, einer der ältesten Banken der Welt“ (Ebenda). – „Auf Anfrage wollten Rosberg und sein Management dazu keine Stellungnahme abgeben, ebenso wenig wie auf die Frage, ob die Briefkastenfirma dem Rennfahrer gehört. Oder warum er eine so aufwendige Konstruktion gewählt hat, die so anonym ist, dass selbst die panamaische Kanzlei Mossack Fonseca nicht wissen dürfte, wem sie gehört. Mossack Fonseca hatte die Ambitious Group 2009 gegründet. (…) Rein technisch gibt es dafür verschiedene Erklärungen: So könnte Nico Rosberg die Rechte an sich selbst als Fahrer der Ambitious Group verkauft haben. Oder er könnte der wahre Eigentümer dieser Offshore-Firma sein. (…) Wie passen Geschäfte mit einer anonymen Offshore-Firma von den britischen Jungferninseln, die auf jeder schwarzen Liste von Steueroasen zu finden sind, zur Daimler-Compliance? Der Konzern erklärt dazu, sein ‚Compliance Management System’ sei ‚risikobasiert’, und man habe ‚bezogen auf unsere Geschäftspartner und unsere Aktivitäten in dieser Konstellation bislang keine Auffälligkeiten’ festgestellt“ (Ebenda).

– Rotes Kreuz und WWF in den Mossack-Fonseca-Sumpf gezerrt
Die im Fokus der Panama Papers stehende Kanzlei Mossack Fonseca hat den Namen des Roten Kreuzes offenbar benutzt, um fragwürdige Geldflüsse zu tarnen. Mossack Fonseca hat Stiftungen gegründet, die angeblich Geld an das Rote Kreuz ausschütten. Ihren Kunden bot die Kanzlei die Stiftungen dann als Anteilseigner für Briefkastenfirmen an, damit die Kunden nicht als wahre Eigentümer erschienen. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) in Genf zeigte sich empört über das Vorgehen von Mossack Fonseca. Das IKRK habe nie Geschäftsbeziehungen zu Mossack Fonseca gehabt oder Geld aus den Stiftungen bekommen, sagte der Präsident des IKRK, Peter Maurer. ‚Unsere Mitarbeiter sind in Kriegsgebieten einigermaßen sicher, weil unser Name und das Emblem respektiert werden. Wenn die Reputation des IKRK leidet, gefährdet das Menschenleben“, sagte er. „Wir werden alles in unserer Macht Stehende unternehmen, um solchen Missbrauch zu stoppen.‘ (…) Die Naturschutzorganisation WWF ist ebenfalls betroffen. Mossack Fonseca bot Kunden an, den WWF als scheinbaren Begünstigten“ (Brinkmann 11.4.2016).
Es wird immer unglaublicher – und immer dreister und unverfroren!

– Aserbaidschans Diktatorenfamilie: auch in Panama dabei
Die Dynastie der Aliyews, die seit dem Zerfall der UDSSR das rohstoffreiche Land Aserbaidschan ausbeutet, hat sich mit Baku mehrmals um die Austragung Olympischer Sommerspiele beworben und die European Games 2015 durchgeführt. Nun taucht die Diktatorenfamilie auch bei den Panama Papers auf. „Die Dokumente legen den Verdacht nahe, dass sich Präsident Ilham Alijew und seine Familie über diskrete Offshore-Konstruktionen den Zugriff auf einen der wichtigsten Industriekonzerne des Landes, die Ata-Holding, gesichert haben – und außerdem auf eine Goldmine in Aserbaidschan. Eine zentrale Rolle spielen dabei in den vergangenen Jahren offenbar die beiden Töchter des Präsidenten: Leyla und Arzu. (…) Die Alijews sind nicht irgendeine Herrscherfamilie, sondern sie regieren – obwohl nicht von königlichem Blut – das Land mit Prunk und Protz, fast wie eine Monarchie. Die Frau des Präsidenten, Mehriban, etwa leitete das Organisationskomitee der Europaspiele, die im Jahr 2015 mit Pomp und Gloria ausgetragen wurden und die eine Art europäische Olympische Spiele sein sollen“ (Obermaier u. a. 12.4.2016). Die Diktatorenfamilie hat sich u. a. auch die Kontrolle über eine Goldmine in Westen von Aserbaidschan gesichert. Die Regierung in Baku hat die Abbaurechte an die Azerbaijan International Mineral Resources Operating Company Ltd. vergeben: „Ausweislich der Panama Papers gehört dieses Unternehmen offenbar zu 56 Prozent zwei Firmen, die demnach – über drei zwischengeschaltete Briefkastenfirmen – von Leyla und Arzu Alijewa, den beiden Töchtern des Präsidenten, und einem Freund der Familie kontrolliert werden. (…) Die Globex International besitzt elf Prozent des Minenkonzerns, wie ein Verbund investigativer Journalisten, das Organized Crime and Corruption Reporting Project, das auch an dieser Recherche beteiligt war, 2012 aufdeckte. Globex gehörte demnach den Töchtern des Präsidenten und dem Freund der Familie, und zwar über die drei Briefkastenfirmen in Panama“ (Ebenda).
Vergleiche auch im Kritischen Olympischen Lexikon: Aserbaidschan-Sport

Nachtrag 1: Die Verbindung vom Cellisten Sergej Roldudin zum Anwalt Sergej Magnitskij
Der russische Anwalt Sergej Magnitskij  starb qualvoll am 16.11.2009 in einem berüchtigten Moskauer Gefängnis. Er hatte einen Fall von krimineller Steuerrückerstattung an die Öffentlichkeit gebracht. „2008 laut einem in den geleakten Dokumenten enthaltenen Vertrag mehr als 800 000 Dollar von einer Briefkastenfirma aus dem Magnitskij-Fall an eine Briefkastenfirma auf den Britischen Jungferninseln fließen, die damals dem Putin-Freund Roldugin gehörte: die International Media Overseas. Diese zählte zu dem Netzwerk von Offshore-Unternehmen, über das die SZ und andere Medien Anfang April erstmals berichtet hatten. (…) Der große Steuerbetrug, den Magnitskij aufdeckte und der am Anfang aller Geldtransfers steht, nahm offenbar im Juni 2007 seinen Lauf: Damals stürmten Dutzende Polizisten in Russland die Büros von Firmen des Investmentsfonds Hermitage Capital, den der Amerikaner Bill Browder gegründet hatte. Der Vorwand: Man suche Informationen über einen der Investoren. Die Beamten beschlagnahmten Siegel und Gründungsdokumente der Firmen. In Russland hat man mit den Unterlagen dieselbe Macht wie der Unternehmenseigner – auch wenn einem die Firma nicht gehört“ (Blum, P., Obermaier, F., Radu, P., Der Cellist und der tote Anwalt, in SZ 27.4.2016). Die Firmen wurden dann auf  Komplizen der Beamten überschrieben. Kompluzen „beschuldigten Hermitage Capital, im Jahr 2006 andere Unternehmen, von denen nie jemand gehört hatte, um eine Milliarde Dollar geprellt zu haben –und bekamen recht. In dem Jahr hatte Hermitage Capital eine Milliarde Dollar Gewinn erzielt. Diese Milliarde wurde rückwirkend aus der Bilanz getilgt“ (Ebenda). Die Komplizen der Beamten verlangten vom Finanzamt eine Rückerstattung der bezahlten Steuern: „Prompt wurden ihnen einen Tag später 230 Millionen Dollar überwiesen. Das Geld floss unter anderem an ein Konto der russischen Universal Savings Bank. Anschließend wurden die 230 Millionen Dollar offenbar über ein Geflecht an Scheinfirmen mit Sitz in Zypern, Panama, Moldawien, den Britischen Jungferninseln immer weiterüberwiesen, bis sich die Spuren verloren. Nach Recherchen des Journalistennetzwerks Organized Crime and Corruption Reporting Project (OCCRP) flossen damals auch mehrere Millionen Dollar an eine Firma namens Delco Networks auf den Britischen Jungferninseln – an jene Firma also, die später offenbar mit Roldugins Briefkastenfirma Geschäfte machte. (…) Nach Recherchen des Journalistennetzwerks Organized Crime and Corruption Reporting Project (OCCRP) und der SZ zeigen die Panama Papers nun eine überraschende Verbindung vom Fall Magnitskij zum Roldugin-Netzwerk auf – also von jenem Firmengeflecht, über das der russische Staat offenbar um Hunderte Millionen erleichtert wurde, zum Geflecht von Briefkastenfirmen um den Putin-Freund Sergej Roldugin. (…) Ausweislich der Panama Papers schloss eine der Firmen aus seinem Netzwerk, die International Media Overseas, im Frühjahr 2008 einen Vertrag mit der Briefkastenfirma Delco Networks – eine Firma aus jenem Geflecht, über das ergaunertes russisches Steuergeld aus dem Magnitskij-Fall abgeflossen sein soll. (…) In den Panama Papers findet sich nun der Vertrag, den die Delco Networks und Roldugins International Media Overseas 2008 schlossen. Demnach vereinbarte Roldugins Firma, 70 000 Aktien der russischen Ölfirma Rosneft an Delco Networks zu verkaufen – um im Gegenzug insgesamt 807  800 Dollar zu bekommen. Das Geld sollte von der litauischen Ukio Bankas auf ein Konto von Roldugins Firma in der Schweiz eingezahlt werden“ (Ebenda).

Nachtrag 2: Putins Cellist, Putins Dirigent
Die Truppen des syrischen Diktators Assad hat mit militärischer Unterstützung Russlands die Terrormiliz des „Islamischen Staates“ aus der antiken Stadt Palmyra vertrieben. „Russland, das mit dem Assad-Regime in Syrien verbündet ist, hat am Donnerstag die Befreiung Palmyras mit einem Sinfoniekonzert gefeiert. Unter dem Titel „Ein Gebet für Palmyra“ spielte im römischen Theater der historischen Oasenstadt das Orchester des Sankt Petersburger Mariinskij-Theaters Werke von Bach und Prokofjew, geleitet von Valery Gergiev, der seit 2015 auch Chefdirigent der Münchner Philharmoniker ist. Der aus den ‚Panama Papers‘ bekannte Cellist Sergej Roldugin spielte ein Solo“ (DPA/SZ, Gergiev dirigiert Konzert in Palmyra, in SZ 6.5.2016). Das russische Fernsehen übertrug – natürlich – das Konzert.
Während Diktator Assad mit russischer Hilfe Aleppo bombardiert und dort bewusst Krankenhäuser zerstören lässt, feiert Russland den Diktator in Palmyra – und stellt sich bewusst hinter Roldugin.
Dazu aus einem Kommentar von Sonja  Zekri in der SZ: „Heimspiel, Gastspiel, aber Valery Gergievs Botschaft ist immer dieselbe: Russland ist groß, Wladimir Putin ist stark, und klassische Musik dient dazu, diese Botschaft in die Welt zu tragen. So war es im August 2008 im südossetischen Zchinwali, und so war es am Donnerstag im syrischen Palmyra. Damals wie heute flog Gergiev mit dem Mariinsky Orchestra aus Sankt Petersburg an einen Ort, den russische Truppen frisch befreit hatten. Und er dirigierte. (…) Und natürlich ist gegen Bach, Prokofjew und Schtschedrin nichts zu sagen. Aber auf den Rängen des antiken Theaters saßen syrische Mädchen in knallbunter Folklore, ein paar syrische Soldaten und Zivilisten, hundert extra nach Palmyra eingeflogene Journalisten. Die meisten Ränge aber füllten die russischen Soldaten. Aus irgendeinem Grund trug Valery Gergiev eine weiße Baseballmütze, ebenso wie der Solo-Cellist Sergej Roldugin, noch ein enger Putin-Vertrauter. Der russische Präsident selbst ließ sich per Video zuschalten. Hätte es dessen noch bedurft, so wäre spätestens damit der Eindruck perfekt gewesen, dass dies ein Truppenbesuch ist, und Valery Gergiev sich in die lange, traditionsreiche, wenn auch nicht unumstrittene Reihe von Künstlern einreiht, die zur Erbauung der Soldaten auftreten. (…) Es war auch eine Musik der Macht, des fast kolonialen russischen Anspruchs auf Syrien. Aber das dürfte Valery Gergiev kaum stören“ (Zekri, Sonja, Valery Gergiev, in SZ 7.5.2016; Hervorhebung WZ).

Nachtrag 3: „FC Offshore“
Unter diesem Titel berichtete die SZ über Fußballer, die die Honorare für ihre „Bildrechte“ u. a. hinter Offshore-Firmen verbargen. Lionel Messi (FC Barcelona) z. B. verdiente laut einem Ranking des französischen Fachblatts France Football aktuell 74 Millionen Euro, sein Kollege Cristiano Ronaldo (Real Madrid) 67,4 Millionen Euro. Dazu kommen für jeden über Werbeeinnahmen jeweils 35 Millionen Euro. „Die Hälfte ihres Einkommens erzielen die beiden Fußballer also nur dadurch, dass Firmen mit den Gesichtern der Stars für ihre Produkte werben dürfen. Der Verkauf der Bildrechte ist für Fußballer sehr lukrativ. Wie die Panama Papers zeigen, werden die Rechte nicht selten über Briefkastenfirmen in Steueroasen veräußert. Die Werbeeinnahmen fließen dann zurück in diese Offshore-Finanzplätze, wo kaum oder gar keine Steuern anfallen. Zwei Dutzend aktuelle und ehemalige Weltklassefußballer finden sich in den geleakten Dokumenten der panamaischen Kanzlei Mossack Fonseca – darunter Messi. Die meisten Spieler haben über Offshore-Firmen Bildrechte gehandelt“ (Much, Mauritius, 1. FC Offshore, in SZ 7.5.2016). – „Lionel Messi hat seine Werbeeinnahmen zwischen 2007 und 2009 hingegen nicht an seinem Wohnsitz in der spanischen Provinz Katalonien deklariert. Sie flossen in mehrere Offshore-Firmen in Belize oder Uruguay. Messi muss sich deshalb bald wegen Steuerhinterziehung in Höhe von 4,1 Millionen Euro vor einem Gericht in Barcelona verantworten. Interessant wird dann sein, was für eine Rolle die Mega Star Enterprises spielen wird. Diese 2012 in Panama registrierte Briefkastenfirma war den spanischen Ermittlern bisher nicht bekannt. Doch aus den Panama Papers geht hervor, dass Barcelonas Profi diese Firma zusammen mit seinem Vater gehörte, ehe Jorge Horacio Messi im Dezember 2016 die Anteile alleine übernahm“ (Ebenda). auch dabei: Iván Zamorano, Ex-Real Madrid (mit seiner Briefkastenfirma Fut Bam International); Gabriel Heinze, Ex-Manchester United (Offshore-Firma Galena Mills Corp.); Leonardo Ulloa, Leicester City (Offshore-Firma Jump Drive Sport Rights) etc. etc. (Ebenda). – „Wie die Panama Papers zeigen, gehen nicht nur Spieler selbst für den Transfer ihrer Bildrechte offshore. Beim spanischen Erstligisten Real Sociedad San Sebastián wurden dafür zwischen 2000 und 2008 sogar flächendeckend ausländische Spieler mit Offshore-Firmen ausgestattet: der deutsch-türkische Mittelfeldspieler Tayfun Korkut, der von Dezember 2013 bis April 2015 Trainer bei Hannover 96 war, der russische Regisseur Valeri Karpin, der türkische Angreifer Nihat Kahveci, sein serbischer Sturmpartner Darko Kovacevic, der argentinische Verteidiger Gabriel Schürrer sowie die beiden Torhüter aus den Niederlanden bzw. Schweden, Sander Westerveld und Mattias Asper“ (Ebenda).

Nachtrag 4: Dubioser Schach-Präsident und Panama Papers
Kirsan Nikolajewitsch Iljumschinow, 54, ist nicht nur wegen der Sache mit den Aliens eine der kuriosesten und dubiosesten Figuren der an kuriosen und dubiosen Figuren nun wahrlich nicht armen Sportfunktionärswelt. Mehr als 15 Jahre lang war er Präsident der autonomen Republik Kalmückien in Russlands Süden; dazu scheffelte er als Geschäftsmann Hunderte von Millionen; und seit zwei Dekaden ist er der Chef des Welt-Schachverbandes Fide. (…) Und auch aufgrund von Dokumenten aus den Panama Papers stellen sich an ihn nun neue Fragen. (…) Es ist aber in der Tat ein merkwürdiges Firmengeflecht, das sich im vergangenen Jahrzehnt rund um die Fide gesponnen hat. Am Anfang gab es dort ein Unternehmen namens Global Chess, dann eines namens Chess Lane und seit 2012 schließlich die Firma Agon – immer ging es um die Vermarkungsrechte des Schachsports. Es ist bis heute die Frage, warum es diese Firmen in dieser Form braucht, vieles ist verworren. Aber der gewaltige Datensatz der Anwaltskanzlei Mossack Fonseca aus Panama, der der SZvon einer anonymen Quelle zugespielt wurde, hilft, ein paar weitere Teile diesem schwer zu lösenden Fide-Puzzle hinzuzufügen. (…) Chess Lane ist eingebettet in ein größeres Geflecht, und am Ende stehen zwei Offshore-Firmen namens Binkler und Orion. (…) Nach Anfragen an diverse Fide-Protagonisten gab es nur eine allgemeine Antwort, dass der Weltverband seine finanziellen und kommerziellen Aktivitäten nicht über Offshore-Firmen abwickele und alles transparent zugehe. Auch Chess Lane funktionierte nicht so, wie Iljumschinow, die Fide und die Schachwelt sich das wünschten. Aber die konkreten Besitzverhältnisse nachzuvollziehen, ist auch deshalb wichtig, weil 2012 die nächste Firma auf den Plan trat, die sich um die Schach-Vermarktung kümmerte. Ihr Name: Agon. Laut den Beteiligten gehörte sie damals dem Geschäftsmann Andrew Paulson, aber es gab auch hier stets den Verdacht, dass Iljumschinow dahintersteckt. Vor zwei Jahren wurde ein ‚Agon Memorandum‘ publik, das dem Kalmücken 51 Prozent zusichern sollte. (…) Kurz nach dem SZ-Gespräch in Moskau, am 23. Mai, endete die Frist, die der Kalmücke Kirsan Iljumschinow den Vereinigten Staaten von Amerika gesetzt hat. Jetzt teilt er mit, er ziehe also gegen die USA vor Gericht. Auf 50 Millionen Dollar will er sie verklagen. (…) Kontaktaufnahme mit dem Supreme Court, dem höchsten US-Gericht: Was können Sie mitteilen über das Verfahren? Die Antwort: Weder unter dem Namen Kirsan Iljumschinow noch unter Internationale Schach-Föderation oder Vergleichbarem steht gerade ein Fall auf der Prozessliste“ (Aumüller, Johannes, Berührt, entführt, in SZ 4.6.2016).

Wird weiter ergänzt

Quellen:
Almeida, Monica, Boss, Catherine, Much, Mauritius, Obermaier, Frederik, Obermayer, Bastian, Kistner, Thomas, Sag niemals nie, in SZ 6.4.2016
Bidder, Benjamin, Putins Presselüge, in spiegelonline 14.4.2016
Bigalke, S., Boss, C., Giesen, C., Schäfer, U., Razzia bei Uefa wegen Panama Papers, in SZ 7.4.2016
Blum, Petra, Obermaier, Frederik, Obermayer, Bastian, Putins beste Freunde, in SZ 4.4.2016
Boss, Catherine, Wiegand, Ralf, Razzia und Rücktritt, in SZ 7.4.2016
Brinkmann, Bastian, Kanzlei in Panama benutzte Rotes Kreuz als Tarnung, in SZ 11.4.2016
Burghardt, Peter, Im Zirkel der Macht, in SZ 14.4.2016
Fifa ermittelt gegen eigenen Ethikhüter Damiani, in spiegelonline 4.4.2016
Hans, Julian
– Melodien für Milliarden, in SZ 11.4.2016
– „Die Indizien sind eindeutig“, in SZ 15.4.2016a
– Putin, Panama und die SZ, in SZ 15.4.2016b
– Der Kreml entschuldigt sich, in SZ 16.4.2016
Hans, J., Obermaier, F., Obermayer, B., „Willst du Vergünstigungen, dann registriere dich!“, in SZ 20.4.2016
Kistner, Thomas, Obermaier, Frederik, Obermayer, Bastian, Much, Mauritius, Doppeltes Spiel, in SZ 4.4.2016
Krach, Wolfgang, Putins Propaganda, in SZ 16.4.2016
Kreml entschuldigt sich bei „Süddeutscher Zeitung“, in spiegeonline 15.4.2016
Lutteroth, Johanna, „Ich habe Bush an den Eiern“, in spiegelonloine 19.12.2014
Mossack Fonseca und der Fifa-Skandal, in SZ 4.4.2016
Much, Mauritius, Obermayer, Bastian
– Klassentreffen, in SZ 4.4.2016a
– Der kleine Kaiser, in SZ 4.4.2016b
– Ausgebremst? in SZ 6.4.2016
Nazi-Erbe und Milliarden-Jongleur, in taz.de 4.4.2016
Obermaier, Frederik, Obermayer, Bastian, Nienhuysen, Frank, Der Glanz von Baku, in SZ 12.4.2016
Präsident Russlands, in SZ 5.4.2016
Putin sieht die USA hinter Enthüllung, in SZ 8.4.2016
SID, SZ, Infantino wehrt sich, in SZ 11.4.2016
Strozyk, Jan Lukas, Fußball-Funktionäre nutzten Briefkastenfirma, in tagesschau.de 3.4.2016
Wagner, Elmar, Razzia am Uefa-Hauptsitz, in nzz.ch 6.4.2016
Wiegand, Ralf, Unter Schmutzfinken, in SZ 7.4.2016

Feb 262016
 
Zuletzt geändert am 02.06.2016 @ 12:48

26.2.2016, aktualisiert 2.6.2016

Der Fifa- und der Uefa-Präsident werden gesperrt
Der seit 1998 amtierende Fifa-Präsident Sepp Blatter wurde Fifa-intern auf zunächst acht, dann am 24.2.2016 von der Fifa Berufungskommission sechs Jahre gesperrt, dito Uefa-Präsident Michel Platini (DPA, Fifa reduziert Blatters Strafe, in SZ 25.2.2016). Die denkwürdige Begründung der Berufungskommission: „Die Aktivitäten und die Dienste, die beide der Fifa, Uefa und dem Fußball im Allgemeinen über die Jahre erwiesen haben, verdienen eine angemessene Beachtung“  (Ebenda).
Von der Fifa-Präsidentenwahl am 26.2.2016 wird keine große Änderung oder Neuausrichtung zu erwarten sein. Der Kandidat Salman Al Khalifa aus Bahrain, Mitglied der Herrscherfamilie, half mit, die blutigen Proteste 2011 in Bahrain brutal zu unterdrücken. Gianni Infantino, Generalsekretär der Uefa, ist ein altgedienter Fußball-Apparatschik und will die Fußball-WM von 32 auf 40 Teams weiter aufblähen.
Michael Ashelm berichtete in faz.net über „neue Vorwürfe gegen beide Funktionäre (Blatter und Platini; WZ), die über den bekannten Fall einer dubiosen Zahlung über zwei Millionen Franken noch hinausgehen.
So prüft derzeit die Schweizer Bundesanwaltschaft offenbar den Grund für einen weiteren siebenstelligen Millionenbetrag, der während der Präsidentschaft Blatters von der Fifa an Platini geflossen ist. Deklariert wurde die Summe, die nach Recherchen der F.A.S. zwischen den Jahren 1998 und 2002 als Kosten für die Fifa auflief, für die angebliche Unterhaltung eines Büros für Platini in Paris. Der Franzose galt zu dieser Zeit als Berater Blatters, der ihn bei dessen Präsidentschaftswahlen stets als Stimmenbeschaffer unterstützte. Erstmals thematisiert hatte die fragwürdige Zahlung der Compliance-Chef des Weltverbandes, Domenico Scala, bei einer Exekutivsitzung am 20. Oktober. Dies ist von Mitgliedern des höchsten Fifa-Gremiums zu hören. Wie es aussieht, gingen die Informationen direkt an die Schweizer Bundesanwälte. (…) Folgende Fragen dürften sich den Ermittlern stellen: Gab es wirklich ein solches Büro? Hat es der französische Verband zur Verfügung gestellt, wofür Platini mit dem Geld der Fifa dann regelgerecht die Miete bezahlte? Oder handelte sich um reine Fiktion? Dann würde sich auch dieser Fall zu Untreue und möglicher Korruption entwickeln“ (Ashelm, Michael, Neuer Verdacht gegen Blatter und Platini, in faz.net 12.3.2016).
Dazu Thomas Kistner in der SZ: „Den Ex-Kicker Platini umgab nie der Ruf, über besondere sportpolitische Talente oder einen brennenden Arbeitseifer zu verfügen. Vielmehr verdankte er den nebulösen Job als Fußballberater jenem martialischen Einsatz, den er für Blatters Inthronisierung als Fifa-Boss im Sommer 1998 geleistet hatte. (…) Nach Blatters Wahl, von der Delegierte später über gut gefüllte Briefkuverts berichteten, verhinderte der geschlagene Gegenkandidat Lennart Johansson den avisierten Aufstieg Platinis zu einer Art Fifa-Superdirektor. Der Franzose musste in Paris bleiben, wo er sich mit einem angeblich vertraglich fixierten Fifa-Jahressalär von rund 300 000 Franken sowie einem bezahlten Mitarbeiterstab für kommende Aufgaben präparierte. Anno 2007 eroberte er dann mit Blatters Hilfe den Uefa-Thron. (…)
Dazu zählt die Büromiete, die sich nach Insiderschätzung gut auf einen sechsstelligen Jahresbetrag summiert haben soll. Am Mittwoch hatte die Tageszeitung Le Monde berichtet, in den FFF-Räumlichkeiten habe nur ‚ein bisschen Platz’für Platini und zwei Mitarbeiter zur Verfügung gestanden. Die Frankfurter Sonntagszeitung vertiefte die Verdachtslage nun mit der Frage, ob es so ein Büro je gegeben habe – ‚oder handelte es sich um reine Fiktion?’“ (Kistner, Thomas, Ärger mit der Miete, in SZ 14.3.2016). Kistner addierte die Millionen-Zahlungen der Blatter-Fifa an Platini auf (1,8 Millionen Euro von 2011 für Beratertätigkeit ab 2002, ein Beraterhonorar von über einer Million von 1998 bis  2002, vier Jahre Büromiete in Paris plus zwei Mitatbeiter etc.) und kam auf rund fünf Millionen Euro Geldfluss von Blatter an Platini (Ebenda).

Im Vorfeld der Präsidentenwahl vom 26.2.2016
– Auch Uefas Infantino gibt den Blatter

Auch Al-Khalifas Konkurrent, der Uefa-Generalsekretär Gianni Infantino, bedient sich der Machtmechanismen Blatters. “Doch keiner bewegt sich so getreu wie Infantino in den Spuren, die die diskreditierten Amtsinhaber Blatter (1998-2016) und João Havelange (1974-98) gelegt haben.(…) Stimmenfang auf traditionelle Art betreibt der Kandidat des DFB auch im Kernbereich Finanzen. Jedem Fifa-Mitglied stellt Infantino fünf Millionen Dollar an Entwicklungs- und Projekthilfen in Aussicht, eine atemberaubende Steigerung jener zwei Millionen pro Verband, die noch im letzten Vierjahreszyklus von 2011 bis 2014 geflossen waren. Zur Rede steht gar eine weitere Million pro Land an Reisekosten. (…) Keine Berührungsängste mit großem Geld und großzügigen Ausgaben offenbart auch Infantinos Wahlkampfbudget. Die Uefa schießt ihm eine halbe Million Euro zu. (…) Derzeit sieht alles nach einem Duell aus, das wie so oft in der Karibik (35 Stimmen) entschieden werden könnte. Nach Antigua ist Infantino übrigens vorletztes Wochenende gedüst; per Privatjet direkt aus Kigali/Ruanda. Auch solche Trips gibt das Budget locker her” (Kistner, Thomas, Dicke Taschen, dicke Versprechen, in SZ 25.1.2016; Hervorhebung WZ).

– Gewaltenteilung?
Die Uefa stand Ende Januar 2016 nicht geschlossen hinter ihrem Kandidaten Infantino. “Den Premier-League-Chef Richard Scudamore bezeichnet Salman genüsslich als ‘Freund’. (…) Das legt nahe, die zwei Konkurrenten könnten sich die Macht teilen: Salman als Präsident, der in Zukunft stärker repräsentative Funktion haben soll, Infantino als hauptamtlicher Chef” (Kistner, Thomas, Lieber keine Fragen, in SZ 27.1.2016).

Al Khalifa wird Präsident ohne Gehalt, dafür Infantino fürstlich bezahlt?
Der Deal mit Gianni Infantino könnte so aussehen: Al Khalifa wird Präsident und arbeitet ohne Gehalt, Infantino bekommt viel Geld als Fifa-Generalsekretär. Al Khalifa zum Spiegel: “Anders als meine Kontrahenten kandidiere ich nicht, um acht Millionen Euro jährlich zu verdienen… Das Geld ist wesentlich besser angelegt, wenn wir damit marktgerechte Saläre für die Führungskräfte im operativen Bereich der Fifa zahlen – etwa für den Generalsekretär, der künftig als geschäftsführender Direktor fungieren soll” (Scheich Salman will kein Gehalt, in Der Spiegel 5/30.1.2016). Dies wäre eine Distanzierung gegenüber Vorgänger Sepp Blatter. “Noch weniger kann Blatter gefallen, dass Scheich Salman ausdrücklich von acht Millionen Euro spricht. Denn der suspendierte Schweizer hatte sich bis zuletzt geweigert, sein Gehalt publik zu machen, es war eines der bestgehüteten Geheimnisse im Fifa-Hauptquartier” (Ebenda).

– Russland für Infantino?
Der russische Sportminister Witali Mutko über Gianni Infantino: “Infantino ist unser Kandidat” (DPA, Russland für Infantino, in SZ 4.2.2016). Infantino über Russland: “Russland muss ein Vorbild im weltweiten Fußball sein” (Ebenda).

– Afrikaner für Al Khalifa – wie erwartet
Das  Exekutivkomitee des afrikanischen Fußballverbandes Caf sprach sich einstimmig für Al Khalifa aus (Afrikanischer Verband unterstützt Al Khalifa, in spiegelonline 5.2.2016).
Das war vermutlich – wie in Fifa-Kreisen üblich – nicht billig.
Dan hätte Al Khalifa neben den 46 Stimmen des asiatischen Verbandes die 54 Stimmen der Afrikaner. Gegenkandidat Infantino äußerte, ihm seien 105 Stimmen sicher (Ebenda).

Al-Sabah vor der Wahl vom 26.2.2016
Bei der Verleihung des “Ballon d’Or” – Auszeichnung Fußballer des Jahres in Zürich: “Das IOC-Mitglied Ahmad Al-Fahad Al-Sabah verschwindet gleich nach der Ankunft in einem Konferenzraum. Der Mann aus Kuwait ist ein Unterhändler von Scheich Salman bin Ebrahim Al Khalifa aus Bahrain. Al-Sabah sammelt für Scheich Salman Stimmen, der Ballon d’Or ist eine gute Gelegenheit, den einen oder anderen Verbandsvertreter zu bearbeiten. (…) Ein paar Tage nach der Verleihung des Ballon d’Or gibt es Neuigkeiten von Scheich Salman, es sickert durch, wo er sich aufgehalten hat, während sein Konkurrent Infantino in Zürich Champagner schlürfte. Der Scheich weilte auf Jamaika, er traf sich dort mit Vertretern karibischer Verbände, um sich deren Stimmen zu sichern. So hat es Blatter auch immer gehalten” Pfeil, Gerhard, Wulzinger, Michael, Halleluja, in Der Spiegel 7/13.2.2016).

– Al Khalifa wird noch undemokratischer
Angeblich hat Uefa-Generalsekretär Gianni Infantino für die Wahl am 26.2.2016 die Stimmen fast aller Europäer (53) und die Mehrheit bei den Amerika-Verbänden Concacaf (35) und Conmebol (10). “Salman zeigt schon Nerven. Und neuerdings auch ein bizarres Demokratieverständnis: Er verlangt nun, die Verbände sollen sich auf einen Kandidaten einigen – vor der Kür. Das ist entlarvend. Dazu passt die letzte Patrone, die Infantinos Leute für die Schlussphase aufbewahren: Salman und die Menschenrechte” (Kistner, Thomas, Blatters Nachbar, in SZ 13.2.2016). Derweilen reist Infantino im Uefa-Business-Jet mit dem Kennzeichen ZS-TEJ durch die Fußball-Welt wie weiland Sepp Blatter und will die WM auf 40 Teams aufblähen: Das bringt Stimmen der Fußball-Zwerge! (Ebenda).
Al Khalifa und Infantino: zwei würdige Nachfolger von Blatter! Vermutlich wird Ersterer Präsident und der Zweite Fifa-CEO. Arbeitsteilung nennt man das – oder Macht-Teilung.

– Welcher Fifa-Funktionär traut sich nach Zürich?
„Hektik greift um sich in Zürich, wo seit Wochenbeginn die Delegierten aus der großen weiten Fußballwelt eintrudeln. Am Freitag sollen die Vertreter der 209 Nationalverbände den neuen Präsidenten des Weltverbandes Fifa wählen, weshalb allmählich auch die Frage in den Vordergrund drängt, wie viele davon anwesend sein werden – und wer sich vertreten lässt. Im Mai 2015, als die Fifa ihren letzten Kongress abhielt, schlug die Strafjustiz zu. Diesmal, ist zu hören, werde mancher Funktionär den Flug in die Schweiz erst gar nicht antreten“ (Aumüller, Johannes, Kistner, Thomas, Streit um die Glaskabine, in SZ  24.2.2016)..

– Lobbyarbeit: Fifa-Business as usual
„Auch den früheren Fifa-Funktionär Jérôme Champagne bringen die Bedingungen rund um die Wahl in Rage. Er legte bei der Wahlkommission Beschwerde ein: Infantino und Salman würden bevorzugt. Deren Kontinentalverbände, Europa und Asien, erhielten 20 beziehungsweise sieben zusätzliche Akkreditierungen für den Kongress – der Zweck liegt für Champagne auf der Hand: So können die Kandidaten ihre Lobbyarbeit im Kongresssaal in den entscheidenden Stunden selbst direkt am Wähler fortsetzen. Champagne sieht darin einen Verstoß gegen das Fairness-Prinzip“ (Ebenda).

– Präsidenten-Wahl: Handy-Foto als Beweis?
“Am klarsten positioniert sich bisher Prinz Ali. Am Dienstag teilte der Jordanier mit, er habe sich an den Internationalen Sportgerichtshof (Cas) gewandt, um die Wahl verschieben zu lassen. Ali will, dass die Stimmabgabe in gläsernen Kabinen stattfindet – nur so ließe sich verhindern, dass Delegierte per Handy ihre ausgefüllten Stimmzettel abfotografieren, um hernach beweisen zu können, wen sie gekürt haben. Die Wahlkommission lehnte Alis Antrag in der Vorwoche ab, verbot den Delegierten aber, bei der Stimmabgabe ein Handy mitzuführen. Der Cas kündigte eine Entscheidung bis Donnerstagmorgen an. Ein Votum pro Ali ist unwahrscheinlich” (Ebenda).

Al-Sabah will Al Khalifa

“So wird auch die Rolle von Domenico Scala zu einem der tragenden Flüsterthemen bei den Zürcher Zusammenkünften. Der Schweizer Manager führt seit Längerem die Wahl- sowie die Auditkommission und galt zuletzt als treibende Kraft hinter den Reformen. (…) In Kandidaten- und anderen Kreisen wird auch diskutiert, dass sich Scala vor kurzem in privatem Rahmen mit Scheich Achmad al-Sabah ausgetauscht habe. Der Fifa-Vorstand, dessen Kuwait-Verband derzeit gesperrt ist, ist sehr umstritten. Bei vielen Wahlen in der Sportwelt, zuletzt im Internationalen Olympischen Komitee, war Al-Sabah der Königsmacher; es gilt als offenes Geheimnis, dass er seinen Scheich-Kollegen Salman gern als Fifa-Chef sähe. In dem Kontext fällt nun auf, dass der von Scalas Kommission bei allen Bewerbern durchgeführte sogenannte Integritätscheck bei Salman zu keinen Beanstandungen geführt hatte, obwohl Menschenrechtsorganisationen seit Jahren dessen Rolle bei der Niederschlagung der bahrainischen Protestbewegung 2011 anprangern. Salman weist die Vorwürfe von sich, doch sogar Sportler belasten ihn” (Ebenda).

– Jens Weinreich über den Cheflobbyisten von IOC und Fifa, Al-sabah:
„An erster Stelle wäre der Strippenzieher Scheich Ahmad Al-Fahad Al-Sabah aus Kuwait zu nennen, jener Mann, der schon viele wichtige Wahlen durch seinen Einfluss mitentschieden hat, etwa 2013 die Krönung des Deutschen Thomas Bach zum Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Dazu kommt die Unterstützung von so mächtigen Figuren wie Katars Emir Tamim Bin Hamad Al-Thani und Russlands Präsidenten Wladimir Putin, der über seinen Spezi, Russlands Sportminister Witali Mutko, direkt Einfluss im Fifa-Exekutivkomitee nehmen kann. Putin und der Emir haben dringendes Interesse daran, dass in der Fifa wieder Ruhe einkehrt – und vor allem daran, dass die Weltmeisterschaften 2018 und 2022 trotz aller Kritik wie beschlossen in ihren Ländern stattfinden und nicht neu vergeben werden. (…) Ihm wird die Veruntreuung von Entwicklungshilfefonds (für einen früheren Fifa-Wahlkampf) und die Beteiligung an der Niederschlagung des Arabischen Frühlings 2011 vorgeworfen. Wenn sich Salman dazu mal äußert, spricht er gern von einer Kampagne gegen ihn. Dabei lässt er sich von einem Mann mit beraten, der für Kampagnen in der Branche bekannt und berüchtigt ist: Blatters langjährigem Berater Peter Hargitay und dessen Sohn Stevie. Die Anwälte des Scheichs von der Londoner Kanzlei Schillings drohen Medien auch einmal mit teuren Klagen, wenn auch nur Fragelisten an den Fifa-Kandidaten geschickt werden“ (Weinreich, Jens, Der Scheich und sein Königsmacher, in spiegelonline 25.2.2016).

– Der Wahltag

Fifa-Sonderkongress: erstmals Blatter-frei

„So haftet dem Sonderkongress ein Stück Geschichte an: Es ist der erste Blatter-freie seit 40 Jahren. Der erste ohne den ewigen Patron, der die Fifa seit 1981 als Generalsekretär (sprich: hauptamtlicher Chef) und seit 1998 als Präsident befehligt hatte. Über vier Dekaden hat er den Verband in jene Sumpflandschaft geführt, die nun die ganze Organisation ins Wanken und ins Visier internationaler Strafermittlungen gebracht hat“ (Kistner, Thomas, Absurder Rabatt, in SZ 26.2.2016).

– Al Khalifa von Russland gepushed
„Bisher schien die Grundkalkulation klar zu sein: Salman hat das Gros der Stimmen Asiens (47) und Afrikas (54) hinter sich. Infantino glaubte seine 53 Europäer hinter sich sowie an einen Vorsprung in Ozeanien (11) und den beiden Amerika-Verbänden Concacaf (35) und Südamerikas Conmebol (10). Letzterer hatte sich sogar geschlossen für ihn ausgesprochen. Doch je näher die Wahl rückt, umso wackeliger erscheint diese Wahlstatik. Aus Kreisen von Golf-Funktionären wurde Donnerstagabend transportiert, ein markant großer Teil an Nationalverbänden sei aus dem europäischen Block ausgebrochen – angeblich unter russischer Führung. Dazu passt, dass der russische Verbandschef Witalij Mutko, zugleich Sportminister und ein alter Petersburger Vertrauter von Staatspräsident Wladimir Putin, bis vor Kurzem noch öffentlich einen Deal zwischen Scheich Salman und Infantino befürwortet hatte. Schließlich soll auch der scheidende Fifa-Patron Sepp Blatter im Hintergrund einige Gespräche geführt haben“ (Aumüller, Johannes, Kistner, Thomas, Trend zum Scheich, in SZ 26.2.2016).

– Menschenrechte: Al Khalifa baut vor
„Scheich Salman scheint derweil schon für den Fall vorzusorgen, dass er die Wahl tatsächlich gewinnt. Auszugehen wäre dann davon, dass er bei der ersten Pressekonferenz einen Sturm kritischer Fragen abwehren muss. Seit Wochen steht er wegen seiner Rolle bei der Niederschlagung der Protestbewegung in Bahrain anno 2011 in der Kritik, damals sollen auch Sportler gefoltert worden sein. Salman weist alle Vorwürfe zurück; am Donnerstag tat er Berichte über seine Vergangenheit gegenüber CNN erneut als ‚politisches Werkzeug‘ ab. Andererseits liegen Berichte und Zeugenaussagen vor. In Zürich sind jedenfalls bereits bahrainische Fußballer aufgeschlagen – mutmaßlich, um Salman zu stützen“ (Ebenda).
Vor der Wahl am 26.2.2016 demonstrierten „Jubel-Bahrainer“ für Al Khalifa – und Gegendemonstranten prangerten den Menschenrechts-Verletzer an, siehe unten.

Fifa-„Reform“-Paket gebilligt
179 von 201 Nationalverbänden verabschiedeten die Pseudo-Reform: das Exekutivkomitee wird auf 36 Mitglieder (darunter sechs Frauen) erweitert, der neue Generalsekretär wird noch mächtiger (nach dem derzeit suspendierten Jérôme Valcke kein gutes Zeichen), die hohen Funktionäre dürfen dies nur noch für zwölf Jahre sein, Gehälter werden offengelegt (Fifa verabschiedet Reformpaket, in spiegelonline 26.2.2016). – Valcke wurde am 12.2.2016 von der Fifa-Ethik-Kommission für zwölf Jahre gesperrt, da er TV-Rechte weit unter Wert verkauft und sich am Ticketverkauf für Weltmeisterschaften persönlich bereichert habe (Fifa sperrt Rx-Generalsekretär Valcke für 12 Jahre, in spiegelonline 12.2.2016).

– Sexwale zog Kandidatur zurück (Ahrens, Peter, Teevs, Christian, Blog, Zürich in spiegelonline 26.2.2016)

– Infantino verteilt Geld
„‚Das Geld der Fifa ist Ihr Geld und nicht das Geld des Fifa-Präsidenten‘, rief er in den Saal, in der Fifa gebe es noch 1,2 Milliarden Dollar zu verteilen – prompt erntete er die lauteste Zustimmung des Nachmittags. Das war schon insofern eine bemerkenswerte Botschaft, als Stunden zuvor der interimistische Generalsekretär Markus Kattner etwas recht Erschreckendes rapportiert hatte: Die Fifa steuerte in eine ökonomisch ziemlich angespannte Situation. Für den Zyklus bis 2018 könnten bis zu 550 Millionen Dollar fehlen. Zu den zentralen Kostenfressern zählen auch die Anwälte der Kanzlei Quinn Emanuel, die Kontakt mit der US-Justiz halten und diverse Affären auch selbst aufarbeiten sollen – für zehn Millionen Dollar pro Monat. In jedem Fall könnten sich laut Kattner die Rücklagen von 1,5 Milliarden Dollar rasant reduzieren“ (Aumüller, Johannes, Kistner, Thomas, Der nächste Schweizer, in SZ 27.2.2016; Hervorhebung WZ).

1. Wahlgang – Ergebnis: Prinz Salman 85, Infantino 88, Champagne 7, Prinz Ali 27. (Im 1. Wahlgang war die Zwei-Drittel-Mehrheit nötig. Ab dem 2. Wahlgang reicht die einfache Mehrheit, vgl. Wahlmodus für den außerordentlichen Fifa-Kongress). – „Infantino lag mit 88 Voten knapp vor Salman mit 85… Danach tourten ein paar aufgebrachte Stimmenbeschaffer durch den Saal, vorneweg der Kuwaiter Al-Sabah“ (Aumüller, Johannes, Kistner, Thomas, Der nächste Schweizer, in SZ 27.2.2016).

2. Wahlgang: Gianni Infantino ist Präsident
„Gianni Infantino ist neuer Präsident des Fußball-Weltverbands Fifa. Der 45-Jährige aus der Schweiz setzte sich beim außerordentlichen Fifa-Kongress in Zürich gegen den zuvor als Favoriten gehandelten Scheich Salman bin Ibrahim al Khalifa durch. Infantino erhielt 115 der 207 Stimmen und damit die erforderliche Mehrheit, für Scheich Salman votierten 88 Delegierte. (…) Infantino, der bisherige Generalsekretär des europäischen Dachverbands Uefa, hatte unter anderem die Unterstützung des Deutschen Fußball-Bunds. Infantino hatte als Kandidat den ebenfalls gesperrten Uefa-Präsidenten Michel Platini ersetzt, der eigentlich Blatters Amt übernehmen wollte“ (Gianni Infantino ist neuer Fifa-Präsident, in spiegelonline 26.2.2016).

– Blatters vergiftetes Lob
„Direkt nach der Wahl Gianni Infantinos zum neuen Präsidenten des Weltverbandes meldete sich der Vorgänger jedoch mit warmen Worten: Infantino sei ein ‚würdiger Nachfolger‘. Der neue Chef habe ‚alle Qualitäten, meine Arbeit fortzusetzen und die Fifa wieder zu stabilisieren‘, erklärte der von der Ethikkommission für sechs Jahre suspendierte Blatter. (…) Immer wieder kokettierte Blatter damit, dass sich vier von fünf Präsidentschaftskandidaten vor dem Kongress bei ihm gemeldet hätten. Auch mehrere Verbände fragten nach, wem sie denn ihre Stimme geben sollten. Teile des Wahlprogramms von Uefa-Generalsekretär Infantino und Scheich Salman bin Ibrahim al-Chalifa lesen sich wie aus einem Blatter-Handbuch. Eine Empfehlung für die Kür seines Nachfolgers wollte er öffentlich zwar nicht abgegeben, ließ es sich aber nicht nehmen, den Bahrainer al-Chalifa gegen Vorwürfe von Menschenrechtsorganisationen in Schutz zu nehmen“ (Ein Gespenst namens Blatter, in spiegelonline 26.2.2016; Hervorhebung WZ. Infantino flog im von der Uefa gecharterten Flugzeug rund um die Welt und hat Posten verteilt; Tagesschau 26.2.2016).
Da hat der Einfluss von Al-Sabah für Al Khalifa offensichtlich doch nicht ausgereicht. Bleibt abzuwarten, ob die Wahl zwischen Infantino und Al Khalifa nicht doch eine zwischen Pest und Cholera war.

– Pressestimmen:

Manager Magazin: „Scheich Salman musste seine Niederlage schließlich einräumen. Sein Verbündeter Scheich Ahmad al-Fahad Al-Sabah hatte praktisch den ganzen Tag seinen Platz auf dem Exekutivpodium leer gelassen. (…) Scheich Salman war vom DFB stark kritisiert worden. Es gibt Vorwürfe, dass er bei der Niederschlagung der Demokratiebewegung in seiner Heimat 2011 oppositionelle Fußballer denunziert haben soll. Vor der Halle demonstrierten Menschenrechtsgruppen gegen Folter und Gewalt durch die Herrscher in Bahrain. Am frühen Vormittag hatte eine kleine Gruppe Anhänger sich für den Scheich engagiert“ („Ich will eine neue Ära, in manager-magazin.de 26.2.2016).
spiegelonline
: „In seinem aufwendig gestalteten Bewerbungsprospekt hatte Infantino die Erweiterung der EM von 16 auf 24 Mannschaften, in die er ‚eingehend involviert‘ gewesen sei, als ‚großen Erfolg‘ gepriesen – Monate, bevor das Turnier erstmals in diesem Format ausgetragen wird. (…) Noch wichtiger für Salmans Niederlage könnte aber das Geld gewesen sein, das Infantino den Landesverbänden versprach. Er präsentierte sich als erfolgreicher Manager der steinreichen Uefa, wie die ‚Neue Zürcher Zeitung‘ analysiert: Infantino stehe für ‚die auf ökonomischen Prinzipien beruhenden Uefa-Maximen‘, nämlich: ‚immer größere Turniere, immer mehr Geld aus dem Fernsehmarkt pressen, steigende Prämien für Landesverbände und Fußballklubs‘. (…) Die meisten aber sehen es wie der britische Journalist David Conn im ‚Guardian‘: Infantino, traditionell ein Gegner von Reformen, sei keine Garantie für bessere Zeiten. Im Gegensatz zu Salman ermögliche er aber zumindest eine Mischung aus Hoffnung und Skepsis“ (Zurück in die Zukunft, in spiegelonline 27.2.2016).
Thomas Kistner in der SZ: „Genau besehen gibt der neue Chef nur leider wenig Anlass, von einem echten Neubeginn zu reden. Nicht nur seine Herkunft aus Sepp Blatters Nachbarort im Schweitzer Oberwallis zeigt ein gemeinsames Wurzelwerk an. Infantino darf als ein klassischer Vertreter des alten Systems gelten. (…) Die Aufstockung des WM-Turniers von 32 auf 40 Teilnehmer träfe insbesondere seine Kernklientel ins Mark, Europas Großverbände und die Klubvereinigung ECA, die sich drastisch gegen diese Aufblähung positioniert hat. (…) Zudem muss Infantino vorrechnen, wie er die fünf Millionen Dollar pro Verband aufbringen will, die er für den nächsten Finanzzyklus versprochen hat (Blatter light, in SZ 27.2.2016).
Jens Weinreich in spiegelonline: „Eine demokratische Grundhaltung kann man ihm (Infantino; WZ) Insofern sind alle Äußerungen, die die Wahl zwischen Infantino und dem favorisierten Scheich Salman Bin Ibrahim Al-Khalifa aus Bahrain als Wahl zwischen Pest und Cholera bezeichnen, ziemlicher Unsinn. Infantino ist das kleinere Übel. (…) Es ist ein riesiges Puzzle, das Infantinos Crew besser zusammengesetzt hat als die Leute des Scheichs. Dessen Wahlkämpfer, allen voran der sonst so erfolgreiche Kuwaiti Husain Al-Musallam, der treue Diener des IOC-Scheichs Ahmad Al-Sabah, war der Schock ins Gesicht geschrieben“ (Defensive, Konter, Tor? in spiegelonline 27.2016).
Gary Lineker, englischer Ex-Nationalspieler und TV-Experte: „Ich habe das seltsame Gefühl, dass Gianni Infantino die Maske abnimmt und sich als Sepp Blatter entpuppt“ (Blatter nennt Infantino „würdigen Nachfolger“, in spiegelonline 27.2.2016. Oder hinter Infantinos Maske steht: Michel Platini…).
Aus einem Kommentar von Thomas Kistner in der SZ: „Gewonnen hat der Meistbietende: Gianni Infantino heißt der neue Präsident des Fußball-Weltverbands Fifa. Monatelang hatte der Mann, der wie sein Amtsvorgänger Sepp Blatter aus dem Oberwallis stammt, im Privatjet den Globus umkreist und der Fußballwelt noch mehr Reichtümer versprochen: 1,2 Milliarden Dollar will er verteilen. Das ist ambitioniert angesichts der ökonomischen Talfahrt, auf der sich die Fifa gerade befindet. Und Infantino will das WM-Turnier von 32 auf 40 Teams aufstocken, damit auch Guam und Guinea vom Platz auf der Showbühne träumen dürfen. Der neue Strahlemann lädt alle ein – wie einst Blatter. Infantino entstammt dem alten Verbandssystem. Die Europäische Fußball-Union Uefa, deren Generalsekretär er bis Freitag war, hat sich unter ihm (und dem wie Blatter gesperrten Präsidenten Michel Platini) in eine Art Fifa light verwandelt. Affären wurden unter den Teppich gekehrt, bei Wahlen wurden die dubiosesten Kollegen umgarnt. Infantino hat bei Platini gelernt, und Platini lernte bei Blatter. So einfach funktioniert eine Welt, die nur die Sprache des Geldes kennt“ (Kistner, Thomas, Von Sepp Blatter viel gelernt, in SZ 29.2.2016).
Johannes Aumüller und Thomas Kistner in der SZ: „Salman hatte schon im Wahlkampf permanent Schlagzeilen gemacht, weil er die Debatte um seine Rolle bei der Niederschlagung des Arabischen Frühlings 2011 in Bahrain lieber mit teuren Anwälten bekämpfte statt mit schlüssigen Darlegungen. Unter einem Präsidenten Salman hatte die Fifa zusätzliche Turbulenzen zu befürchten. Hinzu kam: Hinter Salman stand sein Scheich-Kollege aus Kuwait. Ahmed al- Sabah, der erst 2013 seinem Funktionärsfreund Thomas Bach im Internationalen Olympischen Komitee auf den Thron geholfen hatte, ist einer der mächtigsten Strippenzieher im Weltsport. Hätte er nun auch Salman ins Amt gehievt, wäre der Einfluss des IOC auf die schon aus Konkurrenzgründen ungeliebte Fifa stark gewachsen. (…) Und da war noch ein Handicap. Salman hatte sich im Asien-Verband, den er seit 2013 führt, mit seinem Vorgänger Mohamed Bin Hammam aus Katar und Prinz Ali überworfen. Aus Unterstützerkreisen des Scheichs drang gar vor der Wahl in Zürich, die US-Justiz sei informiert, dass ihr eine Fifa unter Salman nicht im Wege stünde im Falle harter Schritte gegen Katar, den WM-Ausrichter 2022. Wahr oder nicht, aus Sicht Katars war der Rivale von der Golf-Insel keine Option“ (Aumüller, Johannes, Kistner, Thomas, Exodus aus dem eigenen Lager, in SZ 1.3.2016.

Nachtrag 1: Uefa kopflos
Der frühere Uefa-Generalsekretär Gianni Infantino ist seit 26.2.2016 neuer Fifa-Präsident. Der für sechs Jahre suspendierte frühere Uefa-Präsident Michel Platini versucht, über den Internationalen Sportgerichtshof Cas sein Amt zurückzubekommen – auch um die Fußball-EM 2016 (10.6. bis 10.7.2016) als Uefa-Präsident zu leiten. Das Cas-Urteil wird für Mai 2016 erwartet, am 3.5.2016 soll in Budapest ein neuer Uefa-Präsident gewählt werden. Interimistisch wurde der Grieche Theodore Theodoridis als Nachfolger Infantinos im Amt des Generalsekretärs von der Uefa bestimmt (Theodoris ersetzt Infantino bis zum Sommer, in spiegelonline 4.3.2016).

Nachtrag 2: Auch Infantino schmeisst mit Geld um sich
„Die Fifa hat nicht nur Blatters letzten Lohn offengelegt, sondern auch die Bezüge der Mitglieder des Exekutivkomitees (festes Jahresgehalt von 300 000 Dollar); ausserdem auch den Jahreslohn von Domenico Scala (200 000 Dollar) oder des Generalsekretärs Jérôme Valcke (2,1 Millionen Franken). Dieser ist seit September suspendiert. (…) Wichtiger als die transparenten Löhne ist für die Fifa, dass sie weiter 550 Millionen Dollar hinter den Zielen für die Geschäftsperiode 2015-2018 liegt. Präsident Infantino sagt dennoch: ‚Mit den jüngst verabschiedeten Reformen glaube ich, dass die Fifa gestärkt aus diesen Ereignissen hervorgehen wird.‘ Er hat angekündigt, das Budget für Fussballförderung von 900 Millionen Dollar um 517 Millionen zu erhöhen. Es ist ein bewährtes Rezept: Sinnkrisen mit Geld zu vertreiben“ (Clalüna, Flurin, Es regnet kein Geld mehr, in nzz.ch 17.3.2016).

Nachtrag 1: Der Blatter fällt nicht weit vom Blatter
Der chinesische Konzern Wanda des chinesischen Milliardärs Wang Jianglin wird Top-Sponsor der Fifa bis zur WM 2030. Wandas Topmanager ist „Philippe Blatter: der Neffe, enge Vertraute und auch langjährige Geschäftspartner des Skandalfunktionärs Sepp Blatter, in dessen Ägide sich der Weltverband in eine Sumpflandschaft verwandelt hat. Wanda hat jüngst für eine Milliarde Euro die Schweizer Sportagentur Infront erworben, der Blatters Neffe bis dahin vorstand. Für Insider zeichnete sich der Geschäftsdreh der Fifa Richtung Fernost schon ab, als Sepp Blatter bei seiner Wiederwahl im Mai 2015 Wanda-Boss Wang in Reihe eins des Kongresssaals platzierte, zur Rechten von Neffe Philippe“ (Kistner, Thomas, Blatter hilft Fifa, in SZ 19.3.2016). Also kein neuer Kurs – auch nicht unter dem neuen Fifa-Präsidenten Gianni Infantino: „Infantino sieht die intensive Verquickung mit Blatters Netzwerk aber so unproblematisch wie ein anderes Fußballengagement von Wanda… Und schließlich will China auch die WM 2026 ausrichten. Dafür werden offenbar schon erste Weichen gestellt“ (Ebenda).

Nachtrag 2: Von Sepp Blatter zu Philippe Blatter: und die Fußball-WM 2026 in China
Zum neuen Fifa-Top-Sponsor Wanda, den Gianni Infantino nicht zufällig aus dem Hut gezaubert hat, schreibt Thomas Kistner in einem Beitrag in der SZ: „Die Fifa gibt sich ja nun gern den Anschein, als sei sie voll auf Reformkurs; fromme Compliance-Regeln hat sie sich verordnet. Was die wert sind, zeigt gleich der erste Sponsorendeal in der Ägide des Präsidenten Gianni Infantino: Wo nirgendwo mehr Blatter draufstehen darf, steckt so viel Blatter drin wie stets. Der chinesische Konzern Wanda wird Fifa-Topsponsor, das heißt: Die Muttergesellschaft eines wichtigen Fifa-Vermarkters wird zugleich Fifa-Geldgeber. Infantino findet, so ein Vertrag-Strickwerk genüge ‚höchsten Standards‘. Compliance nach Fifa-Art. Wenn sich die westliche Welt abkehrt, wendet sich die Fifa eben der östlichen zu. In Partnern wie Wanda oder Putins Energiekonzern Gazprom sieht sie die Zukunft. Solche Partner nerven auch nicht mit Anstandsappellen wie mancher verbliebene westliche Topsponsor: Coca-Cola, Visa, McDonald’s, Adidas. Unübersehbar sind die Zeichen der Zeit; Russland und Katar haben die WM bereits, China will die nächste. Das Turnier 2026 soll her, Staatschef Xi Jinping persönlich äußerte diesen Wunsch – auch an die Adresse des Herrn Wang. Der Milliardär arbeitet nun daran. Dass Wanda über Infront auch Anteile am Ticket- und Hospitality-Partner der Fifa hält, der Match Hospitality AG, rundet das Paket ab“ (Kistner, Thomas, Zurück in die Zukunft, in SZ 21.3.2016).

Nachtrag 3: Platini inszeniert PR-Kampagne
Am 29.4.2016 fand das Einspruchsverfahren von Michel Platini gegen die Sechs-Jahres-Sperre durch die Fifa vor dem Cas in Lausanne statt. Platinis Anwalt Yves Wehrli wollte eine „vollständige Weißwaschung“ Platinis erreichen (Kistner, Thomas, Nur ein Freispruch zählt, in SZ 29.4.2016). Als Zeuge aufgeboten wurde der Spanier Angel Maria Villar Llona, seit 1998 Mitglied des Fifa-Exekutivkomitees – und bestens übelbeleumdet durch diverse Vorgänge in der Fifa. Er „soll nun bezeugen, er habe gehört, wie über den mündlichen Vertrag zwischen Blatter und Platini zur Millionenzahlung geredet worden sei. (…) Blatter und Platini: Das ist die Geschichte einer Zweckfreundschaft, die sich in Hassverkehr t hat. Jetzt aber müssen beide ganz fest zusammenhalten“ (Ebenda). Die Uefa führt Platini weiter als Präsidenten: „Beim Uefa-Kongress am Dienstag, 3. Mai, in Budapest, steht das Thema Präsidentenwahl gar nicht auf der Agenda“ (Ebenda).

Nachtrag 4: Platini aus der Uefa schon draußen?
Die Französin Florence Hardouin wurde beim Kongress der Uefa in Budapest am 3.5.2016 in das Exekutivkomitee der Uefa gewählt – der auf sechs Jahre gesperrte Uefa-Präsident Michel Platini selbst hat in der Uefa die Richtlinie forciert, „dass in ihren Spitzengremien nur ein Vertreter pro Nation sitzen soll“ (Kistner, Thomas, Zwei Stiche gegen Platini, in SZ 4.5.2016). Dazu wurde der Kosovo-Fußballverband in die Uefa aufgenommen – mit 28 Pro und 24 Gegenstimmen. „Platini war stets gegen diese Aufnahme, auch wegen seiner guten Drähte zu Serbiens Verbandschef Tomislav Karadzic. (…) Hingegen hatte Blatters Fifa schon 2012 beschlossen, der Kosovo dürfe Freundschaftsspiele mit allen 208 Mitgliedslndern austragen. Gegen die Einwände des Uefa-Chefs Platini“ (Ebenda). Die Uefa ist derzeit kopflos: Platini ist suspendiert, ihr Generalsekretär Gianni Infantino wurde zum Fifa-Präsidenten gewählt. „Nun soll, bei einem eilig anberaumten Sondertreffen, schon am 18. Mai in Basel die Verbandsspitze neu geordnet werden. Irgendwie. Nach Platinis letztem Urteil, und nach acht Monaten der Agonie“ (Ebenda).

Nachtrag 5: Platini tritt zurück
Am 9.5.2016 gab der Cas bekannt, dass er nach Platinis Sperre durch das Fifa-Exekutivkomitee von acht Jahren im Dezember 2015 und die Minderung durch die-Fifa-Berufungskommission auf sechs Jahre nunmehr auf vier Jahre reduziert. Am 18.5.2016 wird die Uefa die Platini-Nachfolge diskutieren. (Platini tritt zurück, in spiegelonline 9.5.2016; Platini bleibt vier Jahre gesperrt, in spiegelonline 9.5.2016). „Schade, dass es in der Welt des Sportrechts keine weiteren Instanzen gibt. Ursprünglich musste er eine lebenslange Sperre befürchten. Dann entschieden die Ethiker des Fußball-Weltverbandes auf acht Jahre, die Berufungskommission kam auf sechs – und der Internationale Sportgerichtshof (Cas) nun noch auf vier. Und das irritiert durchaus“ (Aumüller, Johannes, Aus dem Spiel, in SZ 10.5.2016).

Nachtrag 6: Chefaufseher Domenico Scala tritt zurück
Auf dem Fifa-Kongress in Mexiko-Stadt ernannte Fifa-Präsident Gianni Infantino (im Alleingang?) überraschend die senegalesische Diplomatin Fatma Samoura zur Fifa-Generalsekretärin (Senegalesin wird Fifa-General, in SZ 14.5.2016). Infantino ließ am 14.5.2016 den Fifa-Kongress auch beschließen, „dass das Council bis zum kommenden Jahr die Mitglieder der Audit- und Compliance-Kommission, der Ethikkommission, der Disziplinarkommission und der neuen Governance-Kommission selbst berufen und entlassen kann. Dieses Recht ist nach den Statuten eigentlich dem Kongress vorbehalten. Pikant ist die Entscheidung deshalb, weil die Kommissionen die Council-Mitglieder kontrollieren sollen, von denen sie nun berufen und entlassen werden können“ (Fifa-Macher wählen ihre Kontrolleure künftig selbst, in spiegelonline 14.5.2016). Chefaufseher Domenico Scala verließ aus Protest den Saal – und trat zurück. „Ich bin über diesen Beschluss konsterniert, da damit eine zentrale Säule der Good Governance der Fifa untergraben und eine wesentliche Errungenschaft der Reformen zunichte gemacht wird“ (Fifa-Chefaufseher Scala tritt zurück, in spiegelonline 14.5.2016).
Aus einem Kommentar von Peter Ahrens in spiegelonline: „Wahrscheinlich ist die Fifa einfach ein hoffnungsloser Fall. Neuanfang, Umbruch, Zeitenwende – all die großen Worte, die rund um den Amtsantritt von Gianni Infantino gefallen sind, sind gleich beim ersten Check als Luftnummern enttarnt worden. Der Beschluss des Kongresses von Mexiko-Stadt, sich die Kontrolleure des Reformprozesses selbst erwählen und auch wieder feuern zu können – das ist beste Politik im Sinne des skandalösen Amtsvorgängers Joseph Blatter. Der Rücktritt des düpierten Chefaufsehers Domenico Scala ist die einzig logische und integre Reaktion darauf gewesen. (…) Infantino, der Medienprofi, weiß genau, welches miserable Image der Weltverband sich in den vergangenen Jahrzehnten erarbeitet hat. Das öffentliche Ansehen der Fifa dürfte ungefähr auf Augenhöhe mit der Mafia angesiedelt sein. Das hat sie João Havelange und Joseph Blatter zu verdanken, den beiden früheren Präsidenten, dazu Typen wie Mohammed Bin Hammam und Jack Warner, den Meistern des Gebens und Nehmens im berüchtigten Exekutivkomitee. Das alles ist (noch) nicht Infantinos Schuld“ (Ahrens, Peter, Dann kann sich die Fifa gleich auflösen, in spiegelonline 14.5.2016).
Aus einem Beitrag von Thomas Kistner in der SZ: „Politisch ist die Personalie Samoura peinlichst korrekt: Wer traut sich, da Kritik anzumelden? In der Praxis sieht es so aus, dass die neue Vorstandschefin keinerlei Erfahrung im Sport oder im Marketing mitbringt, erst recht keine in der Führung eines globalen Milliardenbetriebs. Über Nacht bekam die UN-Mitarbeiterin ein Amt, das sie in Lottogewinner-Dimensionen katapultiert: Zwei bis drei Millionen Franken inklusive Boni kann es einbringen. Es wird aber dauern, bis sich Samoura in die äußerst verfilzte Fußballbranche eingelebt hat. (…) Samoura erwählte Infantino vorbei am Vorstand, der in ein 36-köpfiges Council umgewandelt wurde, vorbei an der Kongress-Agenda, die das Thema nicht führte. Und vorbei am Medienstab, der öffentlich stets auf eine Beschlusslage im späten Sommer verwies. (…) Hinzu kommt ja ein zweiter Coup, mit dem Infantino soeben einen lästigen Aufseher los wurde: Domenico Scala. Der Chef des Compliance-Komitees hat maßgeblich die Reformen vorangetrieben; er saß auch dem Entschädigungskomitee vor, das vor Wochen die Saläre von Präsident und Generalsekretär festlegte. Scalas Gremium verfügte, dass Infantinos Salär unter dem der Generalsekretärin liegt; der Präsident hat ja keine operative Aufgabe mehr. (…) Jedenfalls überrumpelte Infantino die Delegierten nicht nur mit seinem Samoura-Solo. Der Kongress sollte plötzlich, ohne nähere Darlegung, auch abnicken, dass bis Mai 2017 nur das Council die Mitglieder der bisher unabhängigen Komitees für Compliance und der zwei Ethikkammern ernennen darf – und auch absetzen. Die Regelung wurde damit begründet, dass nur so die Vakanzen in den Gremien rasch behoben werden könnten. In der Tat sind gerade wieder einige Personalvorschläge am internen Integritätscheck gescheitert. Aber das Recht zur Abberufung schafft Brisanz. Es dürfte auch die US-Justiz interessieren, die die Reformversuche der Fifa aufmerksam verfolgt“ (Kistner, Thomas, Wie zu Blatters Zeiten, in SZ 17.5.2016).

Nachtrag 6: Fifa-Finanzchef Markus Kattner entlassen
Gegen Kattner lief ein Ermittlungsverfahren der Fifa-Ethikkommission. Er soll Sonderzahlungen von umgerechnet rund 4,5 Millionen Euro nach der Fußball-WM 2010 und 2014 erhalten haben. Am 23.5.2016 wurde er fristlos gekündigt – „wegen Verletzung seiner treuhänderischen Verantwortung“ (Fifa soll gegen Kattner ermitteln in spiegelonline 26.5.2016).

Nachtrag 7: Steckt Infantino hinter Kattners Entlassung?
Zwischen Kattner und Fifa-Präsident Infantino hatte es in letzter Zeit Konflikte gegeben.“Infantino ist offenkundig darauf aus, die Fifa auf seine Linie zu bringen und sich seinen eigenen Führungsstab zusammenzustellen. Beim Kongress in Mexiko vor knapp zwei Wochen präsentierte er – überraschend selbst für die Vorständler des Weltverbandes – die Fußball-unerfahrene UN-Diplomatin Fatma Samoura aus  dem Senegal als neue  Generalsekretärin… die Vermutung, dass Infantino hofft, die  Seiteneinsteigerin besser steuern zu können als etwa Kattner, liegt nahe“ (Aumüller, Johannes, Mehr als nur Millionen-Boni, in SZ 25.5.2016).
Unter dem Titel „Der nächste Autokrat“ beschreibt Thomas Kistner in der SZ die Fifa-Politik Infantinos: „Im Korruptionssumpf steckt sie schon länger, nun versinkt die Fifa im Führungschaos. Die ersten 100 Tage als Präsident sind nicht absolviert, da steht Gianni Infantino bereits im Epizentrum eines Bebens. Und es ist kein Beben, das aus der Ära des gesperrten Sepp Blatter rührt. Es ist selbst verschuldet. (…)   Seiner beiden größten Widersacher hat sich der neue Fifa-Chef schon entledigt, Domenico Scala und Markus Kattner. Erst wurde Compliance-Chef Scala auf eine Art aus dem Amt getrieben, die in scharfem Widerspruch zur neuen Reform- und Transparenz-Linie steht. Die Lesart von einem ‚Komplott‘ der neuen Führung transportieren diverse Quellen im Fifa-Umfeld. (…) Es sollen harte Attacken gegen den Compliance-Chef gewesen sein – dem beim folgenden Fifa-Kongress ein Beschluss präsentiert wurde, der ihn zum Rücktritt nötigte. Infantino ließ, in einer handstreichartigen Abstimmung, das Fifa-Council für ein Jahr ermächtigen, im Alleingang die Mitglieder der zuletzt gefürchteten hauseigenen Kontrollinstanzen zu benennen. Und auch, dies wurde dem Wahlvolk nebenbei untergejubelt: zu entlassen. Das konnte Scala, der maßgeblich am Reformprogramm mitgewirkt hatte, nicht akzeptieren. Er trat zurück. (…)  Jedenfalls hatte Kattner mit Scala manches gemeinsam: Beide haben Infantino schwer zugesetzt – womöglich, indem sie sich zu sehr an die neuen Regeln hielten. Sehr nachdrücklich zum Beispiel, berichten informierte Kreise, sei der neue Fifa-Boss auf seinen Spesenrahmen hingewiesen worden. Vor allem aber soll sein Präsidentensalär, das ein neuerdings zuständiges Vergütungskomitee errechnet hat – rund zwei Millionen Schweizer Franken pro Jahr – Infantinos Zorn erregt haben. (…) Die Ungeniertheit, in welcher der als Reformer angetretene neue Boss seine Interessen durchsetzt, lässt Schlüsse auf das interne Reizklima zu. Da wird gefeuert und gedroht. (…) Öffentliche Spekulationen, wonach Ethik-Chefermittler Cornel Borbély Anzeigen gegen Infantino umgehend diesem selbst vorgetragen und damit womöglich gegen Regeln verstoßen habe, folgten prompt. Und sind problematisch: Zum einen stellen sie die Unabhängigkeit der zuletzt gut funktionierenden Ermittlerschiene in Frage. Zum anderen könnte derlei Vorgehen kein Verstoß, sondern Teil einer Vorermittlung sein“ (Kistner, Thomas, Der nächste Autokrat, in SZ 30.5.2016).

Nachtrag 8: Vom „Erneuerer“ zum Post-Blatter
Elmar Wagner in der NZZ: „Angetreten ist Gianni Infantino als Erneuerer. Doch der Fifa-Präsident ist keine 100 Tage im Amt und produziert eine negative Schlagzeile nach der anderen. (…) Aus den Protokollen (der FAZ; WZ) wird klar, dass  Infantino den Chef der Audit- und Compliance-Kommission, Domenico Scala, loswerden wollte“ (Wagner, Elmar, Infantino hat ein Problem, in nzz.ch 1.6.2016). Infantino hat selbst beim Kongress in Mexiko auf zwei Möglichkeiten hingewiesen, Scala loszuwerden: „Ein Verband beantragt am Kongress die Abwahl des Compliance-Chefs. Oder das Council erhält die Vollmacht, die Mitglieder der Kontrollgremien selbständig zu entlassen. Dieser Ansatz wurde in letzter Minute in die Traktandenliste gehievt und vom Kongress genehmigt – worauf Scala per sofort zurücktrat. (…) Womöglich liegt der Schlüssel dazu aber im Lohnangebot für Infantino. Angeblich hatte Scala als Chef der Vergütungskommission Infantino ein Angebot über zwei Millionen Franken pro Jahr gemacht. Infantino bezeichnete dieses gegenüber dem Council als ‚Beleidigung‘ und höhnte, dass er vielleicht bald den einen oder andern unter ihnen mangels Geld anpumpen müsse“ (Ebenda).
Und Jens Weinreich in spiegelonline: „Infantino hat es binnen drei Monaten geschafft, in der Tradition seines Landsmanns und Vorgängers Joseph Blatter öffentlich jeglichen Kredit zu verspielen und die Fifa-Verwaltung nach seinem Gusto zu gestalten. Seine Kandidatin, Frau Samoura, die sich keinem Ausschreibungsprozedere stellen musste, durfte in Zürich brav die neuen Personalien verkünden. (…) Für die Finanzen und die Administration steigt der bisherige Rechtsdirektor Marco Villiger zum Stellvertreter Samouras auf. Dabei zählt der Schweizer Villiger zur alten Führungscrew des gesperrten ehemaligen Generalsekretärs Jérôme Valcke und des vergangene Woche unter undurchsichtigen Umständen entlassenen Valcke-Stellvertreters und Finanzchefs Markus Kattner. Villiger, Valcke und Kattner waren Lieblinge von Blatter – sie haben in ihren Verantwortungsbereichen allesamt mehr als ein Jahrzehnt das System Fifa abgesichert. Eine juristische Würdigung ihres Wirkens steht noch aus. Es ist keinesfalls unwahrscheinlich, dass es nach Valcke und Kattner auch Villiger in den Strudel des Finanzskandals reißt. (…) Alarmierend sind Aussagen Infantinos vor dem Council, wonach Cornel Borbély, Chef der Ermittlungskammer der Ethikkommission, den Präsidenten über Anzeigen gegen ihn informiert habe. Dabei ging es auch um den von der Familie Infantino geplanten Kauf eines Anwesens in Zürich für 25 Millionen Franken. Borbély habe die Anzeigen in den Papierkorb befördert, behauptete Infantino“ (Weinreich, Jens, Von wegen Aufklärer, in spiegelonline 1.6.2016).

Vergleiche auch:
Al-Sabah
Salman Al Khalifa – Blatters würdiger Nachfolger?
Fußball-WM 2006: Blatters WM-Kabinett 2000 – und was daraus wurde

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